Industriepolitik? Arbeitsplätze schaffen?
Die österreichische Politik bewegt sich auch im neuen Jahr zwischen Illusion und Angeberei, wenn es um ihre Hauptaufgabe geht, den Moloch Marktwirtschaft mit seinen unheilbaren Geschwüren Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Ausbeutung und Finanzspekulation nicht nur durch staatliche Eingriffe am Funktionieren zu erhalten, sondern seine Entwicklung auch zu beeinflussen. Letzteres war seit Jahren vergeblich, wofür im folgenden eine Auswahl von Zeugen beigebracht wird.
Diese Ratgeber aus Wirtschafts- und Sozialwissenschaft haben seit Jahren vorgerechnet, was aufgrund der herrschenden Praktiken passiert: der Konkurs aller bisherigen Versuche irgendwelcher Wirtschafts„politik“, die den Lebensbedürfnissen der Menschen nachhaltig Vorrang geben könnte. Wirtschaftspolitik passiert lediglich als Zulieferer für die Profitwirtschaft.
Die Wirtschaft wächst
Die Wirtschaft wächst, auch die reale Wertschöpfung der Industrie, stellten die österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitute WIFO und IHS in ihrer jüngsten Prognose übereinstimmend fest, auch wenn ihre Daten im Detail voneinander abweichen. Übereinstimmend die Tendenz sinkender Massenkaufkraft und Beschäftigtenzahlen sowie steigender Arbeitslosigkeit.
Laut WIFO beträgt der Zuwachs an Wertschöpfung 1996 2,5 Prozent und wird für 1997 mit 2,7 Prozent prognostiziert. Das IHS kommt auf 2,9 bzw. 3,1 Prozent. Auf jeden Fall wächst das Bruttoinlandsprodukt, und zwar von 2352 Mrd. 1995 auf 2421 und 2496 Mrd. (IHS) bzw. auf 2411 bzw. 2477 Mrd. (WIFO). Die Teuerungsraten bewegen sich zwischen 1,6 und 1,9 Prozent.
Die Bruttolohnsumme wird 1997 laut IHS um 2 Prozent auf 1278 Milliarden steigen (1988-96: 51,4 Prozent), die Einkommen aus Besitz und Unternehmen um 3,8 Prozent (65,9 Prozent) auf 700 Milliarden. Das Wachstum der Abschreibungen um 3,8 Prozent (64,1 Prozent) auf 331 Milliarden wird weiterhin rascher vor sich gehen als das Wachstum der Wirtschaft und signalisiert ebenfalls gute Geschäfte. Die Arbeitsproduktivität (je aktiv Beschäftigtem) stieg laut IHS 1996 um 1,7 Prozent und wird 1997 um 1,6 Prozent wachsen, das WIFO nimmt für 1996 und 1997 eine Steigerung der Produktivität je Erwerbstätigem von je 1,5 Prozent an, die Steigerung Stundenproduktivität (Produktion je geleisteter Arbeiterstunde) allerdings um 4,5 bzw. 5 Prozent.
Dennoch: Die schwache Inlandsnachfrage bremst Aufschwung und Konjunktur. Die Realeinkommen setzen 1996 mit -0,2 Prozent, 1997 mit -0,4 Prozent ihre Schrumpfung fort. Die Lohnquote, 1988 noch auf 70,58 Prozent, fiel bis 1996 auf 67,62 Prozent und wird 1997 auf 67 Prozent zurückgehen. Ab 1997 sind neue Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen angekündigt. In einigen Industriebranchen wird die Produktion weiter sinken (Textil, Bekleidung, Möbel u.a.), die Bauproduktion wird sich nicht erholen, der Arbeitsmarkt nicht entlastet, die Arbeitslosigkeit von 7,1 auf 7,5 Prozent der Unselbständigen steigen (nach EU- Methode von 4,0 auf 4,2 Prozent), melden die WirtschaftsforscherInnen.
„Sieben von hundert Menschen sind nicht beschäftigt — 93 haben Arbeit!“ versuchte kürzlich ein hoher Beamter aus dem Sozialministerium das Thema Arbeitslosigkeit herunterzuspielen. Dieser Gag ist doppelt zynisch: Die Zahl der von Arbeitslosigkeit im Laufe eines Jahres Betroffenen hat nichts mit der Zahl der durchschnittlichen Arbeitslosigkeit (1996: 231.000, 1997 244.000) zu tun, sondern ist um ein Vielfaches höher. In Österreich nähert sie sich der Millionengrenze. Außerdem nehmen Dauer und Zahl der Langzeitarbeitslosen zu.
