Streifzüge, Heft 1/1996
März
1996

Immer am Rande Europas

Seit dem Mittelalter steht Osteuropa in Abhän­gigkeit von den wirtschaftlichen Zentren des Kontinents. Erst die stalinistischen Entwick­lungsdiktaturen entzogen die Region dem öko­nomischen Zugriff des Westens — allerdings nur vordergründig: Mit der Aufnahme von Krediten im Westen zur Überwindung der Rezession der Siebziger gerieten die nominalsozialistischen Länder in die Schuldenfalle und damit in neuerliche Abhängigkeit, die schließlich zum Zusam­menbruch der Regimes führte — und zur Wieder­herstellung der Peripherie-Metropole-Beziehung.

Von der Öffnung zur Peripherisierung des Ostens

Geographisch reicht der politisch titulierte „Osten“ Europas bekanntermaßen vom böhmi­schen Cheb im Westen bis zur Tschuktschen-Halbinsel an der Beringstraße. Die Gebiete der ehemaligen DDR haben im allgemeinen Sprach­gebrauch eilig das Beiwort Osteuropa verloren und werden im meinungsbildenden Diskurs allenfalls als ostdeutsche Länder, lieber noch als „neue“ Länder gehandelt. Die mit der Vergrößerung Deutschlands erfolgte Ausweitung des Westens kann im Angesicht der Landkarte als geringfügig betrachtet werden.

Zwischen Böhmerwald und Ostsibirischer See erstreckt sich also jener Osten, der vor wenigen Jahren wirtschaftlich zusammengebrochen ist — heute politisch destabilisiert und militärisch an vielen Orten jederzeit entflammbar. Gemeinsam ist den Regionen und Staaten des Ostens nur ihre Ex-Mitgliedschaft im RGW, dem bisher größtangelegten Versuch zur Herstellung eines Integrati­onsraumes am Rande der kapitalistischen Zen­tren. Damit einher geht die zweite Gemeinsam­keit: ihre Abhängigkeit vom politischen und militärischen Kristallisationspunkt dieses Raumes, Moskau. Einen Osten im Sinne dieses Ganzen gibt es heute nicht mehr, ja hat es — was beispielsweise die versteckten DDR-Exporte in die EG oder die offene Weigerung Rumäniens zur Pakttreue anbelangt — nie wirklich gegeben.

Nach dem Scheitern des von Moskau gepräg­ten Zwangsmodernisierungsversuches befindet sich der Osten im Stadium zentrifugaler Aufs­plitterung — sowohl in sozialer, wirtschaftlicher, politischer und teilweise sogar territorialer Hin­sicht. Die gesellschaftlichen Fliehkräfte bilden nicht nur die Voraussetzung für Peripherisierung, sie begleiten Land und Leute während des Pro­zesses der Desintegration, der von anderen gleichwohl als selektive Integration verstanden wird.

Die Phalanx der staatsfinanzierten Osteuro­painstitute ist in Windeseile von antikommuni­stischem Eiferertum zu Hoffnung und Warnung gleichzeitig spendendem liberalen Glaubensbe­kenntnis konvertiert. Sie hält das soziale und wirtschaftliche Auseinanderdriften der Gesell­schaften — bestenfalls — statistisch in Tellerwä­scher-Millionärsgeschichten und Elendsphä­nomenen fest, kommentiert die politische Zersplitterung mit Akribie und versucht dem terri­torialen Aufbrechen mit dem Begriff der natio­nalen Selbstbestimmung beizukommen. Der strukturelle Blick auf die tiefe wirtschaftliche Krise hinter dem (ost)europäischen Drama des ausklingenden 20. Jahrhunderts ist nicht gefragt. Eine gewisse Ausnahme bilden die Veröffentli­chungen des Wiener Instituts für internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW). Dort finden sich makroökonomische Strukturdaten zur Wirt­schaftslage in Osteuropa, die auch im folgenden berücksichtigt werden.

