FORVM, No. 3
März
1954

Ideologien sind ein Irrtum

Daß ideologische Argumente binnen weniger Jahre in ihr Gegenteil umschlagen können, ohne darum an Stärke einzubüßen, ist ein Zeichen, daß logische Prinzipien — wie etwa der Satz vom Widerspruch — auf sie nicht anwendbar sind. Die Tatsache, daß der Sündenbock zum Heilsbringer, der Todfeind zum Bundesgenossen, das Anathema zur Segensformel werden kann, verweist in den primitiv-magischen Bereich. In Zeiten politischer Umwälzung und sozialer Unsicherheit fällt der Kredit der Massen einzig an die Macht zurück, die ihn gleichsam von einem Zentrum aus an die einzelnen Wissens- und Anschauungsgebiete verteilt. In der Französischen Revolution hat zum erstenmal der Machtstaat die Aufsicht über die geistige Gebarung des Volkes übernommen und die in sich ruhenden Wissenschaften aus ihrem Schwerpunkt gehoben. Der Umwandlung eines präzis konstruierten Heeresmechanismus in das Massenheer entsprach auf geistigem Gebiet die ideologische Übersteigerung der Vernunftphilosophie zum Vernunftkult. Hier wird bereits sichtbar, was für alle Ideologien typisch ist: das Aufsaugen des Gegners, dem man die Symbole seiner Herrschaft abstiehlt, um auf magischem Weg seiner Stärke teilhaftig zu werden. Die Göttin der Vernunft wird am Hochaltar von Notre-Dame verehrt. Die revolutionären Klubs befolgen das Ordensprinzip und nennen sich nicht zufällig „Cordeliers“ usw. (Hieraus erklärt sich auch, warum der Ideologe so häufig zum Renegaten wird.)

Seit Mitte des letzten Jahrhunderts können wir beobachten, wie in den verschiedenen Wissenschaften die eigenständige Wahrheit der Biologie, der Nationalökonomie, der Psychologie, der Medizin Interpretationen unterworfen wird, die sie in den Dienst affektbetonter Massenbewegungen stellen. Unterscheidet man zwischen der Forderung als solcher und ihrer ideologischen Einkleidung, so zeigt sich, daß die aufklärerische Tendenz, die jeder Ideologie innezuwohnen scheint, deren eigentliches Wesen verdeckt, welches den uralten Gepflogenheiten primitiver Magie hörig ist. Die rationale Begründung fällt desto platter aus, je stärker die Triebkräfte sind, denen sie als Tarnung dient. Ob man diese Triebkräfte als dämonisch, satanisch, irrational oder magisch qualifiziert, hängt heutzutage ebenfalls nicht selten von der Ideologie ab, die sich im Namen eines rationalen oder theologischen Manichäismus zum Kampf wider sie berufen glaubt und ihre Argumente nach der Argumentation des Gegners einrichtet.

Idee und Ideologie

Nicht in jedem Fall ist auf den ersten Blick zu unterscheiden, ob es sich bei theologischen, politischen oder künstlerischen Wahrheiten um Ideen oder um Ideologien handelt. Denn häufig gerät eine Idee vermöge ihrer außerrationalen Motivierung in den Bann der Ideologie und wird von ihrem eigentlichen Anliegen abgelenkt. Jules Monnerot zeigt in seiner Studie über den Surrealismus, wie die neue französische Dichterschule, die in den zwanziger Jahren an die Stelle der Form, der poetischen Vernunft: und der dichterischen Individualität die Formentbindung, den seelischen Automatismus und das kollektive Unbewußte setzte, ihren Gegensatz zu Bourgeoisie, Vernunftkultur und Gewohnheit ihrer Zeit sozial zu fixieren suchte und die Selbsterlösung des Dichters mit der ökonomischen „Selbsterlösung‘‘ des Proletariats auf einen Nenner brachte. Daß die Kunst ihr Material zu reduzieren trachtet, um zu einer möglichst reinen Aussage zu kommen, daß sie wie die Musik auf der einen, die Mathematik auf der andern Seite eine Zeichensprache schaffen will, die nicht entlehnt, sondern genuiner Ausdruck des poetischen Affekts sein soll, ist als Idee gerechtfertigt. Jedoch bereits die scharfe Trennung, die zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Wachbewußtsein und Traumbewußtsein vollzogen wird, deutet Nähe und Gefahr der Ideologie an. So schlug auch die an sich legitime Idee des Surrealismus im gleichen Augenblick ins Ideologische um, als er auf Grund seiner Gegnerschaft zum Kapitalismus und zur Bourgeoisie mit einem System Fühlung aufnahm, das zwar nicht seiner poetischen Idee, aber seinem Affekt Recht gab.