Auf der anderen Seite nähern sich die Geldvermögen der Vier-BillionenSchilling-Grenze (4000 Milliarden, fast das Doppelte des Bruttoinlandsprodukts eines Jahres). Davon entfällt nur rund ein Viertel auf Konten „kleiner“ Sparer, und dieser Anteil wird zur Zeit auffallend kleiner, denn die Auswirkungen des Belastungspakets wurden durch Sparschweinschlachten gemildert. Wurden 1995 von sämtlichen verfügbaren persönlichen Einkommen noch 200 Millarden „gespart“, waren es 1996 nur mehr 182 Milliarden und für 1997 werden laut WIFO gar nur 158 Milliarden auf die Sparbüchln abgezweigt. Bei der Investitionstätigkeit gibt es zaghafte Steigerungen, melden WIFO und IHS, die Bauinvestitionen sind aber weiterhin mäßig.
„Mächtige Kräfte“
Österreich könne als Mitglied des Binnenmarktes und Hartwährungsland keine grundlegend andere Wirtschaftspolitik betreiben als die führenden europäischen Industrieländer, stellte der oberösterreichische AK-Präsident Fritz Freyschlag erst kürzlich bei der 13. Ruster Tagung des Verbandes der Gemeinwirtschaft (Thema: Arbeitslosigkeit und Beschäftigungspolitik) fest. Die wirtschaftspolitische Steuerungsfähigkeit der einzelnen Staaten habe durch den Binnenmarkt abgenommen. Wenn keine EU-weit abgestimmte Politik dagegengesetzt wird, seien weitere Verschlechterungen der Einkommensverteilung die Folge, daher auch keine Lösung der Budgetprobleme, Schwächung der Binnennachfrage — die Spirale von Verschlechterung des Lebensstandards trotz wachsenden Reichtums, des Sozialabbaus trotz steigender Arbeitsproduktivität, der weiteren Globalisierung der Märkte, des uneingeschränkten Transfers von Geld und Standorten, wachsender Unsicherheit und Arbeitslosigkeit.
„Das Ende der Systemkonkurrenz bedeutet nicht das Ende der Systemdebatte“, meinte der IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel auf einer sozialpartnerschaftlichen industriepolitischen Tagung im Mai 1995 in Stuttgart und steckte gleich die Grenzen der Debatte ab: „Es geht nicht um Alternativen zum Kapitalismus, sondern um Alternativen im Kapitalismus.“ Ziel sei die Harmonie langfristiger Gewinninteressen mit den Bedarfsinteressen, ein neues wettbewerbspolitisches Leitbild, die Demokratisierung des Arbeitsalltags, die öffentliche Gestaltung industriepolitischer Zukunftskonzepte, ein neues verteilungspolitisches Leitbild. Zwickels Worte mögen in Gottes Ohr gelangt sein — die Ohren sowohl der Industrie als auch der Politik können damit nichts anfangen.
Die Frage ist berechtigt, wie weit und ob überhaupt unter den gegenwärtigen Bedingungen Industriepolitik möglich ist. Die EU-Kommission hat in ihrer Mitteilung vom 22. März 1995 zur Stärkung der industriellen Wettbewerbsfähigkeit festgestellt, daß die Aktionsprioritäten wohl Sache der Unternehmen seien, die öffentliche Hand jedoch die Voraussetzungen zu schaffen habe. Es bestünden zwar Anforderungen des öffentlichen Interesses, doch die Wahl der Mittel zur Umsetzung sei der Industrie zu überlassen. Wettbewerbsfähigkeit könne nur gekräftigt werden, wenn sie die Staaten nicht durch nationale Regelungen einengen. Erweitern darf der Staat natürlich — damit sind durchaus nicht nur öffentliche Investitionen gemeint, um Infrastruktur und andere Rahmenbedingungen zu finanzieren, oder Steuerbefreiung von Jungunternehmern für drei Jahre, wie es der liberale Wiener Ex-Spitzenkandidat Bachmayer verlangt hatte.
Der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) beklagte auf seinem Kongreß in Brüssel 1996, daß in Westeuropa Aushöhlung der Tarifverhandlungen und des Streikrechts durch Gesetze und Behinderungen durch Unternehmer auf der Tagesordnung sind. Das ist nur die westeuropäische Erfahrung aus dem Globalisierungsprozeß. Das in jahrelangem Feilschen um die Nachfolge des GATT entwickelte Konzept der WTO (Welthandelsorganisation) ist Ergebnis einer Wirtschaftspolitik, in der das vernetzte Finanzkapital die Regierungen vor sich hertreibt.