Zuvor bedarf es noch eines groben Rasters, um den unterschiedlichen Entwicklungen in den einzelnen Ländern gerecht zu werden. [1] Dabei orten wir drei Entwicklungsstufen, die — dem „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkei­ten“ in der EU nicht unähnlich — sich vom deut­schen Zentrum aus schalenförmig von Nordwest nach Südost legen: Tschechien, die Slowakei, Ungarn und Slowenien — mit Vorbehalt auch Polen — sind jene Staaten, in denen die Hoffnung auf wirtschaftliche Stabilisierung noch nicht auf­gegeben wurde. Sie alle stehen in starker ökono­mischer Abhängigkeit zur EU, insbesondere Deutschlands. Fortgesetzte wirtschaftliche Talfahrt prognostizieren hingegen auch Optimisten für Rumäniens und Bulgariens Wirtschaft Und östlich davon, wo die gescheiterte Modernisie­rung 1918 ihren Ausgangspunkt nahm, stehen die Zeichen auf Sturm. Rußland und mit ihm die GUS, insbesondere auch die Ukraine, ringen mit dem totalen Zerfall, gegen das drohende Vorbild des jugoslawischen Desasters. Für Ex-Jugoslawien außerhalb Sloweniens sind keine seriösen Daten verfügbar. Angemerkt zu den verschiede­nen Entwicklungsgeschwindigkeiten sei noch das Wichtigste: Alle Regierungen der postkommuni­stischen Länder kämpfen zur Zeit — freilich für ihre eigene Elite — um einen Platz möglichst im Wirkungsbereich der Maastrichter Verträge.

Die russische Ausnahme basiert weniger auf der Moskauer Distanz zur EU als umgekehrt auf der rigorosen Ablehnung eventueller diesbezüg­licher Wünsche seitens Brüssel.

Der ökonomische Wandel

Unterschiedlich schnell und unterschiedlich intensiv vollziehen sich die wirtschaftlichen Wandlungsprozesse in den einzelnen Staaten. Die jeweilige Positionierung im System der weltwei­ten internationalen Arbeitsteilung gleicht sich dabei tendenziell jener in der Zwischenkriegszeit an. Es geht also retour — mit der Ausnahme Tsche­chiens, das als ehemals industrielles Kernland (Böhmen und Mähren) der Habsburgermonar­chie beim Eintritt in den RGW ein hohes Entwicklungsniveau aufwies und somit als einziges Land die stalinistische Entwicklungsdiktatur der 1950er- und 60er Jahre auch ökonomisch kon­traproduktiv empfand. Die spezifische Entwick­lungsgeschichte Sloweniens innerhalb des jugoslawischen Staatsverbandes, das zudem in der heutigen Territorialität vor dem Ersten Weltkrieg administrativ nicht existierte, macht es schwer, die Ausnahme von der wirtschaftlichen Regres­sion auch für dieses Land zu reklamieren.

Der allgemeine Abschwung ist übrigens bereits seit Mitte der 1970er Jahre konstatierbar, mit der Aufnahme von Westkrediten konnte er über zehn Jahre verschleiert werden.

Das Stichjahr 1989 steht für den Übergang dieser Krise der 70er Jahre zum Wandel ökono­mischer Strukturen innerhalb der osteuropäi­schen Länder. Ost-Ost-Kooperationen konnten dem aus der Schuldenspirale entstandenen Druck nicht standhalten, rapide setzte in den höchst­verschuldeten Ländern Ungarn und Polen eine Dollarisierung der Wirtschaft ein. Die Auflösung der (Transfer)Rubelzone im RGW ließ nicht lange auf sich warten. Und im Juni 1991 beschloß der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe sein Ende.

Der weiterhin von ökonomischer Talfahrt geprägte Wandel erfolgt letztlich entlang geopo­litischer Linien. Die an die Europäische Union angrenzenden Volkswirtschaften Tschechiens, der Slowakei, Ungarns, Polens und Sloweniens richten sich branchenmäßig und entsprechend ihrer Außenhandelsorientierung auf die Bedürf­nis se des EU-Marktes aus. Diese Zentralisierung weist ihnen wirtschaftlich einen Kolonialstatus und politisch-militärisch eine Vorfeldfunktion der deutschdominierten Brüsseler Verwaltung zu. Ein Konjukturabschwung in Deutschland, so meinte auch WIIW-Direktor Peter Hawlik anläß­lich der Sommerpressekonferenz seines Institu­tes, würde unmittelbar negativ auf Osteuropa rückwirken.

