MOZ, Nummer 55
September
1990
Psychiatrie:

Ich bin hier, heute nicht aus Zufall ...

Ein Bericht

Im August 1980 starb Franco Basaglia, „Begründer“ der antiinstitutionellen Psychiatrie in Italien. Heute, rund zehn Jahre später, bewahren seine Nachfolger/innen das Erreichte.

Seit rund 36 Jahren arbeite er schon hier, vieles habe er gesehen, sicher, aber „non posso parlare di questa cosa“, über diese Sache könne er als Portier eigentlich nicht sprechen.

Der neapolitanische Autoverkäufer mit leichtem Teddybäreinschlag freut sich sichtlich über die Abwechslung. Nur leider, kein Kommentar zu diesem Ereignis. Für die Beantwortung der Frage habe man auf den Direktor zu warten, der sicher mehr und offiziell zu erzählen wisse.

Verändert hat sich nicht viel in den vergangenen zwölf Jahren.

Das „casa del marinaio“ in der Via Monfort gleich hinter der Universität, gehört der Seefahrervereinigung und bietet in Triest hängengebliebenen Matrosen für ein paar Tage Unterschlupf. Die Auslastung ist äußerst gering, eigentlich wohnen nur der Direktor samt Portier in dem zweistöckigen, guterhaltenen Gebäude. Die Vereinigung wird vom Staat erhalten, „un’ ente inutile“ nennt man sie hier, eine von unzähligen Behörden in Italien, die niemandem so recht nützen und nur die Funktion erfüllen, die Klientel der Democrazia Cristiana zu versorgen und einen Großteil des Sozialbudgets zu absorbieren.

Zwölf Jahre ist es her, seit das graue Haus in einem gutbürgerlichen Triester Stadtteil für kurze Zeit erwacht war, eine kurze Geschichte, die der Portier heute nicht erzählen möchte. Im Februar 1978 besetzen Ärzte, Pfleger/innen und ehemalige Patient/inn/en der Psychiatrie das „casa del marinaio“. In den Straßen der Hafenstadt laufen mehrere Fotoausstellungen, Informationsveranstaltungen werden abgehalten, die Bevölkerung wird aufgeklärt. Innerhalb weniger Tage weiß jede/r um die rund 4.600 leerstehenden Wohnungen in der Stadt, die wüsten Spekulationen, den zunehmenden Verfall der wunderschönen Altstadt, den tausenden Baracken und um die „Krankheit“ von etwa 260 Patient/inn/en, die keine Wohnmöglichkeit haben.

„Wir konnten“, sagt Carmen Roll, Mitarbeiterin der Triester Equipe, „nur mehr schwer weiterarbeiten, weil wir nicht wußten, wo wir die Menschen hätten unterbringen sollen. Auch der Trick, daß Ärzte Wohnungen anmieteten und wir dann Leute dort unterbrachten, funktionierte nicht mehr. Das sprach sich herum, kein Hauseigentümer vermietete mehr an unsere Leute.“

Nach zehn Tagen ist die Aktion vorüber. Carabinieri räumen das Seefahrerheim — gewaltlos, die Situation aber verbessert sich. Auf Grund zahlreicher Solidaritätserklärungen aus der Bevölkerung — bis hin zu einigen Gewerkschaften —, reagiert der soziale Wohnungsbau, „wir haben dann wirklich etliche Wohnungen gekriegt.“ Die Auflösung des Irrenhauses und die Reintegration der ehemaligen Gefangenen in die Gesellschaft geht weiter.

Mit der Räumung aber kommt es zu Verstimmungen in der Equipe. Vor allem Franco Basaglia — „unser aller Papa, den wir immer nur alle drei Wochen kurz gesehen haben“ (Roll) —, in intensiven Verhandlung mit nationaler Regierung und der WHO, kann der illegalen Aktion nicht allzuviel abgewinnen. Er will das Erreichte, kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes 180 — das die Auflösung der psychiatrischen Krankenhäuser legalisiert — nicht gefährden.

Bild: Rinaldo

Die negierte Institution

Papa hatte lange dafür gearbeitet. Bereits im Jahre 1957 rebellieren drei junge Psychiater und Psychoanalytiker gegen eine Psychiatrie, die Verrückthei einzig als organisch bedingt klassifiziert. Franco Basaglia, Sergio Piro und Corrau möchten, um neues Denken in die Psychiatrie zu bringen, eine „Gesellschaft für Psychopathologie“ gründen. Aus der Gesellschaft wird nichts, im Jahre 1961 jedoch übernimmt Basaglia als Direktor das Irrenhaus von Görz, ein „Lager“, wie er es nennt, „eine Aufbewahrungsstätte für mehr als 1.000 Menschen.“

Die neue Equipe startet den Versuch, die „Institution zu zerstören und die Gefangenen in die Gesellschaft zurückzuführen“, ihnen Arbeit, Pensionen, Wohnungen und ihre persönlichen Rechte zu verschaffen. Denn die Verelendung, meinen sie, sei der Hintergrund ihrer „Krankheit“ und mithin die Ursache ihrer Entfernung aus der Gemeinschaft. Die Einschließung legitimiere wiederum die Ausschließung.