Auf diese Weise „werden die Arbeitsplätze und das Entgelt der Beschäftigten, die Bedingungen und die Beschäftigungsverträge sowie die gewerkschaftliche Verhandlungsstärke zusehends vom verstärkten weltweiten Wettbewerbsdruck unterminiert, der selbst grundlegende Menschenrechte gefährdet. Die Rechte der Arbeitnehmerschaft und selbst die Demokratie sind durch mächtige Kräfte (?) gefährdet, die beim Streben nach Gewinnmaximierung und Marktanteilen bereit sind, Beschäftigte zu opfern.“
„Die Globalisierung der Weltwirtschaft wird von transnationalen Gesellschaften (TNG) angetrieben (...) Die von ihnen getroffenen Entscheidungen haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Volkswirtschaft, die Arbeitsplätze, den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen, und lassen häufig die sozialen Folgen außer acht (...) Die Globalisierung und eine dauerhafte politische Kampagne zur Schwächung (...) von Gewerkschaften haben das Verhandlungsklima generell zugunsten der Wirtschaft und insbesondere der Hochfinanz verlagert.“ (IBFG-Kongreß 1996.) Die sozialdemokratisch dominierte Gewerkschaftsinternationale hegt also keine Illusionen darüber, wer in der Welt das Sagen hat.
Spirale abwärts
Keine Frage, daß die bisherige Politik in den Industrieländern — egal von welchen Parteienkonstellationen beherrscht — nicht bereit oder imstande war, diesen Entwicklungsprozeß zugunsten der Menschen nachhaltig zu beeinflussen. Und schon gar nicht ist diese Weltwirtschaft und Weltpolitik den eigentlichen globalen Problemen nähergekommen. 700 Millionen Erwerbsfähige nicht produktiv beschäftigt, 200 Millionen Kinder unter fünf Jahren akut unterernährt, IWF und Weltbank berücksichtigen nach wie vor nicht den Zusammenhang zwischen Wirtschaftspolitik und sozialer Entwicklung, zitiert der IBFG die ILO und nennt als Wurzeln unter anderem Liberalisierung, Krisenmanagement, Druck der großen Wirtschaftsmächte, Versagen der Koordination von Politiken zwischen einzelnen Ländern, Vormacht der Finanzspekulation — also bereits wieder ein Konglomerat von betriebs- und konzernökonomischen Aktivitäten bzw. des Finanzkapitals einerseits und solchen Folgen aus Aktivitäten oder Versäumnissen, die den politischen Ebenen (Staaten, EU usw.) zuzuordnen sind.
Wenn man noch die zunehmende millionenfache Armut in den entwickelten Industrieländern berücksichtigt, muß sich der globale Kapitalismus trotz des aufreizenden Reichtums einer dünnen privilegierten Schicht das Prädikat Mangelwirtschaft gefallen lassen. Ein anderes wenig schmeichelhaftes Prädikat kommt unter diesem Aspekt den Theorien von einer „gerechten Verteilung der vorhandenen Arbeit“ zu, die von bürgerlich-liberalen „Denkern“ kommen und grünbemooste Häupter wie leider auch schon Gewerkschaftskreise infiziert haben. Wie soll jemand, der sich — unter Mißdeutung des Solidaritätsbegriffs — auf die Ebene der Umverteilung innerhalb der Lohnabhängigen und des Sozialsystems begibt, zugleich wirksam die Umverteilung vom Kapital zur Arbeit oder des Spekulationskapitals zu gesellschaftlich und ökologisch vordringlichen Investitionen betreiben? Und wie sollen die Menschen zu möglichst breiter gemeinsamer Aktion fähig werden, wenn man sie zur gleichen Zeit gegeneinander ausspielt — Arbeitslose gegen Arbeitsplatz„besitzer“, Ältere gegen Jüngere, ja sogar innerhalb von Lohn- und Gehaltsgruppen. Eine Lösung der tatsächlichen Probleme wird somit ferner denn je.
