Streifzüge, Heft 55
Juni
2012

„Kapitalismus forever“

Zwei Briefe zu Wolfgang Pohrts Buch

1.

Nürnberg, 29.2./1.3.2012

Danke, für den Hinweis auf das neue Pohrt-Buch. Wie empfohlen, habe ich inzwischen einen „Blick hinein“ getan. Ich schreibe Ihnen, nachdem ich über die Hälfte von „Kapitalismus forever“ gelesen habe.

Pohrt liest sich natürlich ganz nett, wie seit jeher. Aber theoretisch, das muss ich leider sagen, kommt mir der Text doch etwas dürftig vor. Ich hatte erwartet, Pohrt außerhalb des bekannten Bittermann-Kreises und also außerhalb der Edition Tiamat wiederzutreffen. Nachdem ich in dieser Hinsicht enttäuscht worden bin, stellt sich bei mir der Reflex ein: Aha, die gibt’s also auch noch. Und in diesem Sinne würde ich auch die theoretische Substanz einschätzen: Nach wie vor hängt er am „Urerlebnis“ der 68er Bewegung. Es gibt eine ganze Reihe stillschweigender Voraussetzungen aus jener Zeit, die ich keineswegs akzeptiere, sondern längst schon zu hinterfragen gelernt habe.

Die erste wäre schon mal, das „Kapital“ wie eine äußere Macht zu denken, ganz im Stil der alten Arbeiterbewegung, für die die „Kapitalistenklasse“ offensichtlich so etwas war wie die Fortsetzung des Adels mit industriellen Mitteln. Die Rede vom „Scheitern“ der 68er Bewegung verweist auf die andere Unterstellung, die sich bei Pohrt findet. Offensichtlich sah er seinerzeit „die Revolution“ unmittelbar vor der Tür stehen. Und dinghaft, als ein einziger großer Akt der Befreiung oder des „Kladderadatsch“ tritt bei Pohrt auch jetzt noch die „Revolution“ auf. Dem entspricht dann auch ein „Kapital“, das man einfach so „beseitigen“ oder „enteignen“ kann.

Also alles sehr dinglich oder gegenstandsmäßig gedacht. Dem dinghaften Kapitalbegriff entspricht dann auch eine utilitaristische oder instrumentelle Betrachtungsweise der Geschichte. Erst wenn wir „die Revolution“ gemacht haben, ist das Leben lebenswert. Jetzt ist alles Hölle, Ekel und Entsetzen. Hoffnung gibt es dementsprechend nur jenseits davon. Adorno: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Ist das nicht die alte Geschichts- und Zukunftsmetaphysik? Für einen Intellektuellen, der das Luxusproblem hat, an einem eleganten und polemisch treffenden Stil feilen zu müssen, kommt mir diese Haltung ein wenig geziert und krampfig vor. Natürlich ist er vor schrecklichen Erlebnissen, vor Depression und Selbstmord nicht gefeit. Aber Herr Merkle, der Milliardär, war das auch nicht.

Herr Pohrt polemisiert zwar gegen den traditionellen linken Glauben an „die Revolution“ (er zitiert sich selbst bis S. 23), ist aber theoretisch durchaus noch abhängig davon. Weil sie so nicht gekommen ist, wie er sie sich seinerzeit vorgestellt hat (und wohl immer noch vorstellt), ist sie für ihn ganz gestorben. Und „das Kapital“ hat die gleiche Lebenserwartung wie „das Krokodil“ auf S. 70. Ausgerechnet jetzt, wo jeder sehen kann, dass das „Wachstum“ nur noch virtuell generiert werden kann, im Finanzüberbau, durch das Auflegen von immer neuen Anleihen zur Bedienung und Ablösung der alten. Herr Pohrt hat Recht: Wenn das Geld futsch ist, gibt es immer noch die Häuser und anderen Dinge, die seinerzeit mit der Hoffnung auf Gewinn gebaut worden sind. Aber wozu braucht er den Marktmechanismus, um jemanden dort einziehen zu lassen? Und woher der Glaube, dass dieser Mechanismus auf Dauer funktionieren kann?

Wer freilich so unhistorisch denkt wie Pohrt, hat mit der Frage nach der weiteren Entwicklung der Krise kein Problem: „Auf den kapitalistischen Weltuntergang warten wir jetzt schon geschlagene 150 Jahre.“ (S. 53) Kein Wunder, dass die Ständegesellschaft und ihre tief eingewurzelten Denk- und Verhaltensweisen keinerlei Rolle in seinem Geschichtsbild spielen. Dabei hat schon Arnold Gehlen den „Klassenkampf“ als einen gegen die Ständegesellschaft gerichteten Impuls interpretiert. Die Erste Internationale, das sollte man doch wissen, hat, unterschrieben von Marx, dem tüchtigen Demokraten und Bürger Lincoln eine Glückwunschadresse zum Sieg im Bürgerkrieg gegen den sklavenhalterischen Süden geschickt. Und damals schon soll „der Kommunismus“ auf der Tagesordnung gestanden haben?!

