Jüdische Frauen im mexikanischen Exil
Es ist so, als hätten wir mit unseren Familien Teile unserer Gesichtszüge, unsere Gesichter verloren.
(Susana Kon de Szydlo)
Obwohl Mexiko das Image eines den Flüchtlingen und Verfolgten des Faschismus der 30er und 40er Jahre wohlgesinnten und offenstehenden Landes genießt, belegen neue Forschungsergebnisse die Tatsache, dass die mexikanische Gastfreundschaft eine selektive war. SpanierInnen im Exil fanden hier ohne Frage bedingungslos eine rettende Oase: 22.123 spanische Flüchtlinge wurden dank der Solidarität der mexikanischen Regierungen, in erster Linie jener Lazaro Cardenas’ (1934-1940), aufgenommen. [1] Betreffend der jüdischen Immigration jener Zeit jedoch war die mexikanische Haltung eine der systematischen Verweigerung: Man schätzt, dass zwischen 1934 und 1940 lediglich zwischen 1.850 und 2.250 Jüdinnen und Juden in Mexiko Aufnahme fanden, [2] die meisten davon nur dank der Bemühungen von bereits im Land lebenden Familienangehörigen.
Diese Abwehr stand in der Kontinuität der in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eingeführten restriktiven Einwanderungspolitik, die sowohl in Mexiko als auch in den USA und anderen amerikanischen Staaten die jüdische Immigration erschwerte, und die mit den Problemen der Wirtschaftskrise noch verschärft wurde. Die vom aufsteigenden Nationalsozialismus bedrohten europäischen Jüdinnen und Juden mussten mit zusätzlichen Nachteilen bei ihren Asylanträgen in Mexiko kämpfen. Sie wurden nicht als Flüchtlinge anerkannt, sondern als einfache EmigrantInnen. Nicht einmal als solche erfüllten sie die erforderlichen Bedingungen, da eine Reihe von offiziellen Dokumenten ihre Einreise, ungeachtet der jeweiligen Nationalität, von Beruf oder zur Verfügung stehenden Geldmitteln, ausdrücklich untersagten.
„Schändliches Parasitentum“
Die mexikanische Regierung gab verschiedene Gründe für die Abweisung der jüdischen Immigration an. Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus argumentierte man mit dem Schutz der lokalen ArbeiterInnenschaft, man wolle die „unredliche Konkurrenz von fremden Elementen“ vermeiden, welche mexikanische ArbeiterInnen verdrängen und ein „höchst schädliches Parasitentum“ fördern könnten. Diese protektionistischen Forderungen diverser Händlervereinigungen und der nationalen Mittelschichten, die vor den angeblichen Schäden warnten, welche die Wellen von ausländischen (jüdischen) ArbeiterInnen verursachen würden, fanden Zustimmung bei der cardenistischen Regierung, die Angst vor einem Popularitätsverlust hatte und die Unterstützung der Massen wegen der Konflikte der Ende der 1930er Jahre durchgeführten Verstaatlichung des Erdöls US-amerikanischer und britischer Firmen dringend benötigte.
Juden und Jüdinnen wurden im Zusammenhang mit den bevölkerungspolitischen Maßnahmen der mexikanischen Regierungen als in die mexikanische Nation „nicht assimilierbare Elemente“ angesehen, denn sie entsprachen nicht dem rassischen und kulturellen Ideal des „mestizaje“ [3] und der ethnischen Fusion, die für eben diese nationale Integration notwendig wären. Die Ausländer würden nur dann akzeptiert, wenn sie sich innerhalb der mexikanischen Bevölkerung assimilierten, was Juden im Gegensatz zu spanischen Flüchtlingen ausschloss. [4]
Als der Krieg vorbei war, konnten sich einige Hundert Holocaustüberlebende, wiederum ausschließlich mit Hilfe von im Land ansässigen Familienangehörigen und jüdischen Organisationen in Mexiko, die zu diesem Zweck gegründet wurden, niederlassen. Für diese Jüdinnen und Juden wurde das Exil eine schwere und schmerzvolle Erfahrung und zugleich die einzige Möglichkeit um zu überleben. Für die meisten jener, die es trotz der unzähligen Hürden schafften, gilt Mexiko als ein unglaublich großzügiges Land. Tatsächlich kam es trotz der staatlichen Widerstände gegen die jüdische Immigration und deren subtilem antisemitischem Hintergrund in Mexiko nie zu einem aggressiven Antisemitismus, der mit jenem des modernen Europa vergleichbar wäre. Nach dem Krieg fand dank der Gleichheit vor dem Gesetz für alle StaatsbürgerInnen, der Religionsfreiheit und der Strukturen eines laizistischen Staates, der in Mexiko fast ungebrochen seit der Unabhängikeit existierte, eine Normalisierung des Lebens statt, die gravierende Einschränkungen für Jüdinnen und Juden ausschloss.