Wenn unter diesen Begleiterscheinungen jemand — wie der Gewerkschafter Klaus Zwickel — auf die Gefahr verweist, die Wirtschaft könnte Vorherrschaft über die Politik bekommen, dann blinzelt er voll daneben. Wann jemals in der neueren Geschichte hat sich die Politik so hilflos den „mächtigen Kräften“ des Kapitals untergeordnet? Übrigens hat in »Weg und Ziel« (2/1994) bereits Hans Kalt zur Frage „Industriestandort Europa in Gefahr?“ Stellung genommen. Ohne seinen Beitrag zu wiederholen, seien einige Stichworte angeführt:
Die Veränderung von Standortbedingungen ist wesentlich für die wirtschaftliche Entwicklung, hier sind jedoch viele Faktoren maßgebend, abgesehen von der Verfügbarkeit von akkumuliertem Kapital und „freier“ Arbeitskraft, zunehmend die Infrastruktur. Die kapitalistische Wirtschaft ist nur durch staatliche Eingriffe funktionsfähig. Aus Europa verlagert sich die Rohstofferstverarbeitung zu den Fundregionen, das wird durch differenzierte Weiterverarbeitung ausgeglichen. Europa hat durch dichte Infrastruktur und qualifizierte Arbeitskräfte Standortvorteile. Die Verlagerung von Produktionen nach Mittelosteuropa, wo es Arbeitsbereitschaft zu niedrigen Kosten gibt, ist mit einer Offensive gegen die soziale Lage verknüpft.
In seinem Buch „Ist die Wirtschaft noch zu steuern?“ schreibt Kalt: Es ist „am wahrscheinlichsten, daß sich der ökonomische Reproduktionsprozeß auch in den hochentwickelten Ländern dem Zustand der Dauerdepression nähert. Dabei kann durch partielle Wirkung von Regulierungsmaßnahmen in Teilbereichen auch vorübergehend eine Aufwärtsentwicklung eintreten (...) Jedenfalls wird weiter kennzeichnend sein: Stagnation der Produktion, andauernde oder sogar weiter zunehmende Belastung zugunsten des überakkumulierten Finanzkapitals, weiter zunehmende Arbeitslosigkeit.“
Und die etablierte Wissenschaft?
Eines haben die Wirtschafts- und SozialwissenschafterInnen der Politik voraus: Sie brauchen keine Angst davor zu haben, abgewählt zu werden. Im Gegenteil. Je weniger soziales Gewissen, desto höher dotiert und desto sicherer sind sie, am Privilegienkuchen der Gesellschaft tüchtig mitnaschen zu dürfen. Ungebrochen die Hegemonie des bürgerlich-kapitalistischen Denkens, aus der stets neue Legionen von Wirtschaftstheoretikern (kaum ein Wissenschaftsbereich hat noch eine derart geringe Frauenquote!) hervorgehen. Seit der Ablösung der keynesianischen Varianten des Funktionierens (und bedingten Steuerns) nationaler wie internationaler Kapitalpraktiken durch radikalere, brutalere, „liberale“ Praktiken und insbesondere seit Zerschlagung des alternativen Wirtschaftsund Sozialsystems in Mittelosteuropa hat sich die Wirtschaftswissenschaft — zumindest jener Teil davon, der über Medien und politische Kommunikationsebenen öffentlich bekanntgemacht wird — völlig auf die Seite des globalen Marktkapitalismus geschlagen. Diese Elite begnügt sich mit der Beschreibung dessen, was schon passiert ist, mit möglichen kurzfristig absehbaren Variationen oder mit der Weiterentwicklung von mathematischen Modellen zur mehr oder weniger genauen — wen kratzt das schon! — Prognose bevorstehender Lohn-Preis-Profit-Relationen sowie zur wissenschaftlichen Untermauerung von Forderungen des Kapitals bzw. der Unternehmerorganisationen.
Von der Industrie und dem Finanzkapital gehätschelt wird gegenwärtig der Wirtschaftsprophet John Naisbitt, dessen zehn „Megatrends“ der Entwicklung auf der unkritischen Akzeptanz des globalisierten Brutalismus beruhen: Wie frohlocken doch die TNG über solche Prophezeiungen wie die „Beseitigung der Auswüchse des Wohlfahrtsstaates“, die „Deregulierung und Reduktion der Steuern“, die „Honorierung und Förderung von Unternehmerfähigkeiten“. Und weil es neben den TNG noch den notwendigen Markt der (zuliefernden und abhängigen) Kleinunternehmer und Dienstleister geben muß, sind laut Naisbitt, je größer die Weltwirtschaft, „desto mächtiger ihre kleinsten Mitspieler“, die Klein- und Mittelbetriebe.

Übrigens schlägt sogar der einst als links-sozialdemokratisch gestempelte Sozialwissenschafter Ernst Gehmacher in eine ähnliche Kerbe, wenn er kürzlich angesichts des Imageverlustes der (Spitzen)Politik behauptete, in Zukunft „hat die Politik der kleinen Taten eine Chance“ und „wird zum alltäglichen Konsumartikel. Der Boom der Magazine und Talkshows deutet darauf hin.“ Die Entscheidungsebenen rücken immer weiter auseinander — in der Wirtschaft geographisch durch die Globalisierung und strukturell durch neue Organisationsformen der Konzerne, und in der Politik nach Brüssel —, aber das nächste Wirtshaus ist ja gleich um die Ecke.
