Streifzüge, Heft 77
Dezember
2019

Habe Mut, dich deiner Sehnsucht nach Lust und Liebe zu besinnen!

Kritik, die heutzutage an Politik und Politikern vorgebracht wird, fokussiert im Kern nahezu immer die materiell bestimmten Lebensbedingungen der Menschen sowie ihre ungleichen Möglichkeiten, durch „Leistung“ zu Wohlstand gelangen zu können. So wird häufig beklagt, dass Arbeitnehmer/innen ein „fairer“ Anteil an den erreichten Produktivitätsfortschritten versagt wird, Frauen am Arbeitsmarkt in Bezug auf Entlohnung, Postenvergabe und Aufstiegsmöglichkeiten benachteiligt werden, sowie die Zugangs- und Erfolgschancen deprivierter Bevölkerungsgruppen im Bildungsbereich schlechter und damit ihre Möglichkeiten, gut dotierte Positionen zu erreichen, geringer seien. Bei all diesen und ähnlichen Themen geht es um die Tatsache, dass nicht für alle dieselben Chancen bestehen, ihre Leistungswilligkeit und Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und sich finanziell von anderen abzusetzen. Aber auch bei anderen Kritikfeldern an der gegebenen Politik stehen finanzielle Argumente und solche mangelnder sozialer Gerechtigkeit im Vordergrund. So zum Beispiel bei Fragen der Umweltpolitik oder beim Vorgehen der Politik hinsichtlich der Versuche von Menschen aus Kriegs- und Armutsregionen, in Ländern unterzukommen, wo das System der Verwertung menschlicher Arbeitskraft (noch) leidlich funktioniert: Welche kurz- oder langfristigen Folgen auf den Wohlstand schon länger Ansässiger haben getroffene Entscheidungen, wer ist davon mehr oder weniger betroffen und welche finanziellen Folgen sind überhaupt akzeptabel? Stets geht es um Geld, finanziell definierte Ungleichheit und sogenannte Leistungsgerechtigkeit.

Alles in allem bewegt sich Kritik an den vorhandenen gesellschaftlichen Umständen somit fast durchwegs im Rahmen von Vorstellungen eines gelungenen Lebens, die in den Prämissen genau dieser gesellschaftlichen Bedingungen begründet sind. Als gelungen gilt ein Leben, das durch Erfolg im Kampf aller gegen alle um eine möglichst weit vorne liegende Position in der gesellschaftlichen Rangreihe gekennzeichnet ist. Da der Konkurrenzkampf um materiell bestimmte Lebensumstände als unhinterfragbare Grundkategorie des Daseins – quasi als ein Naturgesetz – begriffen wird, kann sich Kritik letztendlich nur im Anrennen gegen verschiedene Kämpfer/innen benachteiligende Regeln desselben artikulieren. Der die gesellschaftliche Realität bis in den letzten Winkel bestimmende Existenzkampf soll durch Verändern der Rahmenbedingungen zum fairen Wettbewerb stilisiert werden, an dem alle unter gleichen Voraussetzungen teilhaben dürfen. Gefordert wird, dass die Obrigkeit – der Staat, seine Gliederungen und die ihm unterstellten Steuerungsinstanzen – das einander Niederringen der Menschen so regelt, dass zwischen ihnen formelle Chancengleichheit besteht. Ziel ist nicht das Überwinden des Zwangs, um einen attraktiven Platz in der Gesellschaft kämpfen zu müssen, sondern bloß mehr Fairness bei der Organisation dieses Kampfes. Gefordert wird letztendlich nur, dass der Not, das Leben in Konkurrenz zu anderen verdienen und Bedürfnisse nach Lust und Liebe dabei hintanstellen zu müssen, alle im gleichen Maß unterworfen sein sollen.

Herbert Marcuse charakterisierte diese Situation schon 1967 als ein „Ende der Utopie“ (Marcuse 1967). In einem Vortrag meinte er damals, dass, aufgrund des zwischenzeitlich erreichten Stands der Produktivkräfte, die Möglichkeiten einer „menschlichen Gesellschaft und ihrer Umwelt, dass diese neuen Möglichkeiten nicht mehr als Fortsetzung der alten, nicht mehr im selben historischen Kontinuum vorgestellt werden können, dass sie vielmehr einen Bruch mit dem geschichtlichenKontinuum voraussetzen“ (ebd.: 9). Mit dieser Aussage wollte Marcuse darauf hinweisen, dass die durch technologische Innovationen erreichten materiellen und intellektuellen Möglichkeiten ein Überschreiten der Grenzen erforderlich machen, die das herrschende Gesellschaftssystem dem Vermögen auferlegt, uns eine freie Gesellschaft vorzustellen. Wer bloß Vorstellungen von Freiheit und Gerechtigkeit einfordert, die durch systemimmanente Gegenkräfte zwar (noch) verhindert werden, im Rahmen der geltenden Ordnungsprinzipien jedoch durchaus verwirklichbar wären, bewegt sich nicht in utopischen Dimensionen. Auch die Forderung, dass die Verheißungen der aktuell gegebenen Gesellschaftsordnung – des bürgerlich-demokratischen Systems – doch (endlich) eingelöst werden mögen, weist in diesem Sinn nicht über die gegebene Ordnung hinaus. Es handelt sich dabei bloß um einen Versuch, innerhalb des vorhandenen Systems die Interessen jener durchzusetzen, die, obwohl die materiellen und intellektuellen Möglichkeiten für die Aufhebung ihrer Benachteiligung prinzipiell schon vorhanden sind, weiterhin übervorteilt werden. „Utopie ist [hingegen] ein historischer Begriff, er bezieht sich auf Projekte gesellschaftlicher Umgestaltung, die für unmöglich gehalten werden“ (ebd.: 10) und sie beginnt somit erst dort, wo Sehnsüchte nach einem Zusammenleben ernstgenommen und angestrebt werden, die dem herrschenden System geschuldete Vorstellungsgrenzen von Freiheit überschreiten.

