Heft 3/1999
September
1999

Hugo Pratt und seine Legenden-Comics

Das Comic ist ein wichtiges Ausdrucksmittel unserer Zeit, das im deutschsprachigen Raum bisher weitgehend ignoriert wurde. Wie ungerechtfertigt das ist, zeigt sich unter anderem am Beispiel des Kosmopoliten Hugo Pratt.

Als Mittler zwischen Neugier und Alltag, als verschlüsseltes, persönliches Geheimnis, als Code zwischen Menschen, um in bestmöglicher Zusammenfassung zu kommunizieren, als Zeichen am Wegesrand für die, die etwas suchen, als Schlüssel für Märchen, als Schmuck, als Dekoration, als Botschaft, als Identifikationsobjekt entstanden die Symbole. Die meisten von ihnen sind für den heutigen Betrachter jedoch unbedeutend, von der Bildfläche seines Verständnisses verschwunden. Gerade deswegen versuchen nicht wenige Künstler, ob durch Wort, Ton oder Bild, die vergessenen hermetischen Alphabete am Leben zu erhalten, entweder um sich selbst zu inspirieren oder um den Betrachtern etwas zurückzugeben, was diese wiederum inspirieren, für neue Einsichten öffnen könnte.

Der Zeichner und Erzähler Hugo Pratt gehört sicherlich zu jenen Künstlern, die mit ihrer Arbeit so etwas versucht haben. Seine Comics, seine Zeichengeschichten wollen nicht nur unterhalten oder in eine oft unerträglich grausame Menschheit entführen (was sie zwar tun, sind das doch wichtige Erzählleitfäden des modernen Comics), sie wollen auch auseinandersetzen mit Welten, die uns nahe oder fern liegen, existieren und oft unverstanden bleiben.

Diese Auseinandersetzung könnte ohne der Hilfe der Symbole, die in der Comic-Welt des Hugo Pratt die wichtigsten Wegweiser darstellen, gar nicht stattfinden. Nehmen wir Pratts Hauptwerk: die Abenteuer des Corto Maltese, bestehend aus rund einem Dutzend Bänden. Sie erzählen von einem Matrosen, der etwas ziellos, oft auf der Suche nach einer Schatzinsel, in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts herumirrt, dabei die Schrecken des Kolonialismus, der Weltkriege und Bürgerkriege, aber auch die faszinierenden Welten dieser Welt, die er scheinbar alle kennt, der Leser oft aber nicht, streift.

Die zentralen Protagonisten, angefangen mit Corto Maltese, wirken in ihren dandyhaften, eigenartigen Kostümen oft wie Karikaturen, sind auf eine leicht traurige Art und Weise witzig, fast schon lächerlich, vielleicht um Mensch zu bleiben, in einem unruhigen, gewalttätigen Umfeld.

Wie bei den Tuareg, sind es oft die Frauen, die die Trägerinnen der Geheimnisse sind, die Corto Maltese und dem Leser die „anderen“ Sprachen beibringen. Für Corto Maltese scheinen die Symbole oft nur Indizien für seine Schatzsuche zu sein, für den Leser sind sie hingegen Türen zu anderen Verständniswelten. Es sind kulturhistorische Schritte eines Reiseabenteuers, die in das Innere Äthiopiens, Polynesiens, der Antillen, der Schweiz oder der Hinterhöfe Venedigs führen.

Nur ein Beispiel aus den Abenteuern des Corto Maltese: Die venezianische Legende (veröffentlicht 1977). [1] Der Leser trifft hier auf zwei Strömungen, die 1921 versuchten, Italien zu modernisieren, einerseits die Freimaurer und andererseits die Faschisten. Die ersten versuchen ihre humanistischen Ideale zu verwirklichen, und erwarten gleichzeitig irgendwie schon ihren Untergang in ihrer esoterischen, immer starrer werdenden Welt. Die zweiten bereiten mit der Sicherheit jener, die dank der Brutalität zu gewinnen scheinen, den Umsturz vor. Corto Maltese, der eigentlich einen Edelstein, von dem nur in Märchen die Rede ist, sucht, gerät jedoch nicht nur in die politischen Wirren des präfaschistischen Italien, sondern dringt viel tiefer in ein Venedig ein, welches so wohl nur die wenigsten kennen dürften. Es werden etliche Türen der Kindheitsstadt Pratts geöffnet; es ist das Venedig der Statuen, der Katzen, der Fenster, der Schatten und das Venedig der Legenden, ob gnostischen, arabischen oder jüdischen, es ist das Venedig eines Abenteuers. Und genauso wie Hugo Pratt die Vermittlung seines Venedig verstanden hat, präsentierte er in den anderen Bänden die Persönlichkeiten von Orten, oft unbekannten, mit ebensoviel unauffälliger Hingabe.

Daß Hugo Pratt so viel Lust am Vermitteln hat, ist wahrscheinlich damit zu erklären, daß er durch die Märchen seiner französischen, englischen, sephardischen und türkischen Tanten die Schönheit der Vielseitigkeit entdeckt und andererseits als ein vom Faschismus rekrutiertes Kind, dessen Grauen, Abgeschottetheit und Gewalttätigkeit erlebt hat. Er wuchs in Äthiopien auf, lernte abessinisch, desertierte 1943 aus der italienischen Polizei und erlebte die Befreiung als englischer Soldat. Nach dem Krieg wandert er nach Argentinien aus, wo er sich endgültig zum professionellen Cartoonisten entwickelt. Er wird in der Folge bis zu seinem Tod 1995 rund 9.000 druckreife Seiten zeichnen, überall, wo er kann, leben und zuhause sein, 30.000 Bücher sammeln und, wie manche behaupten, auch lesen, sich mit Voodoo genauso auskennen, wie mit der Kabbala, sieben Sprachen lernen usw… kurzum ein praktischer Kosmopolit sein wie seine Figur, der Matrose Corto Maltese, die ihn spätestens seit den 70er Jahren weltberühmt gemacht hat.

Abenteuer und Kulturgeschichte, somit auch die Erzählform wechseln sich in Pratts Comics so häufig ab, daß sich oft die ungewöhnlichsten Kontraste bilden. Gerade bei Corto Maltese wird eine Atmosphäre geschaffen, die denen in Legenden und Märchen gleicht, ohne jedoch die brutale Wirklichkeit der ersten Hälfte des XX. Jahrhunderts zu verharmlosen. Hugo Pratt gelingt somit auf jeden Fall eines: den Leser in Welten zu entführen, die man nicht mehr oder noch nicht kennt.

[1Venezianische Legende. Carlsen, 1997

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