Nicht so sehr die Spezialisierung der einzelnen Wissenschaften und Künste, als vielmehr der Kreditwechsel, der sich zugunsten des Irrationalen, des Affektiven und Primitiven vollzieht, gibt für das Anwachsen der Ideologien ein Kriterium ab. Die Ideologie gleicht einem Schauspieler, dessen Typ gefragt ist. Worauf seine Beliebtheit beim Publikum beruht, entzieht sich weitgehend der Berechenbarkeit. Jedoch wird ein geschickter Regisseur leicht herausfinden, welche Rollen ihm am besten zu Gesicht stehen. Ob er ihm klassische Rollen aufträgt oder solche, die eigens für ihn geschaffen wurden: in jedem Falle wird das Publikum in ihm den beliebten Star begrüßen, der einer affektiven Funktion und erst in zweiter Linie dem Geist der Rolle Rechnung trägt. Auf die Ideologie übertragen heißt das: Auch wenn es eine befriedigende Erklärung für das Phänomen der Fliegenden Untertassen, für die Notwendigkeit hoher Besteuerung oder für die Wirkung des Radiums gäbe, so würden doch die ideologischen Standardmotive: Wunschtraum, politisches Ressentiment und Wunderglaube den Sieg über sie davontragen, und erst wenn sie sich gänzlich geschlagen geben müßten, in andere Gebiete auswandern. Es gibt ideologische Konstanten, die nur darum nicht erkannt werden, weil die Rolle, in der sie auftreten, über ihre Funktion hinwegtäuscht.

Anwendung je nach Bedarf ...

Die Unverantwortlichkeit der Ideologie tobt sich vornehmlich in Epochen aus, die an die Grundtriebe des Menschen appellieren. Angst, Macht und Lebensgier werden zu uneingeschränkten Protagonisten, die keine ideale Rolle bändigt. Es sei hier darauf verwiesen, daß die Existentialphilosophie — namentlich eines Heidegger und Sartre — als philosophische Meteorologie den unkontrollierbaren Bereich des Ideologischen unter begriffliche Kontrolle zu bringen sucht, was nicht hindert, daß sie selber zum Herd von neuen Ideologien geworden ist.

Die Ideologie des Hitlerreiches fraß sich nicht nur in Staatswissenschaft und Nationalökonomie ein, die ihr verhältnismäßig naheliegen mochten, sondern verschonte ebensowenig die Biologie, die Medizin, die Geographie, die Germanistik, die Volkskunde, die Religionswissenschaft usw., boykottierte jedoch wohlweislich die Psychologie und die Soziologie. Die beiden letzten Fächer genießen auch in der Sowjetunion keine Achtung, vielleicht weil ideologische Neugier nur den Spiegel der Selbsterkenntnis scheut. Man täusche sich jedoch nicht: auch die Psychoanalyse, auch die Soziologie können von Kräften informiert werden, die ihre wissenschaftliche Idee ins Ideologische umschminken und sie auf den Nenner des Lieblingsaffekts bringen. Die Psychoanalyse gibt, was Stringenz und Schärfe angeht, als künstlerisches Prinzip dem Marxismus nichts nach; wird sie nicht mehr als Forschungsmethode, sondern als universales Deutungs- und Darstellungsmittel verwendet, so leistet sie im Kampf wider die bürgerliche Gesellschaft das gleiche wie der ökonomische Materialismus. Ähnliches wäre von der Soziologie zu sagen, die im Hui aus einer Wissenschaft in eine militante Ideologie umgeschmiedet werden kann.