Marcuse führt aus, dass die materiellen und intellektuellen Kräfte für die Beseitigung von Armut und Elend und die Abschaffung entfremdeter Arbeit längst gegeben wären. Damit aus diesem Umstand aber eine tatsächlich „befreite Gesellschaft“ erwachsen kann, wäre der Mut der Gesellschaftsmitglieder erforderlich, ihre verdrängte und als naiv und dumm charakterisierte Sehnsucht nach einem Zusammenleben wahr- und ernstzunehmen, die bisher geltende Vorstellungen von Freiheit transzendiert. Davon sind wir weit entfernt, denn – wie er ausführt – „als vitales, notwendiges Bedürfnis, besteht das Bedürfnis nach Freiheit in einem großen Teil der gleichgeschalteten Bevölkerung in den entwickelten Ländern des Kapitalismus nicht oder nicht mehr“ (ebd.: 13). Und er folgert: Wenn eine derartige Sehnsucht nach Abschaffung der (entfremdeten) Arbeit – die ja die Grundlage der gegebenen Hegemonialstrukturen ist – nicht gegeben ist, „wenn im Gegenteil das Bedürfnis nach Fortsetzung der Arbeit besteht, selbst wenn diese gesellschaftlich nicht mehr notwendig ist; wenn das vitale Bedürfnis nach Freude, nach dem Glück mit guten Gewissen nicht besteht, sondern vielmehr das Bedürfnis, dass man alles nur verdienen muss […], wenn diese vitalen Bedürfnisse nicht bestehen oder von den repressiven erstickt werden, was dann zu erwarten ist, ist nur, dass die neuen technischen Möglichkeiten in der Tat zu neuen Möglichkeiten der Repression der Herrschaft werden“ (ebd.: 15).

Lust und Liebe statt Geld und Privatbesitz

Tatsächlich haben Vorstellungen eines Gemeinwesens, in dem das Zusammenleben der Menschen nicht formal, über Leistungsprinzip und Gleichheit vor dem Gesetz, sondern inhaltlich, über die Gemeinschaftlichkeit eines guten Lebens bestimmt ist, derzeit keine Konjunktur. Während gesellschaftskritische Ansätze noch bis ins 20. Jahrhundert ihre Kraft aus Visionen idealer Gemeinschaften geschöpft hatten, die in aller Regel ohne die Ansicht ausgekommen sind, dass individuelle Leistungen über materiell unterschiedliche soziale Positionen von Menschen bestimmen sollen, sind derartige Sozialutopien heute weitgehend von der Bildfläche verschwunden. Im vor fast genau 500 Jahren erschienenen Initialtext für eine Reihe in den darauffolgenden Jahrhunderten entstandener Entwürfe „idealer Gemeinwesen“, dem Buch „Utopia“ von Thomas Morus, kommt ein Wettkampf um materiell definierte gesellschaftliche Positionen überhaupt nicht vor. Ein solcher ist auch nicht erforderlich, da Freiheit und Gleichheit nach Morus durch ökonomische Gleichstellung gesichert werden. Gleichheit der Bewohner/innen seines Inselstaates Utopia meint nicht bloß „Gleichheit vor dem Gesetz und gleiches Recht zur öffentlichen Rede, sondern, radikaler noch, gleichmäßige Verteilung des Besitz, die einen Verzicht auf Privateigentum impliziert“ (Hetzel 2010: 268) – in Utopia gibt es weder Geld und Geldwirtschaft noch Privatbesitz! Morus begründet dieses Grundprinzip seines Gemeinwesens, in dem es um das glückliche Leben aller Bewohner/innen und nicht um das einzelner in Konkurrenz zu anderen geht, folgendermaßen: „[W]o es noch Privateigentum gibt, wo alle an alles das Geld als Maßstab anlegen, wird kaum jemals eine gerechte und glückliche Politik möglich sein, es sei denn, man will dort von Gerechtigkeit sprechen, wo gerade das Beste immer den Schlechtesten zufällt, oder von Glück, wo alles unter ganz wenige verteilt wird und wo es auch diesen nicht in jeder Beziehung gut geht, der Rest aber ein elendes Dasein führt.“ (Morus 2014: 29)

Die von Morus entworfene Vision eines Gemeinwesens steht damit in klarem Gegensatz zu den politischen Vorstellungen eines der bedeutendsten Vordenker der Aufklärung, John Locke, der mehr als ein Jahrhundert später seine Staatstheorie entwickelt hat. Im Gegensatz zu jener von Morus prägt diese allerdings bis heute äußerst nachhaltig unsere Auffassungen von Freiheit und Gleichheit und erscheint uns zwischenzeitlich schlichtweg als die vernünftigste Form das Zusammenleben zu regeln. Locke postuliert in seiner politischen Theorie, dass Menschen die Grundlage ihrer Freiheit und Gleichstellung mit anderen Freien schaffen, indem sie sich mittels Arbeit etwas von dem aneignen, was Gott den Menschen gemeinsam gegeben hat (vgl. Locke 1981: 21). Gesellschaftliche Freiheit und Gleichheit werden für ihn dementsprechend durch die Übereinkunft zwischen den Staatsbürger garantiert, per Arbeitsverausgabung Privateigentum erwerben und anhäufen zu dürfen. Die Ideen Lockes stellen die Grundlage für den, das Bewusstsein hierzulande lebender Menschen prägenden gesellschaftlichen Leistungsmythos dar – Reiche verdienen Achtung, insofern ihr Besitz auf tatsächlich erbrachter Leistung beruht. Dementsprechend wird – wie am Anfang dieses Textes schon angesprochen – der von Morus radikal abgelehnte, an Geld und Geldwirtschaft gekoppelte Besitzindividualismus selbst in kritischen Überlegungen zur herrschenden gesellschaftlichen Situation kaum je in Frage gestellt. Und dass die BewohnerUtopias „erstaunt, ja geradezu empört [waren] über das unsinnige Gebaren der Leute, die jene Reichen, denen sie nichts schuldig und denen sie nicht verpflichtet sind, aus keinem anderen Grunde, als weil sie reich sind, wie Götter anbeten […]“ (ebd.: 51), erscheint den meisten Menschen heute wohl eher irritierend.