Was Gehmacher als Vision von der kleinen, aber ach so schönen Politik auf den Tisch legt, ist bei Naisbitt die Zerbröselungstheorie vom Ersatz der Nationalstaaten durch neue Netzwerke, die von Unternehmen aufgebaut werden, und ist der Hinweis auf die asiatischen Gesellschaften: „Die brauchen kein Sozialsystem, weil sich die Familien um ihre Mitglieder kümmern.“ Man erinnert sich: Die soziale Kompetenz in der EU liegt nicht in Brüssel, sondern in den immer weniger dazu fähigen Nationalstaaten. Der österreichische Familienminister — ein erfolgreicher Unternehmer — wird den Familien von Nachtarbeitenden, Handelsbeschäftigten und in Zwangsarbeit gejagten Arbeitslosen schon sagen, wie sie mit den Problemen fertigwerden.
Was sehen WIFO und IHS als Möglichkeiten österreichischer Politik für Industrie und Beschäftigung? Ungeachtet der Widersprüche innerhalb der EU und der Zweifel an der Realisierbarkeit der Maastricht-Kriterien schwärmen beide Institute — rein wissenschaftlich — im Tonfall der Industriellenvereinigung: Die WWU werde uns helfen, denn „wir haben die Lohnsteigerungen besser im Griff als andere Länder“ (Walterskirchen, WIFO). Die Lohnfindung sei Gottseidank nicht mehr an der Produktivität orientiert (die steigt wesentlich rascher als die Löhne), das werde den Unternehmern mehr Luft verschaffen für Umstrukturierungen, denn die Lohnpolitik sei das entscheidende Instrument für die Anpassung. Aber nicht nur der Lohn, auch alle Steuern und Abgaben seien zu überprüfen (Felderer, IHS).
Einer scheint über das Kuckucksnest zu fliegen: Die österreichische Lohnpolitik (Herbst 1996) habe sehr wohl Rücksicht auf den Wettbewerb genommen, denn die Erhöhung (der Metaller-Löhne) liege etwa in der Höhe der Inflationsrate und betrage ein Viertel der für 1997 prognostizierten Produktivitätssteigerung — somit verblieben drei Viertel des Wertzuwachses den Unternehmen (Guger, WIFO).
Für einen „Kapitalismus mit menschlichem Antlitz“ macht sich Prof. Herbert Walther (WU Wien) stark und warnte u.a. bei der erwähnten Tagung der Gemeinwirtschaft vor einer „Nachäffung amerikanischer Verhältnisse (Flexibilisierung! Flexibilisierung!)“, die „viele produktivitäts- und wohlfahrtsrelevante Vorzüge unseres Arbeitsmarktregimes zerstören“ würde. Sein frappierend einfacher Ausweg aus diesem Dilemma ist, „über wirksame (das heißt notfalls auch schmerzlich spürbare) Anreizmechanismen ein diszipliniertes Lohnverhalten im Aufschwung (...) zu erzwingen“. Auch er definiert Lohnpolitik als „eines der wenigen wirtschaftspolitischen Instrumente der Beschäftigungspolitik“, weil für ihn die Verteilungsrelationen Lohnquote/Gewinneinkommen unantastbar sind und damit die Unmenschlichkeit des Kapitalismus.
Profit oder Menschenrechte
Die Praxis: Der »Standard« brachte am 4. November 1996 den Bericht über die Praktiken „der hochprofitablen Semperit Holding AG“ in Thailand, wie sie deren Chef Rainer Zellner österreichischen Journalisten präsentierte: „Bei freier Kost und Quartier (?) beträgt der Verdienst pro Acht-StundenSchicht (...) zirka 67 Schilling (...) Von 1993 bis 1996 konnte der Umsatz (...) nahezu verdreifacht werden. Während sich österreichische Unternehmen mit einer Umsatzrendite von drei bis fünf Prozent begnügen müssen, offeriert Zellner in Thailand zwischen 13 und 16 Prozent. Sollten diese Gewinnspannen nicht mehr möglich sein, hat Zellner keine Skrupel, das Werk zu schließen und wo anders neu zu beginnen. ,Die Investitionen haben wir bereits jetzt dreimal verdient.‘“
Das Kapital stampft Menschenrechte nieder, wenn es die entsprechenden Prozente herausholen kann, hatte schon Karl Marx herausgefunden. „Die Empfänger von Zinseinkommen sind bedeutender als je“, argumentierte kürzlich Wirtschaftsprofessor Streissler (Uni Wien) mit deren angeblich großer zahlenmäßiger Bedeutung und verlangte in einem »Presse«-Kommentar angesichts „der dank der modernen Medizin errungenen Vergreisung der Bevölkerung“ den Weg „zurück im Sturmschritt ins 19. Jahrhundert“. Ob er zur Sicherung arbeitsloser Zinseinkommen den Rückzug der modernen Medizin anregt oder die Liquidation des Pensionssystems, ist vom humanistischen Gesichtspunkt dasselbe.