Die Ideologie, hierin der Schmarotzerpflanze vergleichbar, ist Produkt und Todfeind des Bodens, der sie hervorgebracht hat. Nicht selten gerät sie mit sich selber in Streit und verwüstet eben das, was sie früher zu kultivieren vorgab. Man wäre jedoch gründlich im Irrtum, sähe man in solchen Widersprüchen Symptome von Gesinnungsschwäche oder schwankender Denkart. Sowie man die jeweilige Tarnung lüftet und auf die eigentlich informierenden Kräfte — Machtgelüste, Ressentiment, soziales Minderwertigkeitsgefühl — den Blick richtet, wird die affektive Einheitlichkeit von Gesinnung und Denkart offenbar.

... an der Wirklichkeit vorbei

Die ideologische Denkweise steht in schärfstem Gegensatz zu einer anderen, die ich die dekalogische nennen möchte. Ist die erste bildgebunden und bildbefangen, so ist der zweiten höchstes Gebot, kein Bildnis und Gleichnis zu setzen. Ist die eine im Unbewußten verwurzelt, so begründet sich die andere im sittlichen Bewußtsein. Ist die eine gesetzfeindlich, indem sie der Autorität der Triebmotivierung gehorcht, so ist die andere gesetzhörig und nicht selten triebzerstörend.

Die dekalogische Denkweise läuft in säkularisierter Form nicht minder Gefahr, an der Wirklichkeit vorbeizuleben, als die ideologische, nur im umgekehrten Sinne: sie entwirklicht das Bild, das der Ideologe fetischisiert. Sie glaubt an das Gesetz, auch wo es nicht mit göttlicher Autorität auftritt, nämlich im gesamten Bereich der Wissenschaft und Philosophie, während der Ideologe bestrebt ist, Gesetze in Gelegenheiten zu verwandeln. Das dekalogische Denken droht durch Übertreibung der Einzelfreiheit und Einzelverantwortung das soziale Kommune in Masse zu verwandeln, indem er zwischen Mensch und Mensch ein legislatives Gleichheitszeichen setzt. Das ideologische Denken, obwohl auf die Masse zugeschnitten, ist ständig bereit, seine fluktuierende Anpassung in strenge Herrschaftsform zu verwandeln. Das Dekalogische regiert von oben nach unten, das Ideologische regiert von unten nach oben.

Je mehr sich das (dekalogische) Gesetzesdenken vom (ideologischen) Gelegenheitsdenken abspaltet — von einer derart scharfen Trennung kann überhaupt erst seit dem Ausgang der Romantik die Rede sein —, um so mehr trachtet das eine die Wirklichkeit in der abstrakten Formel, das andere im unverantwortlichen, aber magisch bannenden Bild zu fassen. Kierkegaard zieht in seinem Buch ‚‚Entweder — Oder“ nur die Kluft nach, die sich nach dem Scheitern der romantischen Einigungsbestrebungen zwischen Gesetzlichkeit und Intuition, zwischen Vorsatz und Laune, zwischen Ernst und Ironie, zwischen Methode und Spiel aufgetan hatte. Erst von Kierkegaard ab kann man im strengen Sinne von dekalogischem und ideologischem Denken reden, zwischen denen bis dahin stets ein Ausgleich stattgefunden hatte. Was ich hier unter zwei umfassendere Begriffe gebracht habe, über deren provisorischen Charakter ich mir klar bin, das stellt sich bei Kierkegaard als die Trennung des Ästhetischen vom Ethischen dar. Sein Bestreben, des Ethischen in reiner — das heißt bildloser, ungespiegelter — Form habhaft zu werden, ist ein Wettlauf mit dem Schatten, weil das Motiv, das ihn zu der verzweifelten Jagd antreibt, ein gewisses Bild seiner selbst, ein Pseudonym, voranwirft. Die Spaltung der eigenen Person in einen reinen Ästhetiker, dem ein reiner Ethiker korrespondieren soll, macht die Sache nicht besser. Was nun als reine Ästhetik gelten soll, ist nicht mehr die ästhetische Idee, sondern deren Ideologie, wird nicht mehr vom Werk abgenommen, sondern vom ästhetischen Zustand, den am eindringlichsten Verführer und Schauspieler verkörpern. Was auf der andern Seite als Ethik gelten soll, ist in der Form der Selbstwahl reine Dekalogie, die sich in egozentrischer Scheu von Möglichkeit und Gelegenheit fernhält, in denen sıe ästhetische Versuchungen wittert.