Die in Utopia gegeben Unmöglichkeit, sich durch ein Mehr an Individualbesitz von anderen abgrenzen zu können, wird von Morus nicht ethisch-moralisch begründet. Ihm erscheint die Ächtung von Privateigentum schlichtweg unabdingbar um das von ihm entworfene Gemeinwesen zu ermöglichen, dessen oberste Maxime das glückliche Leben für alle ist. Nur weil diese Voraussetzung in Utopia erfüllt ist, hält er diesen Staat „nicht nur für den besten, sondern auch für den einzigen […], der mit vollem Recht die Bezeichnung „Gemeinwesen“ beanspruchen darf. Wenn man nämlich anderswo von Gemeinwohl spricht, hat man überall nur sein persönliches Wohl im Auge; hier, in Utopia, dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, kümmert man sich ernstlich nur um das Interesse der Allgemeinheit.“ Woanders – so führt er aus – können Individuen „trotz noch so großer Blüte des Staates“ durchaus in Not geraten, wenn sie nicht permanent um ihren Vorteil kämpfen. Somit sind sie gezwungen, eher an sich und die Optimierung ihrer persönlichen Situation als an die Gemeinschaft zu denken. In Utopia dagegen, „wo alles allen gehört, ist jeder ohne Zweifel fest davon überzeugt, dass niemand etwas für seinen Privatbedarf vermissen wird, sofern nur dafür gesorgt wird, dass die staatlichen Speicher gefüllt sind. […] Und obgleich niemand etwas besitzt, sind doch alle reich. Könnte es nämlich einen größeren Reichtum geben, als völlig frei von jeder Sorge, heiteren Sinns und ruhigen Herzens […] und unbesorgt um den eigenen Lebensunterhalt“ (Morus 2014: 84) zu leben?

Gemeinschaft statt Gesellschaft

Im Sinne des vorchristlichen Philosophen Epikur realisiert sich das gute Leben und das Glück in Utopia auf Grundlage der Prämissen, Gemeinschaftlichkeit und einer (Lebens-)Lust, die aus einem von (Existenz-)Sorgen befreiten Leben erwächst. Das an Lust orientierte Leben der Bewohner/innen Utopias steht nicht im Konflikt mit Gemeinschaftlichkeit, ganz im Gegenteil – Gemeinschaft und Lust bedingen und ergänzen einander. Morus postuliert, dass nur ein politisches Leben ein gutes Leben sein kann. Im Gegensatz zu heutigen, den Vorgaben Lockes folgenden Ansichten zeigt sich politisches Leben für Morus allerdings nicht primär im Unterworfen-Sein unter für alle gleichermaßen geltende Regeln und Gesetze, sondern in der Maxime absoluter Gemeinschaftlichkeit, die sich viele Jahre später in dem wiederfindet, was Hegel über die Liebe schreibt. Im Sinne von Hegel bedeutet Freiheit nicht, frei von einschränkenden Regeln zu sein, durch die das menschliche Zusammenleben auf rationaler Basis geordnet wird. Und Freiheit erfüllt sich für ihn auch nicht in der Möglichkeit der Durchsetzung egoistischer Wünsche und Interessen, sondern darin, die eigene Subjektivität und die aus ihr erwachsenden Wünsche zwar bejahen, sich aber dennoch den in Freundschaft oder Liebe zugeneigten Anderen hingeben zu können und deren Wünsche den eigenen gleichzusetzen. „In der Freundschaft und Liebe […] ist man nicht einseitig in sich, sondern beschränkt sich gern in Beziehung auf ein Anderes, weiß sich aber in dieser Beschränkung, als sich selbst.“ (Hegel 1840: 42) Indem das Subjekt sich und das ihm innewohnende Bedürfnis nach Beziehung zu anderen Menschen bejaht und zum Ausdruck bringt, erkennt es die Fragilität seines autonomen Status und gewinnt sich genau dadurch auf höherer Ebene neu. Wird Freiheit solcherart als die „Fähigkeit zu lieben“ begriffen, löst sich der scheinbare Widerspruch von Selbst- und Fremdliebe auf – die in der Lust gesuchte Selbstbestätigung und die in der Liebe erforderliche Selbstpreisgabe offenbaren sich als zwei Seiten desselben – als dialektisch verknüpfte Antipoden eines Lebens in Liebe.

