MOZ, Nummer 54
Juli
1990
Interview:

„Ihr Westeuropäer seid Heuchler!“

Silviu Brucan gilt als der ideologische Kopf der rumänischen Weihnachtsrevolution. Der heute 73-Jährige war Mitglied des vierköpfigen „Revolutionsrates“, der unmittelbar nach dem Sturz Ceausescus die Geschicke des Landes lenkte. Als Ökonom und Entwicklungstheoretiker hat sich der an der Universität von Bukarest lehrende Brucan ebenso einen internationalen Namen gemacht wie als Diplomat in den 60er Jahren.

MONATSZEITUNG-Redakteur Hannes Hofbauer führte mit ihm das folgende Gespräch.

MONATSZEITUNG: Ceausescus Wirtschaftsmodell einer weitgehend vom Weltmarkt abgekoppelten Entwicklungsdiktatur ist — nicht nur wegen solch weithin sichtbarem Wahnsinn wie dem Bau seines Palastes — gescheitert. Und mit bzw. schon vor ihm das ganze Modell einer dissoziativen, das heißt abgekoppelten sozialistischen Ökonomie. Nun steht Rumänien gleichzeitig am Ende einer alten und am Anfang einer neuen Ära. Wie sieht Ihre Strategie aus, die überall im Lande sichtbaren wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen?

Brucan: Es gibt zwei Denkschulen in Osteuropa. Die eine bevorzugt die schnelle Übernahme eines freien Unternehmertums wie z.B. in Polen, sie ist auch unter dem Begriff Schocktherapie bekannt. Dieses System scheint für das westliche Kapital und auch für die sogenannte freie und unabhängige Presse im Westen sehr angenehm zu sein. Die zweite Variante ist die einer schrittweisen Einführung von Marktkräften, die soweit möglich — die Kontrolle über den ganzen Prozeß behalten will, um die negativen Auswirkungen des Marktsystems abzuschwächen. Nachdem wir ausführlich und gewissenhaft das polnische Experiment studiert haben, haben wir uns für die zweite Variante entschieden.

Also hat Sie das polnische Experiment davon überzeugt, es so nicht machen zu wollen?

Ja, und das ungarische.

Warum das ungarische?

Weil auch dort vor kurzem die Schocktherapie angewandt wurde. Mit denselben Auswirkungen wie in Polen. Kurz und bündig: Westeuropa würde es gerne sehen, Osteuropa in dieselbe Situation zu bringen, in der sich Lateinamerika gegenüber den USA befindet.

Aus welchem Interesse heraus?

Weil es eine sehr profitable Position ist. Allein die Kreditrückzahlungen der Auslandsschulden genügen, um die westlichen Banken glücklich zu machen.

Die Strategie der Abkoppelung vom Weltmarkt ist gescheitert

Beide osteuropäischen Denkschulen versuchen letztlich die Integration in das marktwirtschaftliche Modell. Das heißt also, daß ein dissoziativer Weg nicht mehr in Frage kommt?

Ich glaube nicht, daß der Westen uns in sein System integrieren läßt. Die oben von mir angesprochenen Denkschulen sind osteuropäischer Herkunft. Ich aber habe gerade ausgeführt, was Westeuropa dazu treibt, so begierig für die schnelle Übernahme zu plädieren. Der Westen war beispielsweise auch mit der Tatsache unzufrieden, daß in Ungarn das nationale Demokratische Forum und nicht die prowestlichen Freien Demokraten die Wahlen gewonnen haben. In allen Presseberichten wurde deutlich, daß der Westen die Freien Demokraten bevorzugt hätte. Dazu paßt natürlich auch, daß im Westen eine offensichtliche Feindschaft gegenüber der rumänischen „Front zur nationalen Rettung“ zur Schau getragen wurde, weil die ‚Front‘ es nicht eilig hat mit der Übernahme des Marktsystems.

In den 60ern und 70ern waren Sie einer der Theoretiker des Dissoziationsmodells, der Abkoppelung vom Weltmarkt. Wann haben Sie dieser Theorie abgeschworen?