Erstmals wird also die psychiatrische Anstalt offen als „Instrument der Gewalt“ und des Ausschlusses gesellschaftlich unerwünschten Verhaltens bezeichnet. Beeinflußt von der Phänomenologie und dem Existentialismus, von Binswanger und Minkowski, verweigern die neuen Psychiater ihre Zustimmung zu einer Wissenschaft, die sich ausschließlich am Objekt-Sein des Kranken orientiert, und fordern die Einbeziehung der gesellschaftlichen Realität in die psychiatrische Arbeit.

Die Görzer Politverantwortlichen sehen die Sache bald grundsätzlich anders. Solange die Neuen innerhalb ihrer psychiatrischen Mauern bleiben, innerhalb festgelegter Grenzen also, lassen sie Basaglia & Co. werken. Mit der beabsichtigten Errichtung von sogenannten Zentren inmitten der Stadt aber und der endgültigen Schließung der Institution, verläßt die Stadtregierung der Wille zur Reform. Doch ohne die Gründung der „centri“ und der gemeindenahen Dienste zur Versorgung der Bevölkerung und Reintegration der ehemaligen Insassen stockt die Auflösung des Irrenhauses. Jahrelang verweigert die Regierung die Herausgabe der notwendigen finanziellen Mittel, solange, bis die gesamte Görzer Equipe, ziemlich genervt und in ihrer Arbeit extrem behindert, rund zehn Jahre nach ihrer Einstellung den Dienst quittiert.

Genau zu einer Zeit — am Beginn der siebziger Jahre — als Italiens Neue Linke nicht bloß den Muff unter den Talaren entfernte. Die Kriegs- und Nachkriegsgeneration zeigte sich erzürnt ob der Umtriebigkeit ihrer Enkel und Kinder, die da ganz was anderes wollten als ihnen zugedacht gewesen war. Gemeinsam, und damit außerordentlich erfolgreich, errichteten Student/inn/en und Arbeiter/innen Barrikaden gegen den katholischen Zwang zur Züchtigkeit und gegen die Reduktion der Menschen — im Namen des Wiederaufbaus — auf ihre ökonomische Verwertbarkeit. Mochte auch die endgültige Revolution nicht so recht gelingen, erzwang die Bewegung doch einen Grad an gerechter Verteilung gesellschaftlichen Reichtums, der nie wieder erreicht werden sollte. Viele probten die „Ganztagsmilitanz“, die „militanza a tempo pieno“, es reichte ihnen nicht, in den Straßen und Betrieben zu kämpfen, sie arbeiteten an der Aufhebung der Trennung von Politischem und Privatem.

Mit den Erfolgen — die Bewegung ließ sich von keiner etablierten linken Partei oder Gewerkschaft vereinnahmen und kontrollieren — wuchs die Überzeugung, alle Kräfte links von der PCI sammeln zu können. So erreichte die „Revolutionäre Linke“ — durch Volksbefragungen — die Verabschiedung einiger emanzipatorischer Gesetze — unter anderem im Bereich des Eherechts, der Abtreibung und des Zivildienstes. Die „Psichiatria Democratica“ begann die Vorbereitungen für einen Volksentscheid gegen die etablierte Psychiatrie und drängte damit die Regierung zum Handeln. Schließlich wurde die Vorstellung einer nationalen linken Regierung für Italien immer realistischer.

Und mitten drin im Aufruhr, am ersten August 1971, wird Franco Basaglia — als Reaktion auf einen Bericht der Provinzverwaltung über verheerende Mißstände in den psychiatrischen Anstalten — zum Direktor von „San Giovanni“, dem Triester Irrenhaus, ernannt. Eine Mitte-Links-Koalition (DC/PSI) schafft den nötigen politischen Spielraum für die neue Equipe, um die psychiatrische Institution zu kippen. Gleichzeitig erspart sich die Regierung den Bau eines zusätzlichen Krankenhauses, gilt doch Basaglia als Garant für eine rasche Reduktion der Zahl der Verrückten.