In diesem Sinn haben Gesetz und (Gesellschafts-)Vertrag für das Zusammenleben der Utopier/innen auch nur untergeordnete Bedeutung. „In ihren Augen ist die Gemeinschaft der Natur so gut wie ein Bündnis und bindet die Menschen durch gegenseitiges Wohlwollen stärker und fester aneinander als durch Verträge, durch die Gesinnung stärker und fester als durch Worte.“ (Morus 2008: 87) Utopia ist keine Staatsform, in der Menschen auf Grundlage regelkonformen Verhaltens miteinander auskommen (müssen), sondern ein Gemeinwesen, das getragen ist von einer unserem heutigen Bewusstsein weitgehend vernunftwidrig erscheinenden Grundeinstellung der Gemeinschaftsangehörigen gegenüber Mitmenschen und natürlicher Umwelt. Morus beschreibt in Wahrheit gar keine Gesellschaft, in der das soziale Leben durch formale Regeln sichergestellt wird, sondern eine tatsächliche Gemeinschaft, in der qualitativ andere Prämissen gelten, nämlich Lust und Liebe. Damit offenbart sich der wahrhaft utopische Charakter seiner Vision menschlichen Zusammenlebens, der das utopische Moment alternativer Vernunftkonstruktionen deutlich überschreitet – das Ordnungsprinzip seines phantasierten Reiches ist „nichtvon dieser Welt“, es ist im ou-topos, im (noch) Nicht-Ort beheimatet!

Es braucht wohl nicht ausdrücklich betont zu werden – ein derartiges nicht-hierarchisches, versöhntes Zusammenleben von Menschen mit ihrer sozialen und natürlichen Umwelt, wie es Morus entwirft, ist mit der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft heutiger Ausprägung genauso wenig vereinbar, wie es mit den zu seinen Lebzeiten gegebenen Gesellschaftsbedingungen war. Heute ist es nahezu unmöglich, sich dem gesellschaftlichen Postulat einer weitgehend an egoistischen Interessen ausgerichtete Lebensweise zu entziehen. Dennoch stimmt auch die auf diesen Umstand bezogene Textsequenz aus der Dreigroschenoper von Bert Brecht: „wir wären gut – anstatt so roh, doch die Verhältnisse, sie sind nicht so“, nur bedingt. Denn tatsächlich hört die systemische Gewalt nicht beim Zwang auf, sich den herrschenden Verhältnissen zu unterwerfen und ein Leben zu führen, das diesen entspricht.

Die gesellschaftliche Ordnung nötigt Individuen nicht bloß zu einem systemgemäßen Verhalten, sie zwingt ihnen auch eine entsprechende Haltung auf. Um als vernünftiges Gesellschaftsmitglied anerkannt zu werden, gilt es, die herrschende Ordnung „zu integrieren“. Es geht darum, die gesellschaftlichen Prämissen als „natürlich“ anzuerkennen und sich nur innerhalb eines Verhaltensspektrums wohl zu fühlen, das mit diesen korreliert. Gesellschaftsmitglied sein, heißt niemals bloß, dem gesellschaftlichen System unterworfen zu sein, es heißt zugleich auch immer, Träger desselben zu sein. In einer Form, die an das bekannte „Stockholm Syndrom“ erinnert, erwächst den Individuen aus den ihnen aufgezwungenen (Über-)Lebensbedingungen ein „Leitbild der Subjektivierung“, „ein Kraftfeld, ein Sog, ein telos, nach dem die Individuen streben, ein Maßstab, an dem sie ihr Tun und Lassen beurteilen, ein tägliches Exerzitium, mit dem sie an sich arbeiten, und ein Wahrheitsgenerator, in dem sie sich selbst erkennen sollen“ (Bröckling 2010: 282). Und nur wer diese Vorgaben adäquaten Bewusstseins ausreichend ausbildet und als loyaler Teilnehmer des hegemonialen Diskurses agiert, wird als vernünftiges Subjekt anerkannt.

Indem Subjekte durch das Verinnerlichen der Prämissen und Strukturen der herrschenden Ordnung entstehen, ist das allgemeine Bewusstsein bezüglich der Vorstellung, was Subjekte sind, was sie können, in welcher Weise sie sich selbst zu disziplinieren und zu formen haben und wo ihre diesbezüglichen Grenzen liegen, ein Korrelat der gegebenen Machtverhältnisse – ein Wandel der gesellschaftlichen Ordnung bedingt andere Subjekte. Mittels ihrer Bindung an das aktuell vernünftig Geltende sind Subjekte angebunden an die Machtverhältnisse und halten diese dadurch zugleich in der gegebenen Form aufrecht. Aus der Tatsache, dass Subjekte sowohl Wirkung als auch Voraussetzung der gesellschaftlichen Verhältnisse sind, erwächst allerdings auch ihr Freiheitspotential: Ihre Emanzipation von der herrschenden Ordnung beginnt mit dem Zweifel an sich selbst als eine Realisation der herrschenden Vernunft, verbunden mit dem Mut, die Anerkennung als angepasst-vernünftiges Gesellschaftselement zu riskieren.

Der pädagogische Zentralappell: Werde vernünftig!

Bildungstheoretisch begründete pädagogische Bemühungen im sogenannten aufgeklärten Zeitalter werden mit dem Ziel begründet, die Mündigkeit von Menschen fördern zu wollen. Mittels der Vermittlung von Wissen und der Befähigung, dieses sinnvoll verknüpfen zu können, soll es ihnen möglich werden, auf die, sich aus den gesellschaftlichen Gegebenheiten ergebenden Anforderungen vernünftig reagieren zu können. Vernunft, und nicht bloßes, aus Glauben, unreflektierten Emotionen oder Gedankenlosigkeit gespeistes Dafürhalten sollen Haltungen und Verhalten von Menschen bestimmen. Sie sollen Subjekte werden, deren Lebensführung auf autonom gefällten, vernünftigen Entscheidungen beruht. Und sie sollen gegenüber Beeinflussungsversuchen weltanschaulicher, politischer oder sonstiger Verführer/innen, deren Macht auf dem Ausnützen der Unmündigkeit von Menschen beruht, immun werden. Letztendliches Ziel aller, dem Subtext „werde vernünftig“ folgender pädagogischen Interventionen ist es, Menschen zu befähigen, die ihr Leben bestimmenden Umstände hinterfragen, und sich ihnen – falls sie diese als unvernünftig erkennen – selbstbewusst entgegenstellen und Perspektiven einer vernünftigeren Lebensgestaltung entwickeln zu können. Indem den Individuen auf diese Art zu Autonome und Kritikfähigkeit verholfen wird, soll verhindert werden, dass das Zusammenleben durch ungerechtfertigte Machtstrukturen, Hierarchien und Abhängigkeiten geprägt ist.