Zur Auflösung der inner-osteuropäischen Wirtschaftskreisläufe, die in den IWF-Plänen von Jeffrey Sachs für Polen und Jugoslawien zur Dollarisierung des Außenhandels auch als bewußte Zerschlagung gelesen werden können, gesellt sich als zweites ökonomisches „Stand­bein“ des Wandels die Änderung der Eigentums­struktur. Der Diebstahl am volkswirtschaftlich erarbeiteten Eigentum, der — grob gesprochen — bis zur Wende von der Nomenklatura systema­tisch betrieben wurde, erhält nun eine neue Trä­gerschaft. Was nicht unbedingt heißen muß, daß es sich dabei um andere Personen handelt. Die mit staatlicher Hilfe betriebene Privatisierung — ob mittels Kouponmodellen, direktem Ausver­kauf oder mafiosen Praktiken, die alle drei eine wejtgehende Einheit bilden — kennt oftmals als neue Eigner die alten Bürokraten. Im Ungari­schen ist für diesen Sachverhalt ein passender Begriff entstanden: Fallschirmspringer nennt man dort diejenigen Direktoren verstaatlichter Betriebe, die mit entsprechender ministerieller Unterstützung den einstigen Nomenklaturazu­griff auf Volkseigentum bürgerlich verrechtli­chen. Der vermeintliche Hinauswurf aus den alten Positionen, der vorstellbare Verlust von Pri­vilegien, wird in dieser Diktion „per Fallschirm“ gebremst, aufgehalten.

Die private Aneignung des gesellschaftlich Erwirtschafteten geht einher mit der Enteignung jener, die keine Zugriffsmöglichkeiten auf Volks­eigentum haben. Als probatestes Mittel dafür gilt die Inflation, die innerhalb weniger Monate in allen Ländern — mit der Ausnahme Tschechiens — das Angesparte vernichtet hat. Damit die Dimen­sionen klar sind: 600% betrug die polnische Inflation im Jahre 1990, 500% die bulgarische 1992, ebenso hoch war sie 1993 in Rumänien, immerhin 60% in Ungarn (1992), über 1.000% in Rußland (1993), gar über 1.500% lag die Inflation 1994 in der Ukraine. Und das sind nur die Spitzenwerte, die oft im Folgejahr nur um weniges unterboten werden konnten. Die „Ent­eignung der Besitzlosen“ nannte der bekannte Nationalökonom und letzte austromarxistische Wirtschaftstheoretiker Eduard März diesen inflationären Prozeß, den er für die monetären Krisen der österreichischen Zwischenkriegszeit beschrieben hat.

Die wirtschaftliche Umorientierung von der (Transfer)Rubelzone zur ECU/DM-Zone bringt es auch mit sich, daß viele Fabriksstandorte, ja ganze Branchen nicht mehr konkurrenzfähig sind. Zwangsläufige Deindustrialisierung führt in der Folge zu Arbeitslosigkeit; von der inflati­onsbedingten Enteignung zur Hoffnungslosigkeit ist es dann für den einzelnen Betroffenen manch­mal nur mehr ein kleiner Schritt.

Die Ursachen der Peripherisierung Für viele Interpreten der aktuellen Situation beginnt die Krisengeschichte Osteuropas — im Banne der Ideologie des Kalten Krieges — nach dem Zweiten Weltkrieg. Eine solche Sicht der Dinge verzerrt die Wirklichkeit, die ohne histo­rischen Tiefgang nicht verständlich gemacht wer­den kann.

Der hegemoniale, von liberaler Apologetik gezeichnete Diskurs ergeht sich zwecks Ursa­chenergründung der gegenwärtigen Desintegra­tionsprozesse in Schuldzuweisungen an die alten KP-Regime. Von der sozialen Misere bis zur voll entbrannten nationalistischen Ersatzhandlung lägen die Wurzeln der osteuropäischen Unwegbarkeiten in den 70 bzw. 40 Jahren der roten Herrschaft. Schon Lenins Sozialismuskonzeption als nachholende Industrialisierung im Weltmaß­stab, ja gerade als Reaktion auf die periphere Lage des Ostens, ist mit dieser Analyse aus dem Blickwinkel gerückt. Und auch die in Rumänien, Bulgarien, Polen, Jugoslawien, Ungarn und den slowakischen Regionen betriebene Nachkriegs­modernisierung als zweiter Versuch zur Über­windung abhängiger wirtschaftlicher Strukturen nach den 1920er Jahren kann mit dem simplen, in die Geschichte reflektierenden Antikommunismus nicht verstanden werden. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre traten nationale Parteien in den besagten Ländern gegen den wirtschaftli­chen Kolonialstatus ihrer Länder auf und konzi­pierten eigenständige ökonomische Entwicklungsprogramme. Unter dem Einfluß des deut­schen Volkswirtschaftlers Friedrich List erarbei­tete beispielsweise der Rumäne Mihail Manoilescu 1929 seine „Idee eines nationalen Entwick­lungsplanes“, die später auch von afrikanischen und lateinamerikanischen Dependecia-Theoretikern aufgegriffen wurde. „Durch uns selbst“ lau­tete die Devise der zeitgenössischen rumänischen Regierung Bratianu, des Vorsitzenden der Libe­ralen Partei, die eine Nationanalisierung der Industrie mit starken autarkistischen Zügen vor­antrieb.