Die sogenannte self-reliance-Strategie war viel eher der theoretische Ansatz anderer Kollegen, ich war immer skeptischer. Ich glaube, daß es eine falsche Strategie für die unterentwickelten Länder gewesen ist; und zwar deshalb, weil es für sie ganz einfach unmöglich ist, eine solche Strategie umzusetzen. Heute ist offensichtlich, daß die self-reliance-Strategie gescheitert ist. Zu abhängig ist die unterentwickelte Welt vom Westen und vom Norden, um self-reliant, d.h. auf sich selbst gestützt zu sein und sich auf diese Weise zu emanzipieren.

Abhängigkeit entsteht aber auch, wenn man sich Schritt für Schritt in den kapitalistischen Weltmarkt integriert.

Wenn Sie unter Integration Verschlingen meinen, bin ich mit Ihnen einverstanden.

Und wie agieren Sie gegen diese Gefahr?

Wir wollen nicht verschlungen werden.

Aber wie wollen Sie das verhindern?

Indem wir einen starken staatlichen Sektor beibehalten, was uns einen gewissen Einfluß auf die zukünftige Entwicklung des Landes geben sollte. Wenn man keinen starken staatlichen Sektor hat, arbeiten die Marktkräfte ausschließlich in die Taschen der Reichen und Entwickelten.

Deshalb sagten Sie auch in einem Interview mit „Herald Tribune“, daß Sie Rumänien gerne eine Ökonomie wie Südkorea und eine Sozialpolitik wie Österreich geben würden?

Genau.

Ist das nicht rein voluntaristisch? Gibt es für so eine Strategie in Rumänien überhaupt eine Chance?

Ich glaube schon, daß es realistisch ist, weil wir ja nicht bei Null beginnen. Anders als Südkorea am Beginn seiner industriellen Entwicklung haben wir heute schon eine starke Riege von Wissenschaftlern und Ingenieuren.

Das heißt aber auch, daß die Arbeiter nicht für höhere Löhne kämpfen dürfen, wenn man sich die staatliche Unterdrückung in Südkorea ansieht ...

Die Arbeiter sind dort gerade in letzter Zeit sehr energiegeladen.

Aber es gibt schwere Auseinandersetzungen und Probleme.

Kein Land der Welt existiert ohne Probleme. Die wichtigste Frage ist und bleibt, daß wir einen Einfluß auf die Entwicklungsrichtung in unserem Land beibehalten. Wenn wir den staatlichen Sektor aufgeben, dann würden wir zu einem komplett hilflosen ‚Partner‘ des Westens. John Kenneth Galbraith schrieb etwas sehr Interessantes über dieses Thema. Er sagte, daß der Westen Osteuropa eine Art freestyle-Kapitalismus aufoktroyieren will, den er in den eigenen Ländern niemals riskieren würde. In der Zwischenzeit führen sie im Westen einen Wohlfahrtsstaat ein.

Die Regierungen in allen westlichen Staaten spielen eine sehr entscheidende Rolle für die Wirtschaft. Warum macht denn der Westen überhaupt Regierungen für ökonomische Zustände verantwortlich, wenn er glaubte, daß die freie Marktwirtschaft der einzige Akteur auf der Szene ist? Gleichzeitig wollt Ihr im Westen, daß wir die Rolle des Staates in unseren Ländern eliminieren. Ihr seid Heuchler!

Mit der Öffnung im Osten kommt die gesellschaftliche Bruchlinie zwischen Erster und „Dritter Welt“ — lassen Sie mich das einmal so nennen — sehr nahe an die Metropolen, Sehen Sie da nicht eine Gefahr für ein soziales und/oder nationales Pulverfaß heraufdämmern? Kann das Ganze nicht explodieren?

Wir haben unsere Explosion schon gehabt.

Vielleicht war das nur der erste Schritt in Richtung größerer Eruptionen.

Die Leute hier haben die Eruptionen schon satt. In Wirklichkeit hat dieser Sättigungsgrad die Wahlen entschieden. Wir, die „Front zur nationalen Rettung“, haben mit bestenfalls 65% des Stimmenanteils für die Präsidentschaftswahlen gerechnet. Die Differenz zu den tatsächlichen 85% ist einzig der Sehnsucht der Rumänen geschuldet, nach fünf Monaten Gewalt und politischer Spannung endlich Frieden und politische Ruhe zu haben. Die Opposition versuchte zwar, Stimmung im Volk zu machen, aber das Volk spielte nicht mit. Der Schuß ging dermaßen nach hinten los, daß er die Opposition fast gänzlich zerstört hat.