Sowohl die Idee, Individuen durch das Fördern ihrer Vernunft zu Autonomie zu befähigen, als auch das Ideal des demokratischen, auf der Mitbestimmung aller beruhenden Staatswesens, leiten sich aus dem Gedankengut der Aufklärung ab. Im Gefolge der in ersten Ansätzen in der Renaissance begonnenen Abkehr von derVorstellung eines schicksalhaften Ausgeliefertseins an die Vorsehung etablierte sich in der Aufklärung zunehmend die Vorstellung von einer dem Menschen innewohnenden souveränen Kraft der Selbstverwirklichung. Der Glaube an Gott als Substantialität der Wahrheit wurde genauso wie jede andere überzeitlich und ontologisch begründete Vernunftorientierung entsorgt. Stattdessen wurde das Subjekt als Souverän menschlichen Daseins inthronisiert. Es wurde postuliert, dass das Bewusstsein, ein der Welt autonom und vernünftig gegenüberstehendes Subjekt zu sein, im Menschen „von vornherein“ angelegt ist und durch die herrschenden Machtverhältnisse zwar korrumpiert aber niemals völlig ausgelöscht werden kann. Das per se autonom und mit freiem Willen ausgestattet angenommene Subjekt nahm die Position ein, die in der vormodernen Metaphysik Gott innehatte, (vgl.: Klein 2005: 5). Damit wurde das Subjekt zu einer Instanz stilisiert, die aus sich selbst die Erkenntnis von Richtig und Falsch schöpfen kann. In diesem Sinn gilt es heute als ausgemacht, dass Subjekte irregeleitet und ihrer Souveränität zu einem gewissen Grad entfremdet werden können, es jedoch unmöglich ist, ihnen diese völlig zu rauben. Es ist zwar möglich, sie durch Fehlinformationen zu falschen Urteilen zu verleiten, wird ihnen korrektes Wissen zugänglich gemacht, können sie derartige Fehlurteile auf Basis ihrer Vernunftfähigkeit jedoch wieder korrigieren (vgl.: Ribolits 2015: 179ff).

Bildungsorientierte Pädagogik orientiert sich in all ihrem Bemühen am derart interpretierten Subjekt. Seitdem dieses zum omnipotenten Richter über Richtig und Falsch avanciert ist, heißt Gebildet-Sein, sich seines Status als souveräne Instanz durch fortschreitende Freisetzung der je eigenen Vernunft- und Autonomiepotentiale bewusst zu werden. Aufgabe der Pädagogik ist es demgemäß, den Wunsch nach Selbstbestimmung der sich ihrer selbst noch nicht ausreichend bewussten Subjekte zu wecken, indem sie diese zum Erwerb von Wissen sowie der Befähigung animiert, dieses in vernünftiger Form verknüpfen zu können.

Die Hoffnung, Freiheit durch die Emanzipation von „objektiven Wahrheiten“ und das Setzen auf das autonome Subjekt und dessen Möglichkeit zu erlangen, das rechte Leben durch vernünftiges Abwägen von Wissen erkennen zu können, ist jedoch nicht aufgegangen. „[D]as Versprechen der Aufklärung, durch Ausübung der Vernunft die Freiheit zu gewinnen, [hat] sich in eine Herrschaft ebendieser Vernunft verkehrt […], die immer mehr den Platz der Freiheit usurpiert“. (Foucault 1996: 81) Mit der Inauguration des Subjekts als Statthalter der Vernunft hat sich deren Charakter nachhaltig verändert. Vernunft wurde ihres objektiven Gehalts einschließlich der damit verbundenen Möglichkeit beraubt, auf ihrer Grundlage ein versöhntes Verhältnis der Individuen zur Mitwelt argumentieren und entwickeln zu können. Vor der Stilisierung des Subjekts zum „Bezugspunkt allen Seins“ hatte vernünftig Sein bedeutet, das Leben an Vorgaben einer der subjektiven Bewertung unzugänglichen Instanz auszurichten; die Frage nach dem guten Leben, musste ohne Rücksichtnahme auf subjektive Interessen beantwortet werden. Die danach geforderte und pädagogisch geförderte Vernunft ist dagegen untrennbar an das Subjekt und seine „Selbstinteressen“ gekoppelt; in letzter Konsequenz gilt nun als vernünftig, wer zu erkennen und zu verfolgen imstande ist, was ihm nützt. Konsequenz eines derartigen Vernunftbegriffs ist, dass Vernunft zu einem Instrument der Berechnung individueller, beziehungsweise gruppenspezifischer Vor- und Nachteile regrediert ist. Vernunft hat sich von einer inhaltlich fassbaren Theorie des „guten Lebens“ zu einer Kalkulationsgröße der Absicherung des (Über-)Lebens im Rahmen gesellschaftlicher Umstände gewandelt, deren Grundprinzipien mit Hilfe dieser (instrumentellen) Vernunft nicht hinterfragt werden können. Wenn kein außerhalb des Status quo befindlicher Bezugspunkt zur Beurteilung des Gegebenen vorhanden ist, kann sich Kritik nur in den Grenzen des Status quo bewegen.