Die Weltwirtschaftskrise wirkte sich aller­dings auf die nach wie vor weitgehend über Agrarexporte an den Weltmarkt aus gelieferten Länder Rumänien, Bulgarien, Polen jugoslawien oder Ungarn verheerend aus. Zwischen 1928 und 1933 sanken die Getreidepreise um 75%, selbst eine Verdreifachung der Exporte konnte die krisenbedingten Einnahmenseinbußen nicht kom­pensieren. Unter solchen Bedingungen war an eine eigenständige Industrialisierung mit aus Agrarexporten akkumuliertem Kapital nicht zu denken. Die Menschen wurden arbeitslos, eine Radikalisierung von unten setzte ein. Die gegen deutsche, österreichische und britische Koloni­alverwalter gepflegte nationale Identität kippte rasch in nationalistische Hetze, die sich nun vor­nehmlich gegen den jeweiligen Nachbarn sowie gegen Zigeuner und Juden richtete. Solcher Nationalismus, verbunden mit offiziell betriebe­ner antikommunistischer Politik, wurde in den 30er Jahren zum Instrument des deutschen Vor­marsches. Jozef Pilsudski in Polen, die Eiserne Garde in Rumänien, Hlinka (und darauffolgend Tiso) in der Slowakei, Horthy in Ungarn ... sie alle benutzten die nationale Rhetorik, die aber nicht verhindern konnte, daß der deutsche Ein­fluß in der Region zunahm, bis er sich Ende der 30er Jahre auch politisch Kolonien schuf.

Die Basis des wirtschaftlichen Kolonialstatus Osteuropas wurde freilich bereits viel früher gelegt. Schon das spätmittelalterliche feudale Herrschaftssystem im Westen erwies sich dem tri­butären osteuropäischen wirtschaftlich überle­gen, grundherrschaftlicher Erfindergeist lohnte sich im Westen, während er im Osten bloß eine Erhöhung der Tributabgaben an Kaiser oder — ab 1453 — an den Sultan nach sich gezogen hätte. Abertausende aufgrund wirtschaftlichen Auf­schwungs mobil gemachter Bauern drängten im Laufe des 13. Jahrhunderts, vom römisch-deut­schen Reich gefördert, in den relativ dünn besie­delten Osten, nach Böhmen und Mähren, Polen und Ungarn. Die katholische Kirche hatte sich bereits vorher der dortigen Schäfchen bemäch­tigt. Mit der deutschen Ostexpansion gelangten nun auch westlich-feudale politische Herr­schaftsverhältnisse in die Länder jenseits der Elbe. Und es entstand jenes Zwischeneuropa, mit dessen über die Jahrhunderte immer wieder wechselnder Zugehörigkeit sich der ungarische Historiker Jenö Szücs in seinem Modell der drei Regionen Europas beschäftigt hat. Die geopoli­tische Labilität Ostmitteleuropas nimmt hier ihren verhängnisvollen Anfang. Die verstüm­melte, unvollständige — wie Szücs sie nennt: hybride — Form der nachholenden Feudalisierung der ostmitteleuropäischen Gesellschaften verun­möglichte indes eine dem Westen vergleichbare Entwicklung. Osteuropa, auch die katholischen Länder, blieben wirtschaftliches Randgebiet. So ist es auch nicht verwunderlich, daß kapitalisti­sche Akkumulation vorerst in einzelnen westeu­ropäischen Zentren unter bestimmten Bedin­gungen stattfand. Eine herrschaftliche bzw. staat­liche Kontrolle des Marktes war dafür unab­dingbar, ein moderner Nationalstaat mit einem klar ab grenzbaren Territorium sowie geistig-reli­giöse Monopolisierung erwiesen sich dafür als notwendig. Die Vereinigten Niederländischen Provinzen, England und später auch Frankreich wurden zu Zentren des von Immanuel Waller­stein beschriebenen „modernen Weltsystems“ an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert.