„... das ist Marx auf den Kopf gestellt.“

Kommen wir jetzt zu den gesellschaftlichen Widersprüchen im Inneren Rumäniens. Ein tm Lande weithin sichtbarer ist der zwischen Stadt und Land, zwischen der alten Elite aus der Zwischenkriegszeit und den Bauern. Ist das nach wie vor eines der entscheidenden Probleme, mit denen Rumänien strukturell zu kämpfen hat?

Es ist tatsächlich ein Problem. Aber im großen und ganzen sehe ich zwei andere, entscheidendere soziale Entwicklungen in Osteuropa, die näherer Betrachtung wert sind. Die eine — ein Resultat der technologischen Revolution — ist das abnehmende soziale Prestige der Industriearbeiterschaft und das Aufkommen der Intelligenzia, hin zu einer strategischen gesellschaftlichen Position. Und die zweite Entwicklung ein Resultat der Marktwirtschaft — ist die Entstehung einer breiten Mittelklasse in den osteuropäischen Gesellschaften. Das ist Marx auf den Kopf gestellt.

In Rumänien ist mir diese neue Mittelklasse noch nicht aufgefallen.

Richtig, weil sie sich erst im embryonalen Zustand befindet. Aber in Ungarn z.B., nach 20 Jahren Marktwirtschaft, ist die Mittelklasse schon deutlich ausgeprägt. Dort sind die zwei größten Parteien des Landes Vertreterinnen dieser Mittelklasse, das Demokratische Forum und die Freien Demokraten. Diejenigen, die auf die ungarischen Arbeiter gesetzt haben, haben bei den Wahlen nur wenige Prozentpunkte erreicht.

Und Ihr Ziel ist es, auch in Rumänien eine Mittelklasse zu kreieren?

Ob wir das wollen oder nicht, sie wird entstehen. Wissen Sie, daß es in Rumänien einen Mann gibt, der in den letzten fünf Monaten 12 Millionen Lei verdient hat?

Ich habe ihn nicht getroffen.

Sie sollten ihn treffen.

Wissen Sie, wie er es gemacht hat? Er hat alte Möbel billig eingekauft und restauriert, weil er wußte, daß die Leute im Westen ganz wahnsinnig auf alte Möbel sind. Mit dem Geld, das er im Westen damit verdient hat, importierte er französische Kosmetika. Die hat er in nur drei Tagen in Bukarest verkauft, für 12 Millionen Lei.

Das sieht nach absolutem Frühkapitalismus aus.

Mag sein, aber es war so.

„30% des Ackerlandes sind privatisiert“

Iliescus Privatisierungsprogramm hat mit der Landreform begonnen ...

30% des Ackerlandes sind an die Bauern verteilt worden. Sie können darauf anpflanzen, was sie wollen und ihre Produkte überall auf dem Markt verkaufen, ohne Restriktionen. Nach zwei Jahren werden sie Eigentümer des Landes — mit der Auflage, es innerhalb der ersten zehn Jahre nicht zu verkaufen. Wir wollten verhindern, daß manche Bauern einfach ihr Land nehmen und es sofort verkaufen. Weiters privatisieren wir gerade den Dienstleistungssektor und die kleinen Industrien, wo bis zu hundert Angestellte erlaubt sind. Wir wollen damit zwei Fliegen auf einen Schlag treffen:

Zum einen die Verbesserung und die Vermehrung der Konsumgüter, und zum anderen die Absorption der Beschäftigten in überbelegten Fabriken. Freilich wollen wir auch ausländisches Kapital ermutigen, Joint-ventures in Rumänien einzugehen.

Und Sie behalten sich die Kontrolle über ausländisches Kapital vor?

Nein, weil wir mit 100% Auslandsanteil einverstanden sind. Was allerdings die Repatriierung ausländischer Gewinne anbelangt, so wollen wir durchaus eine gewisse Kontrolle darüber behalten.

„Ich hasse die Politik“

Sie waren der intellektuelle Kopf der Revolution. Vor einigen Wochen, so stand es in den Zeitungen zu lesen, haben Sie die „Front zur nationalen Rettung“ verlassen. Warum?