Geographie ist gleich Karriere

Das Gelände von „San Giovanni“ liegt auf einem der wunderschönen grünen Hügel Triests. Im Jahre 1908 erbaut, werden 1971 in 21 Gebäuden mehr als 1.000 Patient/inn/en verwahrt. Am Eingang von einer Hauptstraße begrenzt, endet die Anlage im steil abfallenden Karstabbruch. Die Geographie des Gebiets entspricht der Karriere der Internierten. Unten, am Eingang bei der Aufnahme beginnend, endet sie, wenn nicht vor der Zeit vom Tod unterbrochen, oben am Hügel in einer der Endlagerstätten.

Heute sind die Türen vieler aufgelassener Stationen vermauert. In einem der Häuser arbeiten die Mitarbeiter/innen der vier Kooperativen-Organisationsbüros in Räumen, deren innere Fensterflügel nicht geschlossen werden dürfen; an keinem der Läden gibt’s Griffe zum Öffnen — Zeichen, die ans Zuvor erinnern. Ansonsten breitet sich die Stadt aus in „San Giovanni“: Eine slowenische Schule, ein Kindergarten, Gemüseläden, die Werkstätten der Kooperativen, das Cafe und die Universität.

Vor 19 Jahren, zum Dienstantritt Franco Basaglias, war außer Instrumenten zur Kontrolle und Verwahrung nichts zu finden in „San Giovanni“. Unterstützt von zahlreichen „Psychotouristen“ (Basaglia), die aus Italien und vielen europäischen Staaten zur Mitarbeit anreisten, beginnt die Equipe nun mit der „Befreiung“ der Insassen, das heißt, ihnen ihre Geschichte und damit ihre Identität wiederzugeben. Und ihre ökonomische Selbständigkeit, nach dem Basaglia-Motto, wonach ein Irrer, setzte man ihn mit fünf Bediensteten in ein Zimmer des Intercont, die Ursachen seiner Verrücktheit schnell verliere. Der Kampf um Sozialhilfe für die Ex-Patient/inn/en prägt mithin die Arbeit der Equipe in den ersten Jahren der Befreiung.

Nach und nach werden die einzelnen Abteilungen geschlossen, diejenigen, die keine Arbeit und Wohnung finden können oder wollen, leben als „ospiti“, als „Gäste“ in Wohngemeinschaften innerhalb des Geländes. Gleichzeitig entstehen — nach zahlreichen Auseinandersetzungen mit der regionalen Verwaltung — die „centre di salute mentale“, die sieben Außenzentren, mitten in der Stadt, um in der Nähe der Menschen zu arbeiten, dort, wo psychisches Leid als Hauptursache für Irresein — entsteht: in den Betrieben, den Familien, den Schulen und Gefängnissen. Die Mitarbeiter/innen der Zentren versorgen die Bevölkerung, machen Hausbesuche, halten Sprechstunden ab und helfen den ehemaligen Insassen des psychiatrischen Krankenhauses bei der Reintegration. Die Zentren gelten als unbedingte Voraussetzung für die Zerschlagung des Irrenhauses.

Kein Wohnraum — Spekulationswüste Triester Altstadt

Marco Cavallo

Marco ist der einzige, der die Klinik regelmäßig verlassen darf. Als seine Produktivität nachläßt, soll er, wie es mit ausgedienten Pferden nun mal so ist, geschlachtet werden. Die Patient/inn/en gründen eine Initiative zur Rettung des Pferdes — und Marco bleibt am Leben. Einige Zeit später, im Frühjahr 1973, werken eingeladene Künstler und „Gäste“ wochenlang an einem blauen Pappmaché-Pferd namens Marco, das, nach seiner Fertigstellung, als Zeichen der Freiheit, gemeinsam mit den ehemaligen Gefangenen aus dem Klinikgelände runter in die Stadt ziehen soll. Pappmaché-Marco allerdings ist zu riesig geraten für das niedrige Tor der Stätte seiner Produktion, einer aufgelassenen Station — bei seinem Auszug müssen die Mauern eingerissen werden.

Vier Jahre später, 1977, verkünden Basaglia & Co. anläßlich einer Pressekonferenz die Schließung der Anstalt, 260 verbliebenen Personen allerdings verweigert die Behörde des sozialen Wohnungsbaus die Aufnahme in die Anwärter/innenliste. 260 Menschen, deren Status sich zwar vom rechtlosen „Geisteskranken“ in den eines „Arbeiters“ gewandelt hat, die sich aber erneut im Draußen finden: Arme, alte Bürger und Bürgerinnen.