Halten Sie sich die Passage aus den Buddenbrooks vor Augen, in der die 1848er Revolution in Lübeck geschildert wird, oder den überaus „revolutionären“ Arbeiter Antoine Macquart aus dem ersten Band von Zolas Romanzyklus, wie er zur gleichen Zeit in den Kaffeehäusern von Plassans herumkrakeelt: Laut Pohrt handelte es sich damals um das „Zeitfenster für die proletarische Weltrevolution“ (S. 62). Eine unglaubliche Ignoranz in historischen Dingen kommt hier zum Vorschein.

Als dumm empfinde ich auch die Äußerung zur Oktoberrevolution, S. 44: „War gar keine Revolution, sondern Kriegsfolge“. Was meint er denn, warum Millionen Menschen der gegebenen Ordnung den Gehorsam aufkündigen? Aus Glaubensgründen? Weil sie die richtigen Bücher gelesen haben? Da hat er mal eine wirklich entsetzliche Situation, aber die lässt er nicht als revolutionäre Situation gelten, weil sie nicht zur Beseitigung des Kapitalismus, noch nicht einmal zur rechtsstaatlichen Demokratie führte. Dass es damals erst um die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse ging, ist doch keine Schande für die seinerzeitigen Menschen! Nur dann, wenn man den Kapitalismus als ein moralisches Übel betrachtet, mit dem sich einzulassen eine Sünde ist, kann man die Oktoberrevolution als „keine Revolution“ bezeichnen. Dann war aber auch die Französische Revolution „keine“.

Überhaupt scheint mir das ganze kurzatmige Wendepunkt-Denken noch in die Epoche der bürgerlichen Revolution zu gehören. Das Geltendmachen von Abstraktionen gegen die Wirklichkeit ist ja per se etwas Schroffes, Unvermitteltes, Gewaltsames. Siehe Hegel. Im Kommunistischen Manifest spricht Marx davon, dass die „Bourgoisie“ die Produktivkräfte ständig revolutioniert oder umwälzt. Der Kapitalismus ist in diesem Sinne die Revolution in Permanenz. Auch in dem Sinne, dass er sich erst nach und nach der verschiedenen Lebensbereiche und Regionen bemächtigt. Was bei Kant und Hegel noch ein begriffliches System war, musste in der gesellschaftlichen Wirklichkeit erst noch eines werden. An der politischen Oberfläche entspricht dem das immer neue Auftauchen von „ewigen Prinzipien“, um die herum sich die entsprechenden Jünger und Parteien scharen, die sich ans „Verwirklichen“ begeben.

Ich teile Pohrts Einschätzung, wenn er die Frauenemanzipation (1. WK) und den Prozess der Entkolonialisierung (2. WK) in den Zusammenhang der Weltkriegsepoche (S. 75) stellt. Aber hat sich die traditionelle Linke damit blamiert? War sie deshalb „überflüssig“? Doch nur in dem Sinne, dass sie sich als Moment dieser Entwicklung entpuppt hat. Dass sie sich in ihrem historischen Selbstverständnis täuschte. Pohrt hält an diesem Selbstverständnis fest, an dem typisch voluntaristischen Glauben, dass die Revolutionäre von einst über die Problemstellungen ihrer Zeit hätten springen können, müssen und sollen, und zieht daraus den Schluss, dass, weil die vergangene Entwicklung eine bürgerliche war, sie das auch bis in alle Ewigkeit sein muss. Ausgerechnet jetzt, da wir ein unerhört hohes Maß an systemischer Gleichschaltung der Menschen erreicht haben, kommt er mit der Festellung, dass sich die moderne Welt „systematisch nicht mehr erfassen und darstellen lässt“ (S. 61/62). Und gleich darauf, S. 69 ff., folgt ein Kapitel, in dem er zeigt, wie einfach es inzwischen geworden ist, den allgemein herrschenden Systemimperativ „Mach, was Profit abwirft, sonst bist Du weg vom Fenster“ in eine griffige Formel zu fassen. Und darauf folgt auch noch der Satz: „So ein System ist unschlagbar.“ (S. 70) Ich würde eher sagen, dass es für den vorhandenen stofflichen Reichtum und für die vorhandenen Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung allzu einfach, allzu eng, allzu krokodilmäßig geworden ist.

Alles in allem: ein Dokument der Verwirrung (und sicher auch der Verbitterung).

2.