Das Beispiel soll deutlichmachen, daß die Ideologie nicht selten ein Feld besetzt, das von einer im Rückzug befindlichen Anschauung freigemacht wurde. Kierkegaard weiß das Ethische und das Religiöse nur dadurch zur Geltung zu bringen, daß er das Ästhetische, indem er es vom Ethischen radikal abtrennt, einer Ideologie aufopfert. Sein Denken ist nicht expansiv, d. h. auf harmonische Fairneß gerichtet, sondern restriktiv. Und jede Restriktion erweitert den Spielraum der Ideologie. Wenn in der Folge versucht wurde, das ideologisierte Ästhetische für die Idee zurückzugewinnen, so blieb doch der Riß unheilbar, wie das Experiment des Surrealismus, die Existentialanalyse Sartres und ähnliche Versuche, der Kunst ein Gewissen zu verschaffen, beweisen.

Gesetz und Gewissen

Je mehr der Boden unserer Anschauung zerbröckelt, üm so geiler werden die Ideologien aufsprießen. Dekalogisches und ideologisches Denken — wirklichkeitsscheu und bildios das eine, bildbefangen und wuchernd-gefräßig das andere — werden sich in ihrer Einseitigkeit wechselweise steigern. Dem asketischen Prinzip eines unanschaulichen Einheitsprinzips, wie es die klassische Wissenschaft vertrat, wird die wimmelnde Vielfalt ideologischer Götzenbilder gegenübertreten. In der Anthropologie werden die Fronten im Nahkampf aufeinanderstoßen. Der Kredit, auf den sich die Wissenschaft in ihrem eigenen Bereich verläßt, wird sie um so weniger die außerrationalen Motive beachten lassen, denen sie in ihrem Bestreben auch gehorcht. Die Ärzte in KZ-Lagern, die an Sträflingen experimentierten, fühlten sich zweifellos einer wissenschaftlichen Dekalogie verschrieben, die jedoch längst der Ideologie zum Opfer gefallen war.

Es versteht sich, daß hier mit Dekalogie nicht das gottgegebene Gesetz gemeint ist, sondern der Götze dieses Gesetzes, genau so wie Ideologie als ratiofeindliche Vergötzung der Ding- und Bildwelt aufzufassen ist.

Der Zerfall des dekalogischen Denkens, das bezeichnenderweise in der Technik dem ideologischen Denken die Hand reicht (insofern beide in Macht und Beherrschung verbunden sind), wird endlich auch dieses zum Erlöschen bringen. Doch ist damit auch das Ende unserer Kultur erreicht. Erst wenn Mensch und Wirklichkeit wieder auf ein gerechtes Maß zurückgeführt sind, was ohne religiöse Kräfte kaum möglich sein dürfte, wird der einzelne wieder zu jener Freiheit erwachen, die das Gesetz in die Obhut des Gewissens nimmt.

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