Ich habe nicht die ‚Front‘, sondern die politische Bühne verlassen. Ich hasse die Politik, vor allem die rumänische. Die rumänische Politik ist eklig und schmutzig. Ich denke, daß ich meine Mission erfüllt habe. Nun gehe ich zurück zu meinen gewohnten Tätigkeiten. Ich schreibe und lehre. Mir liegt ein sehr attraktiver Vorschlag eines amerikanisch-britischen Herausgebers vor, meine Memoiren zu schreiben. Warum nicht?

Wie erklären Sie den überwältigenden Sieg der ‚Front‘? Nirgends in den anderen osteuropäischen Ländern gab es eine links der Mitte angesiedelte politische Kraft, die nach den 1989er-Revolutionen Wahlen gewonnen hat, außer einem knappen Wahlsieg bei den slowenischen Präsidentschaftswahlen. Warum gerade in Rumänien?

Rumänien ist das einzige Land im Osten mit lateinischem Background.

Und das soll 85% geben?

(lacht) Nein. In Wirklichkeit hat die Opposition schwere Fehler begangen. Es ist weniger unser hausgemachter Sieg als deren Dummheit. Die Nationalliberalen und die Bauernpartei haben nicht bemerkt, daß die Rumänen die politischen Auseinandersetzungen und Spannungen satt hatten. Aber das neue Problem liegt ganz woanders. Der unerwartet hohe Wahlsieg hat die ‚Front‘ zur entscheidenden Kraft des Landes gemacht, das bedeutet viel Verantwortung für die weitere Demokratisierung des Landes. Und die ‚Front‘ ist total unvorbereitet, diese Rolle zu übernehmen, das ist das zukünftige Problem, dem wir gegenüberstehen.

Und wie werden Sie dieses Problem meistern?

Wir müssen die ‚Front‘ von einer Bewegung in eine starke politische Partei umstrukturieren. Ich stimme mit Iliescu darin überein, daß es eine sozialdemokratische Partei sein soll, obwohl wir alle wissen, daß die Sozialdemokratie in der gegenwärtigen Welt eine Fülle von Variationen erlaubt. Eine präzise Definition unserer zukünftigen Ideologie tut not. Auch die Frage der Führerschaft muß diskutiert werden, wie überhaupt eine Stukturdebatte dringend notwendig ist.

Die drei Probleme lauten also: Ideologie, Führerschaft und Struktur. Ich habe vorgeschlagen, einen Parteikongreß abzuhalten. Dort müssen wir uns dann auch darüber unterhalten, wie unsere soziale Basis in Zukunft aussieht. Bis zu den Wahlen war das eindeutig: Die soziale Basis der ‚Front‘ waren die Arbeiter und die Bauern. Das wird in Zukunft nicht genug sein, allein schon wegen der aufkommenden Mittelklasse. Auch darüber müssen wir nachdenken.

Wie wollen Sie also die Strukturprobleme der ‚Front‘ lösen?

Zuerst brauchen wir eine breitere Führungsmannschaft. Zwei Führer, nämlich Iliescu und Roman, sind nicht genug. Wir brauchen junge Kräfte, vor allem solche, die keine kommunistische Vergangenheit haben, weil die Stimmung im Volk das verlangt. Also müssen wir jene fördern, die sich in der Wahlkampagne hervorgetan haben.

„Das US-State Department ist ein schlechter Verlierer“

Warum ist die Akzeptanz der „Front zur nationalen Rettung“ im westlichen Ausland so gering? Viele Zeitungen und TV-Stationen im Westen haben von Wahlschwindel und ähnlichem gesprochen.

Die Frage des vermeintlichen Wahlschwindels ist geklärt. Allgemein wird die Korrektheit des Wahlvorganges anerkannt. Einzig das US-State Department ist ein schlechter Verlierer. Die finden sich nur sehr schwer mit der Niederlage ab, die sie erlitten haben. Die wollten die Nationalliberalen und die Nationale Bauernpartei siegen sehen.

Und die Westeuropäer?

Die waren weniger auf einen Sieg der Bürgerlichen fixiert. Das US-State Department hat damit spekuliert, daß die Nationalliberalen und die Bauernpartei ihnen einen starken geostrategischen Einfluß in Rumänien, also an der Grenze unmittelbar zur Sowjetunion, sichern. Die Europäer sind weniger strategisch als vielmehr ökonomisch an Rumänien interessiert. Politik spielt dort nicht so eine große Rolle wie in Washington.

Danke für das Gespräch.
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