Sobald jedoch im Westen die entsprechenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Struktu­ren für erfolgreiche Geldvermehrung eingerich­tet waren, peripherisierten sich alle Weltteile, die diesem Austausch angegliedert, aber nicht gewachsen waren. Für Österreich und später das Deutsche Reich, aber auch für die Weltmacht

Nummer eins, England, eröffneten sich Inter­ventionsmöglichkeiten in Osteuropa. Siedlungs­räume für sächsische, niederösterreichische oder schwäbische Landarbeiter und Häusler sowie jüdische Handwerker wurden zwischen dem Kar­patenbogen und dem Balkan erschlossen; die pol­nischen, ostdeutschen und baltischen „Vorwerkswirtschaften“ des 17. Jahrhunderts pro­duzierten auf der Basis von Fronarbeit billiges Getreide für den Weltmarkt. Englands Industrie­arbeiter wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahr­hunderts mit ebensolchem billigem Getreide aus der Walachei ernährt, das von griechischen und später jüdischen Händlern den Bojaren abge­kauft und über die Donau und das Schwarze Meer nach Westeuropa verschifft wurde. Östlich von Böhmen und Mähren war der Kontinent spä­testens im 18. Jahrhundert zum Kolonialgebiet westlicher Staaten und Reiche geworden.

Immanuel Wallerstein ortet auch unter­schiedliche Formen der Arbeitsorganisation in den verschiedenen Zonen der Weltwirtschaft. Im Nordwesten des Kontinents entwickelten sich aus feudalen Herrschaften agrarkapitalistische Unternehmer, die ihr Land mit freier Lohnarbeit bewirtschafteten. In der östlichen Peripherie ließen die Gutsherren per Fronarbeit Leibeigene für den Weltmarkt roboten und sicherten damit den beständigen Surplustransfer ins Zentrum.

Immer wieder mußten die wirtschaftlichen Zugriffsmöglichkeiten auf die (inneren) Kolonien auch militärisch abgesichert werden. So setzte sich 1774 die k. und k.-Armee im Karpatenbo­gen bis in die Bukowina fest. Deutschland „eroberte“ etwa zur selben Zeit Ostpreußen und Teile Polens, England besiegte in Allianz mit Frankreich und Rußland die türkisch-ägyptische Marine und sicherte sich bei der Gründung der griechischen Monarchie 1830 — mit Hilfe hetärisch-nationalrevolutionärer Griechen — einen Brückenkopf am Peloponnes. Nach dem Berliner Kongreß 1878 wurde der Einfluß Wiens auf Bosnien-Herzegowina ausgedehnt.

Widerstand gegen den frechen Zugriff des Westens auf die östlichen Ressourcen blieb nicht aus. Im ideologischen Soge der deutsch-nationa­len Renaissance des Jahres 1848 entstanden Nationalbewegungen der Rumänen, Serben, Bul­garen und Ukrainer, die sich gegen die Statthal­ter des deutschen, österreichischen oder britischen Kolonialreiches (wie auch der osmanischen Herrschaft) wehrten — nicht zuletzt deshalb, weil diese in den Städten ein parasitäres Leben führ­ten. Die Chefs der Niederschlagung dieses Auf­standes sind — von Radetzky über Jelacic bis Schwarzenberg — bis heute identitätsbildende Symbole des Westens und insbesondere in Öster­reich inniglich geliebt.

Dem Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie folgten oben beschriebene nationale Emanzipationsversuche, im „kommunistischen Stadium“ nach 1944/48 konnten sie auf den weltkonjunkturellen Rückenwind der Nach­kriegszeit bauen. Wirtschaftliche und soziale Indikatoren zeigen in den 50er- und 60er Jah­ren steil nach oben (siehe Ost-West-Gegeninformationen 2/94, S. 4). Die Rezession der 70er Jahre, im Kern eine Überproduktionskrise im Zentrum, stoppte dann den Höhenflug der ost­europäischen Entwicklungsdiktaturen. Und trieb in der Folge alle Dollargläubiger, die sich billiges Geld am Kapitalmarkt zum Durchtauchen der Krise ausgeborgt hatten, in die später so genannte Schuldenfalle.