Nürnberg, 3.3.2012

Noch ein kleiner Nachhakler zu Pohrt. Es fuchst mich einfach zu sehr, wie ein hochintelligenter Mensch den Abschied von der alt-linken Gläubigkeit als eine Art letzten Schrei der nüchternen Analyse daherbringen kann. Pohrt bringt es immer fertig, ganz weit vorne zu marschieren. Diesmal befindet er sich an der Spitze der Illusionslosigkeit. S. 91: „… ich habe es nur satt, irgendwie alles irgendwie gut finden zu müssen, was irgendwie sozialistisch oder links aussieht. Ich habe mich immer selbst überreden und zwingen müssen, irgendwelche linken Regime, wenn sie am Ruder waren, gut zu finden.“

Unglaublich, so etwas im Jahre 2012 lesen zu müssen! Ich erinnere mich an eine Karikatur aus der Solidarnosc-Zeit, vermutlich Mitte oder Ende der 80er Jahre in unseren Zeitschriften erschienen: Ein abgerissener Landstreicher oder sonst ein Hungerleider eilt fröhlich feixend durch das Bild – an einem Stecken trägt er eine Fahne, auf der steht: Hauptsache, wir haben den Sozialismus! Oder denken Sie an Deng-Hsiao Ping: Mir ist es egal, ob die Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache, sie fängt Mäuse. – Das sind alles Abschiede vom bekennenden Bewusstsein aus der jüngeren Zeit. Tüchtige Schritte Richtung Westen, dem es seit dem 2. Weltkrieg endgültig Wurst war, was die Leute glauben (Meinungs- und Gewissensfreiheit), wenn sie nur irgend eine rechtlich zulässige Funktion im Rahmen der Geldbewegung ausüben. Das Anfertigen aufmüpfiger Essays und Bücher inbegriffen.

Aus dem 19. Jahrhundert ist mir ein gewisser Marx bekannt, der – wohl aus Anlass des Gothaer Programms – sich genau in diesem Sinne vernehmen ließ: Ein Schritt wirklicher Bewegung (oder Entwicklung) ist mir wichtiger als 1000 Programme. Aufs gesellschaftliche Sein, nicht aufs Bewusstsein komme es an, schreibt der gleiche Marx an anderer Stelle. Und er führt damit nur eine theoretische Entwicklung fort, die bereits mit Kant und seiner „reinen Form des Bewusstseins a priori“ begonnen hat. Schon von diesem Kant kann man lernen, dass nicht der Inhalt des Bewusstseins, sondern seine Form (individualistisch, selbstverantwortlich, der Allgemeinheit des Gesetzes gemäß) darüber entscheidet, inwieweit die bürgerliche Vernunft von einem Menschen Besitz ergriffen hat oder nicht. Einigermaßen populär ausgeführt in der „Religion in den Grenzen der reinen Vernunft“: Darin, dass man etwas glaubt oder sich zu etwas bekennt oder Gebete spricht, liege keinerlei (moralisches) Verdienst. Euer praktisches Verhalten allein zeigt, inwieweit Ihr die Abstraktion (der individuellen Freiheit) verinnerlicht habt.

Das, meine ich, ist das theoretische Niveau, das wir heute zu überwinden haben. Wir müssen endlich lernen, den Inhalt gegen die gesellschaftliche Form in Anschlag zu bringen – aber bitte: keinen Glaubensinhalt! In diesem Sinne sind in meinen Augen die Stuttgart 21-Protestierer, die Anti-Atomkraft- und die Anti-Käfighaltungs-Leute und überhaupt alle an empirisch-stofflichen Entscheidungen interessierten Menschen näher an der zeitgenössischen Problemlage, als etwa Pohrt, der linke Glaubenseiferer, es war bzw. ist.

Die Neue Linke war insofern reaktionär, als sie gegen den nihilistischen Funktionalismus der „Konsumgesellschaft“ nur die Sehnsucht nach der moralischen Ernsthaftigkeit vergangener Glaubenserlebnisse ins Feld führen konnte. Insofern ist es wohl kein Zufall, dass nach dem Zusammenbruch der „Partei“-Bewegung Mitte der siebziger Jahre umstandslos der Übergang Richtung Bhagwan und Neue Religiosität erfolgen konnte.

Wenn jetzt die letzten Vertreter des politischen Glaubens an diesem (ver)zweifeln und die Segel streichen, so darf man wohl annehmen, dass es der Kapitalismus endlich zur höchsten Reife des automatischen Funktionierens gebracht hat. Meines Erachtens ist das ein Aspekt seiner Krise. Es gibt jetzt keinen Spielraum mehr, der es erlauben würde, auf die handfesten Probleme, die wir zu gewärtigen haben, bloß ideologisch zu reagieren, nach Art eines Glaubenskampfes. Der Kapitalismus tritt rein als solcher hervor, ist nicht mehr verborgen hinter den verschiedenen Vergesellschaftungsideologien und damit seinerseits als Metaphysik, als das höchste Stadium derselben, das das Glauben und Bekennen nicht mehr nötig hat, zu durchschauen.

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