Um die Bevölkerung auf die Behinderung ihrer Arbeit aufmerksam zu machen und um mehr Wohnraum zu kriegen, besetzen Teile der Equipe und Patient/inn/en im Februar 1978 schließlich das „casa del marinaio“, worüber der neapolitanische Autoverkäufer mit Teddybäreinschlag nichts erzählen möchte, kurz vor der Verabschiedung des Gesetzes 180, die legistische Grundlage zur Schließung des Irrenhauses.

Der folgende Streit um politische Strategien gilt als Zeichen der beginnenden Müdigkeit im Kampf um die Befreiung. Die breite Protestbewegung gibt’s nicht mehr, mit dem „Historischen Kompromiß“ des Jahres 1976 als die Kommunisten die Democrazia Cristiana unterstützten — sind auch die letzten Hoffnungen auf eine linke Regierung dahin. Basaglia arbeitet intensiv am Zustandekommen des 180er Gesetzes.

Mit Ende 1978 dann, darf in ganz Italien niemand mehr ohne weiteres „zwangsbehandelt“ werden. Alle sieben Tage etwa muß der zuständige Bürgermeister sich per Unterschrift einverstanden erklären, eine Behandlung gegen den Willen des Betroffenen aufrechtzuerhalten. Andere Paragraphen regeln die Auflösung des psychiatrischen Krankenhauses und erschweren die unfreiwillige Aufnahme beträchtlich.

Zwei Jahre später, im August 1980, stirbt Franco Basaglia.

Heute bewahren seine „Nachfolger/innen“ das Erreichte. So etwa die „Kulturänderung, die eingetreten ist. Du kannst“, erzählt Carmen Roll, „in Triest die Leute mit der Lupe suchen, die einen, der auf der Straße Radau macht, von uns wegbringen lassen wollen. Die rufen uns zwar in den Zentren an und beschimpfen uns, daß wir nichts arbeiten und so, aber auf die Idee, jemanden wegbringen lassen zu können, kommen sie nicht mehr.“ Heute kommen die Menschen und meinen, dem fehle was, also hätten die Leute von den Diensten dafür zu sorgen, daß er es auch kriegt. „Das ist zwar auch ein Problem, aber ein anderes.“

Denn oft bestimmt die Defensive die Arbeit der Equipe. Die Zentren sind chronisch verstopft, in Italien existiert immer noch kein funktionierendes Sozialsystem, zu viel wird den Diensten aufgeladen. Zu wenig Geld, zu wenig Personal — so versucht die italienische Regierung an die 4.000 argentinische Pfleger/innen ins Land zu holen, da die Arbeitsbedingungen für italienische Staatsbürger/innen zu unattraktiv sind. „Der Geist, die Philosophie des italienischen Gesundheitsdienstes ist sicher der fortschrittlichste in Europa“, meint Roll, „aber alle wollen ihre Pfründe bewahren. Italienisches Papier ist das beste, das du kriegen kannst.“

Um gegen das „Roll-Back“ anzukommen, setzen die Triester immer mehr auf die Arbeitskooperativen, selbstverwaltete Unternehmen, die öffentliche wie private Aufträge erledigen. (Siehe auch nebenstehendes Interview) Sie erhalten staatliche Zuschüsse und zahlen weniger Steuern unter der Bedingung, daß 50% ihrer Mitglieder „benachteiligt“ sind. So werken in Triest zur Zeit vier dieser Kooperativen mit an die 250 Beschäftigten, Tendenz steigend, um „zwischen Normalität und Verrücktheit zu verhandeln“ (Rotelli). Und das in zahlreichen Branchen, wie etwa dem Wohnungsbau, Videoproduktion, elektronischen Medien, im biologischen Landbau, Möbeldesign und -produktion bis hin zum Luxusrestaurant im Triester Bürgerviertel.

Die politische Entwicklung verspricht nicht allzu viel. Nicht nur mangelt es an materieller Ausstattung, die Sozialisten diskutieren in diesen Tagen auch erneut die Sinnhaftigkeit des 180er Gesetzes, ganz offiziell. Sie sähen es gerne geändert — und sei es auch nur darum, weil es von den Kommunisten stammt. In den vergangenen Wochen schließlich sorgte ein anderes Sozialistengesetz für Veränderungen in Italiens Städten. Der Konsum von Heroin müsse, meinten sie, hart bestraft werden. So „fließt heute Heroin in den Straßen Triests, noch dazu pures Zeug. Die Dealer verkaufen radikal und weit günstiger, weil sie Angst haben, daß die Leute auf Tabletten umsteigen.“ Jüngste Bilanz der Gesetzesinitiative: Zwei Drogentote und noch mehr Arbeit für den Drogendienst.

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