Unter dem Druck der Zinsenlast stellten die KP-Regime die wirtschaftspolitischen Weichen auf Austerität. So gelehrig sich aber die Staats­und Parteiführer auch an die Auflagen des IWF hielten, dem Rumänien im Jahr 1972, Ungarn im Jahr 1982 und Polen im Jahr 1986 beitraten, so wenig konnten sie ihre Haut damit auf die Dauer retten .Denn mit jedem Schritt, mit dem die höch­sten Staats- und Parteifunktionäre auf Anraten des IWF marktwirtschaftliche Reformen voran­trieben, verkleinerten sie die gesellschaftliche Domäne, die ihrer politischen Steuerungsfähig­keit unterlag. Jugoslawien, ein von westlichen Krediten besonders gehätscheltes Land, mußte den IWF-Bedingungen nach der zinssteigernden Staatsnachfrage-Politik in den USA besonders hohen Tribut zollen. Fast 30 Mrd. US-Dollar flössen zwischen 1981 und 1987 an Zinsrück­zahlungen aus dem Land, jeder einzelne Dollar mußte durch Exporte von Rohstoffen, verarbei­teten Produkten oder Arbeitskräften aus den Regionen herausgepreßt werden.

Nach der von IWF und Weltbank erzwunge­nen Preisgabe des politischen Primates war es in den Ländern Osteuropas nur mehr eine Frage der Zeit, bis dem ökonomischen Scheitern des realen Sozialismus sein politischer Zusammenbruch folgte.

Heute stehen die Länder Osteuropas mit über 100 Mrd. US-Dollar bei westeuropäischen und nordamerikanischen Gläubigern in der Kreide, die GUS-Republiken dürfen nochmals einen ähn­lich hohen Schuldenberg abtragen. Ungarn ist mit fast 25 Mrd. US-Dollar das pro Kopf gerech­net höchst verschuldete Land Europas. Seine gesamten jährlichen Exporteinnahmen betragen weniger als die Hälfte der Nettoschulden. Selbst das Reformmusterland Tschechien muß fast 50% seiner Exporteinkünfte für die Schuldentilgung aufbringen, womit noch kein müder Dollar effek­tiv zu rückgezahlt ist. Budgetäre Spielräume ver­engen sich dementsprechend von Halbjahr zu Halbjahr.

Kapital fließt von Ost nach West. So schätzt etwa der Bukarester Ökonom und Mitglied des 1989er-Revolutionsrates Silviu Brucan, daß jähr­lich etwa 15 Mrd. US Dollar aus Zinszahlungen und Amortisationen aus den Budgets des Ostens westliche Kassen zum Klingeln bringen. Private Kapitalflucht kommt hinzu. Allein aus Rußland betrug sie im Jahre 1993 geschätzte 20 Mrd. US- Dollar, 1994 dürfte sie noch höher gelegen sein. Zum Vergleich: Sämtliche Investitionen, die von westlichen Firmen zwischen 1989 und Mitte 1994 in Osteuropa getätigt wurden, brachten vergleichsweise magere 16 Mrd. US-Dollar in die Ökonomien der sogenannten „Reformländer“.

Hoffnung ohne Aufschwung

Erste positive Wachstumsindikatoren nach der Selbstauflösung des RGW werden zur Zeit von allen Wirtschaftsinstituten mit Euphorie heraus­gestrichen. Geschätzte Steigerungen des Brut­toinlandsproduktes zwischen 1994 und 1995 von 1% für Ungarn bis 6% für Polen deuten angeblich darauf hin, daß für die an die EU gren­zenden Länder des Ostens die Talsohle bereits erreicht ist. Für Rußland und die GUS-Republi­ken prognostiziert das WIIW noch auf Jahre hin­aus negative BIP-Werte. Verglichen mit den Ein­bußen der Jahre 1989 bis 1993 ist das aktuelle Plus vor den Wirtschaftsindikatoren allerdings minimal. Das zeigt sich deutlich im Langzeit­schnitt. Nicht einmal Polen hat das Entwick­lungsniveau von 1988/89 erreicht und hält 1994 bei 90% des BIP aus dem Jahre ]988. Die Tsche­chische Republik hat gerade erst 80% des BIP von 1989 erreicht, die Slowakei 78%, Ungarn 83%. In Rußland und der Ukraine steht der klas­sische Wirtschaftsindikator aktuell gar unter 50% des Vorwendeniveaus. Wenn man sich dabei vor Augen hält, daß letztlich ja gerade die wirtschaftliche Krise für den Zusammenbruch 1989 entscheidend war, kann man die langfristi­gen Auswirkungen der ökonomischen und sozia­len Zerstörungen in den Ländern Osteuropas erahnen.

