FORVM, WWW-Ausgabe
Mai
2019
Liegengebliebenes II

Kleinstrolle vorwärts statt Liegenbleiben

Zweitlebensfreuden

Leopold Vodicka ist ein quirliger Mensch, immer schon gewesen. Er liebt seinen Beruf, hat ihn schon immer geliebt, mit allen Facetten. Aber zeit seines Berufslebens war es ihm zu fad, in seinem Fotogeschäft am Floridsdorfer Spitz im 21. Wiener Gemeindebezirk darauf zu warten, dass irgendwann eine Kundin auftauchte, um sich für ein Passfoto oder Porträt ablichten zu lassen, ihn für eine Familienfeier als Hoffotograf zu buchen oder gottbehüte gar eine Kamera zu erstehen. Natürlich war er da auch zu Diensten und damit ganz gut im Geschäft. Aber darüber hinaus zog es ihn immer auch zu anderen, ebenfalls berufsbezogenen Tätigkeiten.

Bim Heurigen in Hagenbrunn zählt er sie auf: Innungsmeister der Berufsfotografen in Wien, später stellvertretender Innungsmeister, Bundesinnungsmeister-Stellvertreter, stellvertretender Innungsmeister für den Fotohandel in Wien und in Niederösterreich, ebenso im Burgenland, Lehrer an der Berufsschule, beeideter Gerichtssachverständiger für Foto, Video und Urheberrecht, dann Theaterfotograf an diversen Theatern, Teilnehmer und recht oft Sieger bei verschiedenen Foto-Wettbewerben und Ausstellungen im In- und Ausland, u.a. zwei Mal Silbermedaille in Peking, Pressefotografie für Zeitungen und Zeitschriften, künstlerische Fotografie, Filme, Videos. Dann besitzt er als Senator der Academia Tiberina Roma, einer vatikanischen Ausbildungs- und Forschungsstätte noch einen Professorentitel, der aber in Österreich nicht anerkannt ist. Und nicht zuletzt half er wesentlich mit beim Aufbau der Fotografenwerkstatt im burgenländischen Dorfmuseum von Mönchhof. Unvergessen ist auch seine Mitarbeit bei der Ausbildung unserer nicht gerade vom Schicksal verwöhnten Fotografenlehrlinge am Märtplatz und im Atelier A, denen er auch, wenn nötig, den Lehrabschluss in Österreich ermöglichte. Denn ausserdem amtete er als Experte bei den Lehrabschluss- und Meisterprüfungen in Wien und in Niederösterreich. Da war es nur folgerichtig, dass das alles gekrönt wurde durch den Titel des Kommerzialrates, später des kommunalen Wiener Professors, und der wiederum ist in Österreich sehr anerkannt.

Nur sind solche Titel weder abendfüllend noch haben sie einen besonderen Nährwert. Und die Zeiten ändern sich. Das gilt für einen Berufsfotografen sogar in verschärftem Masse. Die Leute schiessen sich mit ihren Digitalkameras oder gar mit den I-Phones die Fotos von den wichtigen Ereignissen ihres Lebens selber, journalistisch Tätige bebildern ihre Artikel immer öfter eigenhändig, und wo man sich früher im Fotofachgeschäft ausgiebig beraten liess, bevor man die schliesslich erwählte Kamera auf der anderen Strassenseite beim Discounter kaufte, informiert man sich heute im Internet. Dazu kommt der normale Alterungsprozess: In den Fachgremien drängen jüngere Kräfte nach, neue Ideen verdrängen gebieterisch jahrelange Erfahrung von ihrem Platz in Richtung Pension. Das wieder wie überall.

All dies wäre eigentlich Grund genug, die Flinte beziehungsweise die Kamera ins Korn zu werfen. Der Protagonist wird nicht mehr gebraucht, leicht gekränkt zieht er sich aus dem öffentlichen Leben zurück und verlegt sich auf die Rasenpflege; ein am Wegrand des Lebens Liegengebliebener. Auch Vodicka tritt kürzer und hat sein Fachgeschäft reduziert. Wohl öffnet er es nach wie vor zu bestimmten Zeiten, doch die Nachfrage hat deutlich nachgelassen.