Aber er bekam es ein paar Tage später mit einer Gegentheorie von Professor Tichy (Uni Graz) zu tun. Nicht zurück ins 19. Jahrhundert, sondern mit mutiger Reform ins 21. Jahrhundert, bot er seinem Kollegen die Stirn. Und mutig schlägt er unter anderem die Erhöhung des Pensionsalters, die Reduzierung der Pensionshöhe auf 50 Prozent der Höchstbeitragsgrundlage usw. vor.
Das ließ dem Staatsschuldenprofessor Frisch (TU Wien) keine Ruhe. Er verfaßte eine Replik, die am 4. Jänner 1997 an derselben Stelle in der »Presse« erschien und ihn als Dritten im Bunde ausweist: Er beschwört die Unzufriedenheit mit dem Wohlfahrtsstaat vom Gesichtspunkt des „subjektiven Gefühls, jeder zahle mehr in den Topf ein als er bekommt“ und bestätigt die Reformwünsche seiner Kollegen gegenüber dem Pensionssystem zur „Anpassung des Leistungsrechts an die neuen wirtschaftlichen Umstände“.
Nun wiederum fühlte sich Streissler bemüßigt, ein Schäuferl Zynismus nachzulegen (»Presse«, 7. Jänner 1997): unter anderem werden in Europa die Löhne (für „Hilfsarbeiter“ unter das Existenzminimum) sinken, um Arbeitsplätze zu sichern und die staatliche Krankenversicherung „auf die Großausgaben des Kranken beschränkt werden müssen“.
Über die Unantastbarkeit des Profitsystems mit all seinen Auswüchsen und natürlich auch der parasitären Zinseinkommen dürften die drei Herren — als bedeutende Empfänger — mit dem Finanzkapital konform gehen. Alternativen zur Spirale nach unten sind von ihnen nicht zu erwarten.
Gewerkschaften: Matte Gegenwehr
Die Anforderungen an politisches Handeln gehen hier allerdings von den politischen Parteien auf andere Subjekte über: die Gewerkschaften als Gegenpol zur Unternehmerpraxis. Das Kapital bedarf ja nicht unbedingt politischer Organisationen oder Interessenvertretungen, um zu funktionieren; die oben erwähnte Hegemonie funktioniert und reproduziert sich über den Staat. Politisches Handeln der Lohnabhängigen braucht hingegen ein Mindestmaß an Organisiertheit, an kollektiver Interessenvertretung, um sich gegenüber dem Kapital durchzusetzen, ob dieses sich an einen Tisch setzen will oder nicht.
Was InteressenvertreterInnen zu sagen haben oder vielleicht auch in der Praxis umzusetzen versuchen, ist daher wichtig. Von Wirtschaft und Wissenschaft als angeblichen Faktoren zur Sicherung von Industrien und Arbeitsplätzen strapaziert werden unentwegt die Lohnkosten, und dabei wird die Phrase von den „Nebenkosten“ täglich heruntergeleiert. Es komme auf die Berechnungsmethode an, zeigte Fritz Freyschlag auf der bereits zitierten Ruster Tagung. So betragen die Lohnnebenkosten nur mehr 67 Prozent, wenn Urlaubs- und Weihnachtsgeld rechtens zu den Lohnkosten gerechnet würden. „Für die Wettbewerbsfähigkeit sind ohnehin nur die gesamten Arbeitskosten plus Produktivität und Wechselkursdifferenzen maßgeblich, die Lohnstückkosten — und da liegt Österreich um 20 Prozent niedriger als der Exportweltmeister Deutschland!“
Was Freyschlag den Wissenschaftern vorhalten kann, sind die tatsächlichen Ursachen für Wirtschaftsprobleme: die Entwicklung der Realzinsen führt zu Kapitalmarktanlagen statt Anlagen in Sachkapital; aufgrund schwächerer Interessenvertretungen bei hoher Arbeitslosigkeit und langsamer steigenden Löhnen eine Umverteilung zu den Gewinnen, die nicht in Sachkapital investiert, aber steuerentlastet werden; zusätzliche Schwächung der Nachfrage durch die Budgetpolitik.