Noch aufschlußreicher als der allgemeine BIP-Indikator, der weder Qualität noch Richtung der Entwicklung anzugeben in der Lage ist, sind Wirtschaftsindikatoren, die von der Produktion ausgehen. Dem vom WIIW konstatierten leich­ten Konjunkturaufschwung in den Ländern Tschechien, der Slowakei, Ungarn, Polen, Bulga­rien und Rumänien steht ein katastrophaler Rückgang der Produktion in Rußland und der Ukraine gegenüber. Während also der industri­elle Abschwung in den sieben erstgenannten Staaten — auf niedrigem Niveau — eingedämmt werden konnte, hält er in den GUS-Republiken unvermindert an. In Rußland brach die Indu­strieproduktion 1994 — verglichen mit dem Jahr zuvor — um weitere 25% (!) ein, in der Ukraine um sagenhafte 38%. Laut WIIW wird auch 1996 der Tiefpunkt noch nicht erreicht sein. Der Dein­dustrialisierungsprozeß, der zwischen 1988 und 1991 in Polen und kurz darauf in allen anderen sogenannten „Reformländern“ stattgefunden hat, ist also in der GUS noch lange nicht abge­schlossen.

Seine Auswirkungen sind auch an der geän­derten Außenhandelsorientierung ablesbar. Durchschnittlich mehr als 50% aller Exporte gehen heute in die EU, woher auch die Mehrheit der Importe kommt. Polen ist mit 63% (Ver­gleichszahl 1989: 32%) seiner Ausfuhren auf die Konjunktur — und den politischen Willen — in Brüssel angewiesen, Slowenien mit 59% und Ungarn mit 51% (1989: 29%). Innerhalb von sechs Jahren fand eine totale außenwirtschaftli­che Umorientierung Osteuropas statt, Rußland bleibt davon ausgenommen. Deutschland ist zum wichtigsten Handelspartner für alle Länder geworden, sein Konjukturaufschwung zur not­wendigen Triebfeder der einzelnen nationalen Entwicklungen.

Exportiert werden arbeits- und energieinten­sive Produkte. Die relativ hohe industrielle Qua­lifikation der Arbeitskräfte in Tschechien, Polen und der Slowakei wird wenig genutzt; die soge­nannten „skilled exports“ gehen sogar zurück. Devisen werden also auf Grund der niedrigen Löhne und der billigen Energiepreise requiriert. Die Energie ist es auch, die in fast allen osteu­ropäischen Staaten nach wie vor staatlich subventioniert wird. Warschau, Prag und Laibach, deren Politiker mehr als andere von „freier Marktwirtschaft“ und „freien Preisen“ reden, stützen die Preise für Strom und Gas. Und ermög­lichen damit private Profite im Exportgeschäft — auf der Basis staatlicher Vorleistungen.

Der größte Wettbewerbsvorteil des Ostens liegt zweifelsfrei in seinem billigen Arbeitskräf­tereservoir. Durchschnittliche Lohnkosten betra­gen zwischen 3% (in Rumänien) und 10% (in Ungarn) eines deutschen Arbeiters und sind den­noch aufgrund des Überangebotes für exportori­entiertes Produzieren nur sehr selektiv verwert­bar. Arbeitslosigkeit wirkt dabei langfristig wei­ter preisdämpfend, löst sie doch am meist weit­gehend deregulierten Arbeitsmarkt harte Kon­kurrenzkämpfe aus. „Die Arbeitslosigkeit hat sich auf relativ hohem Niveau stabilisiert“, faßt Direktor Hawlik die soziale Situation zusammen. Im März 1995 weisen die offiziellen Statistiken zwischen 11% (in Rumänien) und 15,5% (in Polen) aus. Einzig die Tschechische Republik bil­det mit niedrigen 3,1% eine Ausnahme. In Ruß­land und der Ukraine läßt der totale Zusammen­bruch der Produktion derzeit keine seriöse Arbeitslosenstatistik zu.

Nach fünf Jahren ungebremster, brutaler Kapitalisierung sind auch die sozialen Folgen bereits statistisch ablesbar. Aus einer im August 1994 erschienenen UNICEF-Studie geht hervor, daß in vielen Teilen Osteuropas die Lebenser­wartung sinkt. In Ungarn, Bulgarien, Rumänien, der Ukraine und in Rußland sterben männliche Bewohnervergleichsweisejünger als 1989.1993 betrug die Lebenserwartung der Ukrainer/innen um fünf Jahre weniger als vor der Wende; das Ende der Entwicklungsdiktatur kostet den Men­schen fast ein Zehntel ihres Lebens. Die Bürger/innen Rußlands sterben heute durchschnitt­lich um zwei Jahre früher als zu Beginn der Ara Gorbatschow.