Steht für die Frage, was ein „gutes Leben“ sei, nur der Maßstab der instrumentellen Vernunft zur Verfügung, kann die Antwort nur das Erreichen einer vorteilhaften Position im Rahmen gegebener Möglichkeiten der Lebensgestaltung sein. Die Konsequenz daraus ist ein System menschlichen (Zusammen-)Lebens, in dem jeder alle anderen Menschen sowie die Natur – inklusive seiner eigenen – zum Mitteln der Durchsetzung seiner Interessen degradieren muss. Es ist dann eben vernünftig, alles „außerhalb seiner Selbst“ als Ressource für ein als gelungen geltendes Leben zu betrachten. Letztendlich ist instrumentelle Vernunft nur ein Werkzeug der Strategie innerhalb des von ihr in Gang gesetzten und legitimierten allgemeinen Konkurrenzkampfes – ihre Bedeutung ist Cleverness. Aus einer derart verstandenen Vernunft kann keine Gegenkraft zu den gegebenen Machtverhältnissen erwachsen, ganz im Gegenteil, sie ist selbst Ausdruck der Macht, die sich im Konkurrenzdiktat äußert und eine auf den egoistischen Vorteil bedachte Lebensweise erzwingt. Entsprechend absurd ist die Erwartung, dass der pädagogische Appell zum (selbständigen) Gebrauch des je eigenen Verstandes zur Überwindung herrschender Machverhältnisse beitragen könnte. Das Entwickeln (utopischer) Vorstellungen gutenLebens, die die gegebenen Machtverhältnisse überwinden, ist ohne das Ablegen des Korsetts instrumenteller Vernunft schlichtweg nicht möglich. Utopie erfordert eine Bezugsgröße, die sich jenseits des geltenden Vernunfthorizonts befindet und allgemeine Plausibilität beanspruchen kann.

Lust und Liebe als Grundlage guten Lebens?

Die Frage ist nun, ob für das Finden einer derartigen, der empirischen Realität übergeordneten Bezugsgröße der „diesseitsfrohe Epikureismus, der […] als äußerst unkirchlicher Himmel über Utopia [steht]“ (Bloch 1967: 599), eine Hilfe darstellen kann. Kann das weiter vorne skizzierte, hedonistische Lebensprinzip der Utopier mit seiner Lust- und Gemeinschaftsorientierung jene transsubjektivistische Bezugsgröße abgeben, die eine Perspektive jenseits der herrschenden Machtverhältnisse eröffnen kann? Schließlich ist das Streben nach Lust und Nähe, im Sinne eines Verlangens nach Befriedigung körperlicher und psychischer Bedürfnisse, ein durchaus auch anderen – sogenannten „nicht vernunftbegabten“ – Lebewesen innewohnender Impuls und bettet den Menschen damit in den Gesamtzusammenhang der Natur ein. Und tatsächlich hat auch kein gesellschaftliches System es jemals zustande gebracht, Menschen auf bloße, „von Begehren freie Funktionseinheiten“ zu reduzieren. Allen in diese Richtung gehenden Ansätzen zum Trotz, bricht sich Lust und Liebe immer wieder Bahn. Allerdings ist auch nicht zu übersehen, dass die Befriedigungsformen, die aus dem Impuls zur Lust in verschiedenen Zeiten erwachsen sind, in höchstem Maß mit historisch-gesellschaftlichen Bedingungen korrelierten. Insofern ist also durchaus Vorsicht geboten: Menschliches Begehren, Sehnsüchte, Emotionen, ja sogar sinnliche Körpersensation sind stets „Kinder der Zeit“ und ihrer Umstände. Ein ursprüngliches, nicht gesellschaftlich formiertes Wesen des Menschen gibt es nicht. Auch die Form, in der Lust jeweils zur Geltung kommt, folgt keinem unschuldig-natürlichen Programm, sondern leitet sich stets aus den Menschen auferlegten Bedingungen des (Über-)Lebens ab.

In diesem Sinn betonten auch schon die Urheber und frühen Vertreter hedonistischer Lehren, die das gute Leben dort verwirklicht sehen, wo Freude, Lust und Genuss im Zentrum der Lebensgestaltung stehen, dass die von ihnen beworbene Lebensform nicht durch eine rücksichtslose und unreflektierte Befriedigung der Begierden nach (im fortgeschrittenen Kapitalismus durch die „Bedarfsweckungswirtschaft“ animierter) Genüssen verwirklicht werden kann. Schon der erste bekannt gewordene Proponent des hedonistischen Lebensstils, der Philosoph Aristippos von Kyrene, forderte in diesem Sinn genauso wie Epikur, der die Idee rund ein Jahrhundert später weiterentwickelte, einen kritisch-reflexiven Umgang mit der Lust (vgl. Kanitscheider 2011: 22ff). Epikur formuliert dementsprechend: „Die Lust beherrscht nicht, wer sich enthält, sondern wer sie genießt, sich aber nicht mitreißen lässt; wie auch Schiff und Pferd nicht beherrscht, wer sie nicht nutzt, sondern wer sie lenkt wohin er will.“ (Pfaller 2002: 251) Darüber hinaus hat insbesondere Epikur stets darauf hingewiesen, dass Lust erst in Verbindung mit dem Postulat der Freundschaft Grundlage des guten Lebens sein kann. Das von ihm propagierte „Leben in Freundschaft“ weist dabei durchaus in dieselbe Richtung, wie die Maxime der Gemeinschaftlichkeit bei Morus. Aus der Perspektive hedonistischer Philosophie ist der Mensch erst dann zu Lust und Liebe fähig, wenn er die Beiträge seiner Mitwelt zur je eigenen Lebensfreude wahr- und annehmen kann und erkennt, dass echte Lust ohne Zuwendung zu Anderen nicht möglich ist. In Momenten intensiven Lusterlebens wird die Grenze zwischen Selbst und Nicht-Selbst durchlässig, kurzzeitig taucht der Mensch in das frühkindliche, vor dem Ausbilden des Subjektstatus gegebene Bewusstsein der Allidentität ein – er empfindet sich ein paar Augenblicke lang nicht als isolierte soziale Monade. Die existenzielle Erfahrung, dass tatsächliche Befriedigung der je eigenen Bedürfnisse nur durch die Einbettung der eigenen Lustimpulse in das der gesamten Natur innewohnende Luststreben möglich ist, lässt die Erkenntnis der Verbundenheit mit der sozialen und natürlichen Mitwelt erahnen. Wahre Lust ist unteilbar – entweder sie schließt alle(s) ein oder sie ist nicht.