Was aber vernimmt man kurz vor dem Jahreswechsel aus dem Lager von ÖGB und AK? Dort hat man sich mit dem Maastricht-Diktat und den Richtlinien der offiziellen Wirtschaftswissenschafter wohl schon abgefunden, denn in der „Briefschule“ werden Betriebsräte, Gewerkschafter und AK-Räte usw. orientiert, daß „den Mitgliedsstaaten als einziges Instrument, mit dem sie wirtschaftliche Schocks und konjunkturelle Schwankungen ausgleichen können, die Lohnpolitik“ verbleibe. Daher sei die „Reallohnflexibilität“, die in Österreich „aufgrund der Sozialpartnerschaft“ höher sei als in den meisten anderen europäischen Ländern, so wichtig.
Tröstlich zu hören, daß ÖGB-Präsident Verzetnitsch zum Jahreswechsel offensive Strategien verlangte: „Ein Europa, das das Vertrauen seiner Bürger braucht, muß endlich wieder Wirtschaftspolitik machen (...) Was nützen sinkende Budgetdefizite, wenn in Europa 20 Millionen ohne Arbeit sind.“ Die Einführung des Euro könne nur Unterstützung finden, wenn es zu einer für die Bevölkerung erlebbaren und nachvollziehbaren Beschäftigungspolitik komme. Der EGB werde am 28. Mai einen europaweiten Aktionstag für mehr Beschäftigung veranstalten. Und dann?
Gibt es also Gegenstrategien? Wenn schon nicht zum Kapitalismus, dann wenigstens im Kapitalismus als Reformbewegungen? Ein gegen den Strom schwimmender Wissenschafter, Stefan Schulmeister vom WIFO, in den letzten Monaten oft zitiert und auch von Gewerkschaften und Arbeiterkammern häufig eingeladen, beweist die Gefahren des gegenwärtigen globalen Wirtschaftskurses mit Lohnsenkung, Sozialabbau und anderen „Flexibilisierungen“ als Spirale nach unten und bietet Argumente für eine kämpferische Reformpolitik. Doch die muß erst einmal gewollt werden.
Gegenstrategien
Auf einige kritische Positionen und Gegenstrategien ist zu verweisen, weil nunmehr innerhalb der EU der Kampf um Arbeitsplätze, soziale Sicherheit und gegen Lohndumping voll einsetzen muß.
Scharfe Kritik übte der DGB an der oben zitierten Mitteilung der EU-Kommission, die eine Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit nur über Kostensenkung vorsehe und im übrigen keine konkreten Maßnahmen und Vorschläge entwickelt habe. Es bleibe völlig offen, wie eine aktive Industriepolitik mit den herrschenden wettbewerbspolitischen Erfordernissen in Einklang zu bringen sei. Der faktische Verzicht auf die Einhaltung sozialer und Umweltstandards sei völlig unakzeptabel. Enttäuschendster Abschnitt sei jedoch der über den öffentlichen Sektor, zu dem es eine Vielzahl ideologisch geprägter Aussagen statt des Hinweises auf Möglichkeiten der Nachfragelenkung durch öffentliche Aufträge in den Bereichen Verkehr, Energie und Umwelttechniken gebe. Der Staat einschließlich der Länder und der EU müsse die Schlüsselfunktion für eine Industriepolitik behalten.
Klaus Zwickel, ebenfalls oben bereits zitiert, bezeichnete die MaastrichtKriterien als „künstliches Hemmnis für Beschäftigungspolitik“ und meinte, Maastricht II müsse so vorbereitet werden, daß bis zum Jahr 2000 tatsächlich 15 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen würden. In der Aufzählung der notwendigen Schritte findet sich auch ein neues verteilungspolitisches Leitbild: Statt skrupellosem Zugriff auf die unteren Einkommen müsse es einen Zugriff auf die Höchsteinkommen geben, andererseits wäre durch währungspolitische Abstimmung die Devisenspekulation zu beenden — das Spekulationskapital übertrifft mittlerweile auch in Österreich bereits das Bruttoinlandsprodukt eines ganzen Jahres.
Der IBFG hatte auf seinem Kongreß im Juni 1996 in Brüssel in mehreren Dokumenten aktive Beschäftigungspolitik gefordert und auf die Erfüllung der beim Kopenhagener Weltsozialgipfel 1995 formulierten Ziele gedrängt. Dem öffentlichen Sektor stehe eine besondere Rolle zu. Steigende Kaufkraft, ausreichende staatliche Dienste im Bereich der Gesundheit, der sozialen Sicherheit und der Bildung seien auszubauen. Sozialklauseln im Welthandel (ohne Mißbrauch zu protektionistischen Maßnahmen) könnten Löhne, Kaufkraft und Produktivität weltweit steigern. Die weltweite Zusammenarbeit der Gewerkschaften vor allem in den Transnationalen Konzernen müßte internationale Kampagnen, Streiks und Boykottmaßnahmen möglich machen.