Meßbare Einbußen bestehen auch, was die Ernährung betrifft. Überall in Osteuropa sank der durchschnittliche Protein- und Kalorienver­brauch zwischen 1989 und 1992; in der Ukraine um ein Zehntel (!), in Rußland um 9%, in Bul­garien und Polen um 5% - 8 %, in Tschechien um dreieinhalb, in Ungarn um eineinhalb Prozent. Selbst in Rumänien, das unter Ceausescus Herr­schaft in Westeuropa als „ Hungerland“ galt, hat der Durchschnitt der Bevölkerung fünf Jahre nach der Wende um knapp 2% weniger zu essen als davor.

Mögliche Auswege aus dieser nach unten wei­senden Spirale sind wegen des fortschreitenden Konkurrenzverhältnisses der einzelnen Volks­wirtschaften zueinander — bezogen auf den EU- Markt — vorderhand nicht in Sicht. Die schon aus der außenwirtschaftlichen Verflechtung ables­bare enge Verknüpfung aller osteuropäischen Staaten — mit der bereits beschriebenen Aus­nahme Rußlands inklusive seines GUS-Einflußgebietes — mit dem Kernländern der EU, insbe­sondere mit Deutschland, erhöht zudem die Abhängigkeit von Westeuropa. Eigenständige Entwicklungsoptionen wie nationale Alleingänge oder Ost-Ost-Kooperationen sind vor diesem Hintergrund wenig wahrscheinlich. Außerdem wird jeder solche Versuch mit dem kompletten Instrumentarium liberaler Propaganda als natio­nalistisch bzw. altkommunistisch diffamiert.

Auch der eventuell eintretende verschärfte Konkurrenzkampf zwischen den kapitalistischen Zentren Westeuropa, Nordamerika und Ostasien bietet nur bedingt Chancen für osteuropäische Selbständigkeit als Voraussetzung für die Ent­wicklung eines eigenständigen Akkumulations­kreislaufes — zumindest solange es den fortgeschrittensten ökonomischen Kräften im Zentrum gelingt, den Druck der weltweiten Strukturkrise auf die jeweiligen Randgebiete weiterzugeben.

Gegenstrategien zur weiteren Peripherisierung Osteuropas bedürfen jedenfalls des Willens zur Herstellung eines außerhalb der EU funktio­nierenden Wirtschaftskreislaufes. Ob dies mit und durch eine eigene bürgerliche Mittelschicht oder kollektive (inter)nationale Strukturen in Angriff genommen wird, ist dabei fast schon zweitrangig. Vorderhand ist die Entstehung einer starken Mittelschicht nicht absehbar, und kol­lektive Lösungsansätze sind innerhalb der Län­der Osteuropas seit dem Zusammenbruch des Nomenklatura-Systems nach wie vor verpönt. Daß neues Zutrauen zum kollektiven wirt­schaftlichen Aufbau und damit zur Herstellung eines selbständigen Akkumulationskreislaufes gefaßt wird, ist angesichts mancher Wahlergeb­nisse in osteuropäuscheri Ländern allerdings nicht für alle Zukunft ausgeschlossen. Die Hoff­nung also bleibt.

Literatur

  • Crisis in Mortality, Health and Nutrition. Eco­nomic in Transition Studies. Regional Monito­ring Report (UNICEF-Studie), 2/94, Florenz.
  • Hannes Hofbauer, Von der Entwicklungsdik­tatur zur Westintegration; in: BUKO-Arbeitsschwerpunkt Rassismus und Flüchtlingspolitik (Hg.), Zwischen Flucht und Arbeit. Neue Migra­tion und Legalisierungsdebatte. Hamburg 1995.
  • Friedrich List, Das nationale System der poli­tischen Ökonomie. Berlin 1930 (1841).
  • Mihail Manoilescu, Theorie du protectionisme et de Rechange international. Paris 1929.
  • Jenö Szücs, Die drei historischen Regionen Europas. Frankfurt/Main 1990.
  • Immanuel Wallerstein, Das moderne Weltsy­stem. Die Anfänge der kapitalistischen Land­wirtschaft und die europäische Weltökonomie im 16. Jahrhundert. Frankfurt/Main 1986.
  • Wiener Institut für internationale Wirtschafts­vergleiche, Research Report Nr. 219/Juli 1995. Wien.

[1Wir beschränken uns in diesem Beitrag aus­schließlich auf den europäischen Teil des „Ostens“.