Mit der aktuellen, auf Eigennutz und Konkurrenz beruhenden Gesellschaftsordnung ist ein sich in der Tradition Epikurs befindender Hedonismus somit nicht vereinbar. Weder verträgt er sich mit der psychischen Not von Menschen, als Abhängige der Warengesellschaft der Befriedigung oktroyierter „Bedürfnisse“ hinterher hetzen zu müssen, noch mit der systemisch genährten Illusion, Lust ließe sich auf Kosten der Unlust anderer verwirklichen. Innerhalb der aktuell herrschenden „Rationalität des nur sich selbst rechenschaftspflichtigen Subjekts“ ist wahre Lust nicht erreichbar – was bloß zur Geltung kommt, ist die Ware Lust. Wohin das Streben nach Lust im Rahmen einer zum Instrument des Eigennutzes degradierten Vernunft führen kann, wird auf drastische Weise in den Texten von Marquis de Sade dargestellt. Er malt in seinem Werk mit unerbittlicher Konsequenz aus, was es letztendlich heißt, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“. Nicht ohne Grund charakterisieren Adorno und Horkheimer de Sade und Nietzsche als „unerbittliche Vollender“ (Adorno/Horkheimer 2000: 13) der Aufklärung. Die von de Sade beschriebenen Arrangements zur Maximierung egoistischer Sexualerregung reflektieren mit erschreckender Deutlichkeit die der instrumentellen Vernunft geschuldeten Strukturen der sozialen Ordnung. Für die Libertins in den Texten de Sades ist alles und jede/r bloßes Mittel zum Zweck ihrer bizarren Vergnügungen; Mitmenschen sind für sie nur Objekte der Demütigung. Überdeutlich wird diese Haltung, wenn in „120 Tagen von Sodom“ einer der Protagonisten formuliert, dass für das Empfinden von Lust das „Vergnügen der Vergleichung [auschlaggebend ist], ein Vergnügen, das nur aus dem Anblick des Unglücks erwächst […]. Nur wenn ich einen sehe, der nichts von dem genießt, was ich habe, und leidet, kann ich mir sagen, ich bin also glücklicher als er“ (de Sade 1999: 20). Für Lust, Freude und Glück gibt es in der aufgeklärt-bürgerlichen Gesellschaft kein objektives Maß, sie sind nur als relative Größen begreifbar; Lust – oder was dafür gehalten wird – gewinnt ihre positiven Bedeutung nur aus der Relation zur Unlust anderer!

Pädagogische Förderung der Lust?

Im Lichte der bisherigen Argumentation macht es wenig Sinn, Menschen aufzufordern, Lust zur Bezugsgröße ihrer Lebensgestaltung zu machen. Der pädagogische Überzeugungsversuch, doch bitte einzusehen, dass eine Orientierung an Lust es ermöglichen kann, eine Ordnung jenseits der Überbietungsdynamik der gegebenen Gesellschaft zu erkennen, würde letztendlich doch wieder nur ein Appell an das Subjekt sein, zur Vernunft zu kommen. Vernünftig „auf dem Weg gebrachte“ Lust ist aber in den Strukturen der Macht gefangen und kann bestenfalls ein Surrogat jener Lust abgeben, die das Fenster zum Schauen der Allidentität öffnet. Es ist nicht möglich, jemanden durch vernünftige Argumente davon zu überzeugen, dass ein spezielles Musikstück ihn in eine ausgezeichnete Stimmung versetzen, ein bestimmtes Bild bei ihm außerordentliche Gefühle auslösen, eine bestimmte Meditationstechnik seine Erleuchtung bewirken, oder ihm eine raffinierte Sexualpraktik zu außergewöhnlicher Erregung verhelfen wird. Genauso wenig bringt es, jemanden mit Hilfe vernünftiger Argumente ein lustvolles Leben nahebringen zu wollen. Lust hat etwas mit dem Mut zu tun, seinen Subjektstatus aufs Spiel zu setzen und sich „hinzugeben“. Sich dem lustvollen Leben anzunähern, ist nichts was theoretisch vorweggenommen oder durch pädagogisch-didaktische Maßnahmenherbeigeführt werden kann, sondern ist nur durch Schritte des Vertrauens möglich. Zur Lust kann nicht pädagogisch geführt, sondern nur liebevoll verführt werden. Und der Verführung zur Lust kann nur nachgeben, wer sich auf „Erschütterungen seiner […] Selbst und Seinsgewissheit“ (Lüders 2007:142) einzulassen bereit ist und es wagt, die seine Anerkennung als souveränes Subjekt sicherstellende (instrumentelle) Vernunft vorübergehend loszulassen. Dafür ist es notwendig, die „kindliche“ Sehnsucht nach einem „Leben in Verbundenheit“ wiederzuentdecken, die wir – als Preis der Subjektivierung – gelernt haben, aus dem Horizont unserer Wünsche zu verdrängen.