Ums Eck geht’s vorwärts

Aber von wegen Wegrand des Lebens: Gleich bei ihm ums Eck liegt das Floridsdorfer Gloria-Theater. Betreiber ist Gerald Pichowetz, ein Urgestein des Wiener volkstümlichen Theaters. Früher war Vodicka zeitweilig dort als Theaterfotograf tätig gewesen, jetzt findet er hier ein neues Betätigungsfeld. Mit Pichowetz hat er sich zusammengesetzt, sie sind sich einig geworden, und so beginnt der Leopold Vodicka im zarten Alter von siebzig Jahren nochmals eine Karriere: als Kleinstrollen-Darsteller.

Man unterschätze das Gewicht solcher Kleinstrollen nicht. Niemand spielt sie wirklich gern, fast jeder Schauspieler ist zu Höherem geboren als zum Abliefern von drei Sätzen. Aber mit diesen drei Sätzen, in kürzester Zeit eine Figur glaubhaft zu machen, dazu gehört schon etwas. Und ist diese Figur nicht glaubhaft, hängt das zu Höherem geborene Gegenüber unweigerlich in der Luft. Gerne erinnert man sich daran, wie Helmut Qualtinger ganze Nestroystücke darstellte. Ein grosses Plus dieser Unternehmung war, dass noch die kleinste, scheinbar unbedeutendste Rolle mit dem grossen Qualtinger besetzt war, ein Luxus, den sich kein Theater hätte leisten können.

Vodickas erste Rolle war ein Schleichhändler im letztjährigen Weihnachtsstück des Theaters. „Ein Fall für Miss Marple“ hiess es, die Chronik eines angekündigten Verbrechens für den Weihnachtsabend. Da spielte er unter anderen mit Jazz Gitti, Christian Spatzek, Peter Lodynski – und natürlich mit Gerald Pichowetz, der die Miss Marple gab. Seine drei Schleichhändlersätze hatte er gleich am Anfang, dann ging er gemütlich um die Ecke nach Hause und versorgte seine drei Katzen, um anschliessend rechtzeitig zum Schlussapplaus wieder auf der Bühne zu stehen.

Die Produktion wurde ein grosser Erfolg. Das lag jetzt natürlich nicht an diesen drei Sätzen. Aber das Publikum mochte Stück und Leute offensichtlich, es mussten zusätzliche Termine eingeschoben werden, und heuer wird die Inszenierung zur Weihnachtszeit nochmals aufgenommen. Ich habe mir eine Aufführung angesehen. Im Foyer herrschte munteres Adventsmarktstreiben, inklusive Glühwein. Aber auch von der Bühne her sprang eine spürbar gute, fröhliche Stimmung in den Zuschauerraum über. Und was Vodicka und seine drei Sätze betrifft, muss ich sagen: Er war verdammt gut. Ganz bei sich selber war er, nichts wirkte theatralisch aufgesetzt; die Figur seines Schleichhändlers funktionierte tadellos. Dabei strahlte sie eine windige Vertraulichkeit aus, so dass einem bis zum dritten Satz nicht klar wurde, ob man diesem Kerl über die verhökerten Lebensmittel hinaus auch den berühmten Gebrauchtwagen abkaufen würde. Auch wenn sich mir die Funktion dieses Schleichhändlers aus dem Ablauf des Stücks nicht wirklich erschloss.

Einer der Hauptprotagonisten im Stück, Christian Spatzek, ist heuer Intendant der Stockerauer Festspiele. Er inszeniert dort Nestroys „Einen Jux will er sich machen“. Vodicka ist engagiert. Wieder für ein paar wenige Sätze. Er spielt einen Fiakerkutscher. Dann steht für den Herbst im Gloria-Theater „Ober, zahlen!“ nach dem Moser-Hörbiger-Film auf dem Spielplan. Dort wird er einen Schachspieler mimen. Er lässt sich schon jetzt von einem jungen Mann aus der Nachbarschaft die typischen Bewegungen eines Schachspielers zeigen. Und schliesslich kommt dann zu Weihnachten wieder die Miss Marple. Leopold Vodicka ist also voll ausgebucht. Es eilt vorläufig überhaupt nicht mit dem Liegenbleiben am Wegrand des Lebens.