Erinnerungen jüdischer Frauen
Im Jahr 2002 erschien in Mexiko das Buch „El rostro de la verdad. Testimonios de sobrevivientes del Holocausto que llegaron a Mexico.“ („Das Gesicht der Wahrheit. Zeugnisse von Holocaustüberlebenden, die nach Mexiko kamen.“) Dieses Buch entstand aus den Bemühungen eines Vereins namens „Memoria y Tolerancia“ (Gedächtnis und Toleranz), der mittels persönlicher Interviews, die zwischen 1997 und 2001 geführt wurden, die Zeugnisse von 79 Überlebenden in Mexiko, 37 Männer und 42 Frauen, zusammentrug. Das Hauptziel dieser Publikation besteht darin, die biografische Erfahrung jedes einzelnen dieser Menschen zu dokumentieren, um mittels der Stimme, die erinnert und erzählt, der Absicht der nationalsozialistischen Maschinerie entgegenzutreten, die die Spuren der Barbarei gelöscht sehen möchte. Die Zeugnisse in diesem Buch bieten einen repräsentativen Ausschnitt der Diversität der Lebenserfahrungen der Opfer des Nationalsozialismus im Schatten des Terrors. Sie beleuchten Aufstieg und Verlauf des NS-Regimes, den Horror der Ghettos, Deportationen, Konzentrations- und Vernichtungslager, Flucht, Versteck, moralischer Niedergang, bewaffneter und unbewaffneter Widerstand, erstaunliche und wundersame Solidarität einiger weniger, unzählige heroische Akte des Widerstands und die Schwierigkeit, sich an die Welt und das Leben nach dem Krieg in Mexiko zu gewöhnen.
Nach der Analyse dieser Zeugnisse kann bestätigt werden, dass es betreffend der Erfahrung jener Jahre des Terrors keine großen Unterschiede zwischen Frauen und Männern gibt. Die Versuche der Entschmenschlichung, die die NS-Juden-Politik charakterisierte, erreichten neben der Vernichtung ihrer persönlichen Identität, Name, Biografie, familiäre Bindungen, Wort, Würde und Besitz auch jene der geschlechtlichen Unterschiede. Was blieb, war der Kampf ums Überleben, um Nahrung, Verstecke, sich und die Familie vor physichen Übergriffen zu retten. In dieser Situation schmolzen Männer und Frauen als ununterscheidbare Menschen zusammen, und ihre Erfahrungen sind sehr ähnlich.
Die Herkunft der 42 befragten Frauen ist unterschiedlich: sie kamen aus Polen, Litauen, Rumänien, Ungarn, der Tschechoslowakei, Griechenland, Deutschland, Frankreich, Belgien, Weißrussland, Italien und Österreich. Sie wurden zwischen 1906 und 1938 geboren und ihre Erfahrungen auf dem Weg ins mexikanische Exil sind sehr unterschiedlich. Einige wurden als junge Mädchen in Klöstern am Land versteckt, andere überlebten nur durch ein Wunder die Konzentrations- oder Vernichtungslager; einige schlossen sich dem Widerstand an und andere konnten unter großen Gefahren und Risiken während des Krieges nach Amerika flüchten. Die meisten der Frauen verloren entweder einen Teil, die Mehrheit verlor die gesamte Familie durch die Shoah.
Von besonderer Bedeutung ist für alle die Tatsache, ihrer Abstammung Kontinuität zu verleihen: eine Familie gegründet zu haben und somit der Absicht der Nazis, ihre Vergangenheit auszuradieren, zunichte gemacht zu haben. Vierzig der zweiundvierzig Frauen haben Kinder, die meisten nach dem Krieg geboren, und viele von ihnen interpretieren diese Tatsache als die größte Rache an ihren Henkern.
Wenngleich in allen Zeugnissen Beschreibungen von intensivem Leid in stark emotionalen Tönen ausgedrückt werden, gibt es je nach Bildungsgrad Unterschiede bezüglich der Komplexität, mit der das Erlebte evaluiert und Schlüsse daraus gezogen werden. Die Dankbarkeit gegenüber Mexiko, dem Land, in dem ein Leben in Freiheit neu aufgebaut werden konnte, ist eine weitere Gemeinsamkeit in allen Inteviews. Agnes Braun Kruasz, eine 1920 in Budapest geborene Widerstandskämpferin, drückt das folgendermaßen aus: „Die Erfahrung in Mexiko ist die eines Transplantats eines Baumes, der seine Früchte verbessert. Es kam zu einer Integration, zum gemeinsamen Lernen.“ [5] Flora Botton kam 1933 in Saloniki, Griechenland, zur Welt: „In Mexiko fand ich eine neue Heimat, die mir die Möglichkeit gab, Wurzeln zu schlagen, welche noch stärker werden, wenn der erste Familenanghörige hier stirbt und du ihn auf mexikanischem Boden begräbst, und die sich mit dem Wissen um Kunst, Geschichte und Kultur dieses Landes vertiefen.“ [6]
In fast allen Interviews findet sich die Betonung der Notwendigkeit der Erinnerung als Mittel zur Wiedererlangung von Würde und Bestätigung der eigenen Identität als auch als Mittel gegen die Versuche der Nazis, ihre Verbrechen zu verschweigen und die Spuren der Vernichtungspolitik zu beseitigen. Fast alle Frauen fragen sich irgendwann „Warum habe ich überlebt?“ und geben sich zwei Antworten. Während einige an Gottes Wille glauben und ihre Religiosität dadurch verstärkten, sehen die anderen einfach den Zufall und glückliche Umstände, die sie zu Menschen führten, die trotz des hohen Risikos Hilfestellung leisteten.