Würde Pädagogik Heranwachsende und Erwachsene tatsächlich dabei unterstützen wollen, ihre Sehnsucht nach einem Leben, das „an Lust und Liebe“ orientiert ist, zu ent-decken und ernst zu nehmen, müsste sie sich im Sinne Horkheimers bemühen, „jenen verschütteten Dimensionen der Vernunft wieder ihr Recht zu verschaffen, die über deren instrumentelle Beschränkung hinausweisen [… und] den Intellekt aus der Abhängigkeit vom Vernunftformalismus zu befreien“. (Garbrecht 1999: 37) Um eine derartige, nicht utilitaristisch verstandene Vernunftorientierung zu fördern, müsste Pädagogik sich als Anwalt jener Aspekte des Menschen begreifen, die sie im Zuge ihrer Anpassung an die gesellschaftliche Normalität in den Bereich der Unvernunft verdrängen mussten. Das heißt, Pädagogik müsste sich in letzter Konsequenz der ihr zugeschriebenen Funktion der Integration von Menschen in die gesellschaftliche Ordnung verweigern. Von der Pädagogik wird ja erwartet, dass sie Menschen durch mehr oder weniger offensive Formen der Beeinflussung dazu bringt, zu vernünftig geltenden Teilnehmer/innen des gesellschaftlichen Diskurses zu werden. Zwar wird die Frage, welche pädagogischen Interventionen adäquat und effektiv sind, durchaus unterschiedlich beantwortet und je nach gesellschaftspolitischer Ausrichtung werden auch die (systemimmanenten) Ziele, die durch pädagogische Interventionen erreicht werden sollen, anders definiert. Letztendlich wird pädagogisches Handeln allerdings von allen Seiten als Einwirken auf Subjekte mit dem Ziel des Verinnerlichens der herrschenden Vernunft begriffen. Das gilt durchaus auch für die aktuell rasch an Bedeutung gewinnende pädagogische Doktrin, nach der Individuen sich in Form sogenannten „selbstbestimmten Lernens“ gewissermaßen die Scheuklappen der instrumentellen Vernunft selbst anlegen sollen. Die Instrumentalisierung von Menschen zu einem Mittel für fremde Zwecke wandelt sich dabei bloß von einer Fremd- in eine Selbstinstrumentalisierung – Menschen sollen sich ihrer Formierungnicht mehr nur unterwerfen, sie sollen diese selbst „proaktiv“ vorantreiben.

Auch wenn sich, parallel zu Veränderungen der inneren Strukturen des bürgerlich-kapitalistischen Systems, die Methoden und Begründungen pädagogischen Handelns somit immer wieder wandeln – aktuell, aufgrund der durch Globalisierung und Digitaltechnologie modifizierten Erfordernissen der Verwertung von Arbeitskräften –, bleibt die Grundfunktion der Pädagogik, die in der Anpassung der Menschen an die Anforderungen des Systems besteht, aufrecht. Das bedeutet allerdings, dass Lust nicht bloß eine „ignorierte“, sondern eine – aus durchaus eigennützigem Grund – „abgelehnte“ Dimension der Pädagogik ist und letztendlich auch sein muss!

Literatur:

  • Adorno, Theodor W./ Horkheimer, Max (2000): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Fischer.
  • Bloch, Ernst (1968): Das Prinzip Hoffnung in 5 Teilen, Kap. 33-42, 5. Aufl., Suhrkamp.
  • Bröckling, Ulrich (2010): Jenseits des kapitalistischen Realismus: Anders anders sein, in: Neckel, Sighard (Hg.): Kapitalistischer Realismus: Von der Kunstaktion zur
  • Gesellschaftskritik, Campus.
  • de Sade, Donatien Aiphonse François de (1999): Die hundertzwanzig Tage von Sodom oder Die Schule der Ausschweifungen, übers. von Karl v. Haverland, Orbis.
  • Foucault, Michel (1996): Der Mensch ist ein Erfahrungstier. Gespräch mit Ducio Trombadori, Suhrkamp Verlag.
  • Garbrecht, Oliver (1999): Rationalitätskritik der Moderne – Adorno und Heidegger. Herbert Utz Verlag.
  • Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1840): Werke, 8. Band, Verlag von Duncker und Humblot.
  • Hetzel, Andreas (2010): Das „Nicht“ im „Nicht-Ort“, Zum Verhältnis von Glück und radikalerDemokratie in Morus’ Utopia, in: Arnswald, Ulrich/ Schütt, Hans-Peter (Hg.): Thomas Morus’ Utopia und das Genre der Utopie in der Politischen Philosophie, KIT Scientific Publishing.
  • Horkheimer, Max (1951): Zum Begriff der Vernunft. Frankfurter Universitätsreden Heft 7, Vittorio Klostermann.
  • Kanitscheider, Bernulf (2011): Das hedonistische Manifest, S. Hirzel Verlag.
  • Klein, Peter (2005): Die Schizophrenie des modernen Individuums, in: Krisis.
  • Locke, John (1981): Über die Regierung (The Second Treatise of Government 1689)., Reclam.
  • Lüders, Jenny (2007): Ambivalente Selbstpraktiken. Eine Foucault’sche Perspektive auf Bildungsprozesse in Weblogs, in: TranscriptMarcuse, Herbert (1967): Das Ende der Utopie, Verlag Peter von Maikowski.
  • Morus, Thomas (2008): Utopia. The Project Gutenberg. EBook of Utopia.
  • Pfaller, Robert (2002): Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur, Suhrkamp.
  • Ribolits, Erich (2015): Warum Bildung bei der Überwindung der Machtverhältnisse nicht hilft, zu deren Erhalt aber ganz wesentlich beiträgt, in: Christof, Eveline/ Ribolits, Erich: Bildung und Macht. Eine kritische Bestandsaufnahme, Löcker.
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