Der österreichische Publizist Hubert Feichtlbauer, wahrlich kein „Linker“, meinte in einem Gastkommentar in der »Presse« am 10. Oktober 1996 unter dem Titel „Weltweit für höhere Löhne kämpfen“: Die Wettbewerbsbedingungen seien durch höhere Löhne in den Konkurrenzländern anzugleichen, nicht umgekehrt. Auch er zitierte John Naisbitt, der gesagt habe, die Zeit der Billiglohnwanderungen sei ohnehin vorbei, denn der Anteil der Arbeitskosten an der Weltproduktion habe 1970 noch 25 Prozent betragen, heute aber nur mehr vier Prozent. Feichtlbauers Schlußfolgerung: Arbeitsplätze seien nicht durch Sozialabbau zu schaffen, sondern durch Sozialaufbau in den Konkurrenzländern.
Zu erwähnen wäre noch der Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (Beigewum), dessen jüngste Studie „Was hat der Euro mit den Arbeitslosen zu tun?“ wohl eine wertvolle Analyse bringt, als Alternative aber nur fromme Wünsche formuliert.
Wirtschaftspolitik alternativ
„Die wahrscheinlichste Variante der weiteren ökonomischen Entwicklung ist, daß jeweils ausgehend von den drei Weltfinanzzentren eine regionale Regulierung erfolgen wird. Dies schließt nicht aus, daß auch im Rahmen der G7 weiter globale Regulierungen versucht werden. Diese werden nur dort Bedeutung haben und einheitliches Handeln bewirken, wo es um die weitere Strategie der drei Hauptmächte gegen die unterentwickelten Länder und jetzt auch gegen jene Randländer der entwickelten Welt geht, die in den Zustand der Peripherisierung gedrängt werden (...) Der jetzt vielfach praktizierte Ausweg, die Folgen solcher Widersprüche auf die Schwächsten, vor allem die unterentwickelten Länder abzuwälzen, löst kein Problem.“ (Hans Kalt, „Ist die Wirtschaft noch zu steuern?“).
Und weiter: „Was tun, um andere, besser funktionierende Normen des Zusammenlebens der Menschen zu erreichen? (...) In Wirklichkeit findet der Kapitalismus als Gesellschaftssystem immer einen Ausweg aus seinen ökonomischen Krisen (...) Die Hauptopfer der Krisen, die Arbeiterklasse, alle von ihren Folgen Betroffenen, haben nur eine Möglichkeit, nachhaltig ihre Interessen zu vertreten: Ihr eigenes bewußtes Handeln im Rahmen ihrer solidarischen Organisation und auf der Basis der wissenschaftlichen Analyse der Lage, der objektiven Bewegungsgesetze ihrer Entwicklung und der sich daraus ergebenden anzustrebenden erreichbaren Ziele (...) Auf klare Standpunkte, ja auf eine Teilnahme an der Wirtschaftspolitik unter kapitalistischen Bedingungen zu verzichten, wäre nicht revolutionär, sondern dumm, da es Verzicht auf eine wichtige Methode zur Entwicklung von Klassenbewußtsein wäre.“
Industriepolitik, Wirtschaftspolitik, Beschäftigungspolitik — das heißt organisiertes Handeln auf der Grundlage wissenschaftlicher Analyse ohne Reinfall auf die Legion der falschen Propheten. Fehlender politischer Einfluß auf industrielle bzw. gesamtwirtschaftliche Entwicklungen muß ersetzt werden durch wahre Demokratisierung, durch Einflußnahme der vom Kapital Gehandelten und Behandelten, also jener, durch deren Arbeit materielle Werte überhaupt erst entstehen können.
Das Recht, an diesem Prozeß teilnehmen zu dürfen, kommt nicht von Gott, Kaiser, Tribun, Regierung, Unternehmern. Die SP-Führungen besorgen nach wie vor für das Kapital die Drecksarbeit und verlieren nun die junge Generation an rechte Populisten. KP und GLB haben, gestützt auf ihre traditionelle wirtschafts- und sozialpolitische Kompetenz, Ansätze formuliert. Aber dies ist in anderen Beiträgen zu behandeln, ebenso die Anforderungen an eine Wissenschaft, die dafür entprechende Grundlagen liefert.