In vielen Erzählungen scheint trotz des artikulierten Willens, die Traumata der erlebten Katastrophe der Vergangenheit überwinden zu wollen und sich in das Leben zu integrieren, unvermeidbar die Bitterkeit über all das Verlorene durch, etwa auch der eigenen Jugend. So beendet Lola Gersztein de Lasman, 1920 im polnischen Wilno geboren, ihr Zeugnis mit den Worten: „Ich fühle, dass wir unsere gesamte Jugend verloren haben. Die besten Jahre verbrachten wir im Konzentrationslager, danach arbeiteten wir unser ganzes Leben lang, und nun, da wir genießen könnten, sind wir bereits alt.“ [7]
Allgemein lässt sich sagen, das Rationalisierungen der traumatischen Erlebnisse, die oft als Quelle einer besonderen Stärke gesehen werden, überwiegen, wenn auch Ausdrücke von Gefühlen der Verstümmelung immer wieder durchscheinen. Susana Kon de Szydlo flüchtete als 10-jährige aus Frankreich mit dem Schiff Serpa Pinta: „Obwohl ich hier eine wunderbare Familie aufgebaut habe, ist die erste Reaktion, wenn etwa meine Tochter mich um die Gästeliste der Bar-Mitzva meines Enkels bittet: welche Liste? Ich habe doch keine Onkel mehr, keine Cousins, sie wurden doch alle ermordet. Das kann ich nicht vermeiden, auch wenn schon soviele Jahre vergangen sind und ich doch so viele schöne Dinge besitze. Aber was passierte, hätte nie passieren dürfen, man kann einfach nicht resignieren. Mich beschäftigt dies ständig, obwohl ich damals ein Kind war. Wie muss es erst für meine Eltern gewesen sein? Es war wie eine lebenslange Trauer. Soviel man auch rationalisiert, die Gefühle sind präsent als wäre gestern heute. Es ist so, als hätten wir mit unseren Familien Teile unserer Gesichtszüge, unsere Gesichter verloren.“ [8]
Erst in den letzten Jahren kam es zur Überschneidung zwischen der Bereitschaft der Überlebenden des Holocaust, über ihre Erfahrungen zu sprechen, und des Interesses einer neuen Generation, ihnen zuzuhören. Die meisten hatten mehrere Jahrzehnte lang geschwiegen. Das Erlebte lag weit hinter der Möglichkeit, es in Worte zu fassen. Sich einer noch frischen und schrecklichen Vergangenheit zuzuwenden, bedeutete, sich dem Risiko auszusetzen, die spärlichen Hoffnungen, die man in die fragilen Drähte zum Leben setzte, aufs Spiel zu setzen. Zurückzublicken auf die Zerstörung könnte eine Lawine an Emotionen auslösen und die Überlebenden begraben. So wartete etwa der politische Gefangene und Buchenwald-Überlebende Jorge Semprún vier Jahrzehnte, bis er sein Buch „La escritura o la vida“ (Die Schrift oder das Leben) veröffentlichte. Heute kennen wir bereits einige dieser Zeugnisse und wissen durch die historische Forschung, wie sich die Katastrophe anbahnte. Unsere Aufgabe ist es nun, die Lehren und entsprechenden Konsequenzen daraus zu ziehen.
[1] vgl. Dirección General de Estadistica. Mexico 1937-1948.
Zitiert nach Clara E. Lida: Los espanoles en Mexico, población, cultura y sociedad. in: Guillermo Bonfil Batalla (Hg.): Simbiosis de culturas. Los inmigrantes y su cultura en Mexico. Mexico 1993, S. 434
[2] Judith Bokser de Liwerant: Imagenes de un encuentro. La presencia judta en Mexico durante la primera mitad del siglo XX. Mexico 1992, S. 223
[3] Mestizaje beschreibt die (gewaltsame) „Mischung” von lndigenas und Spaniern. (Anm. der Übersetzerin)
[4] Vgl. Daniela Gleizer Salzman: Mexico frente a la inmigración de refugiados judios 1934-1940. Mexico 2000
[5] El rostro de la verdad. Testimonios de sobrevivientes del Holocausto que llegaron a Mexico. Mexico 2002, S. 54
[6] ebd., S. 36
[7] ebd., S. 142
[8] ebd., S. 107