FORVM, No. 315/316
März
1980

Lukács im Eck

Die letzten Jahre aus dem Nachlaß

Nach seiner Beteiligung an den „ungarischen Ereignissen“ des Jahres 1956 auf der Seite der Regierung Nagy blühte Georg Lukács nur mehr im Verborgenen. 11 Jahre später wieder in die Partei aufgenommen, behielt er seine orthodoxmarxistische Position zwischen Stalinismus und Westlertum bei, bis zu seinem Tod im Juni 1971. Ein rumänischer Freund hat die unveröffentlichten Briefe im Nachlaß durchgesehen und interessante Details über Personen und Positionen in Lukács’ letzten Jahren entdeckt.

Georg Lukács, aus dem Passierschein für den Balkanexpreß, Sommer 1917

Wo bleibt der wirkliche Marxismus in Budapest?

Ästhetik und Geschichtsphilosophie standen bei Lukács immer in einem engen Zusammenhang. Schon das Werk Die Theorie des Romans analysierte den Roman als Ausdruck von „epochaler Schuld“ (Fichte) und mündete in die Hoffnung auf eine „neue Welt“, deren „neuer Homer“ Dostojewski sein sollte. Die harte Lektion der Geschichte zwang den jungen Lukács, seinen Utopismus zu korrigieren und seine literarischen Präferenzen zu modifizieren: Flaubert wurde durch Balzac ersetzt, Sterne durch Fielding, Dostojewski durch Tolstoi (einen authentischen Bericht darüber finden wir in einem Brief, den Lukács am 31. Jänner 1940 an seinen alten Freund Bela Balazs schrieb, anläßlich ihrer Kontroversen in Moskau).

Dem Kult vom „großen Realismus“ liegt die Entdeckung des komplizierten Ränkespiels der Geschichte und der Auflösung einer geradlinigen Geschichtsauffassung zugrunde: die Achtung vor den komplexen Vermittlungsschritten des historischen Prozesses nährte während der Stalinzeit seinen Widerstand gegen die simplizistische „Polltisierung“ der Literatur ebenso wie seinen Widerwillen gegen die Vereinfachungen der Avantgardekunst.

Georg Lukács, Jahrgang 1885, aufgenommen in Budapest 1964

Eine soziohistorische Erklärung des ästhetischen und philosophischen Denkens des späten Lukács, wie es in seinen beiden letzten Meisterwerken Ästhetik und Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins Form annahm, müßte von seiner ambivalenten Einstellung gegenüber den politischen Regimen der Ostblockstaaten ausgehen. Auf der Ebene der begrifflichen Abstraktion tragen die ästhetischen und philosophischen Theoreme von Lukács das Siegel einer Haltung, die von der Realität der Stalin- und Nachstalinzeit bestimmt ist (es sind, um mit Adorno zu sprechen, „Kryptogramme“). Politisch bestand sein Programm, insofern er sich überhaupt ausdrücken konnte, in der Unterstützung von strukturellen Reformen durch konstruktive Opposition innerhalb der Gesellschaften des „realen Sozialismus“: er verstand sich als ein auf theoretischer Ebene agierender Sprecher einer effektiven Entstalinisierung dieser immer noch stark von der Praxis und der ldeologie ihrer Vergangenheit geprägten Regimes.

Nach den Ereignissen vom Herbst 1956 als Kulturminister der Regierung Imre Nagy aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen, bleibt er 11 Jahre lang außerhalb der Partei: erst 1967 darf er wieder Mitglied werden. Man muß diese Episode ins Gedächtnis zurückrufen, um die Ambivalenz von Lukács’ Haltung zu verdeutlichen: er stand mutig zu seiner Opposition gegen Stalinismus und Neostalinismus, aber er dachte nie daran, die Brücken zur Partei abzubrechen. Anläßlich seiner Wiedereingliederung in die Partei schrieb ihm Ernst Fischer im Herbst 1967 einen herzlichen Brief, in dem er von einer „Bereinigung des Falles Lukács“ sprach. Die Antwort von Lukács ist typisch für seine Zurückhaltung und Vorsicht: „Die Bereinigung des Falles Lukács scheint mir etwas Wertvolles, wenn es den Anfang eines ideologischen Regenerationsprozesses bedeutet, wozu einige Anzeichen vorhanden sind“ — schrieb er an Fischer. Gleich darauf äußerte er allerdings seine Unsicherheit, brachte seine von Ohnmacht gefärbte Skepsis zum Ausdruck: „Natürlich weiß kein Mensch heute wie die wirklichen Kräfteverhältnisse beschaffen sind, wieweit der wirkliche Marxismus sich einen Platz im öffentlichen Leben sichern kann“ (Brief vom 22. November 1967).

Als ihm einige Zeit darauf ein englischer Bekannter schrieb, daß er gerne nach Budapest kommen würde, um sich an der Universität über den „wirklichen Marxismus” zu informieren, riet ihm Lukács in seiner Antwort heftig davon ab: „An unserer Budapester Universität steht es sehr schlecht um die Lehre des echten Marxismus. An eine radikale Änderung ist unter den gegebenen Umständen in absehbarer Zeit kaum zu denken.“ (Brief an Riggins vom 2. September 1968).

Die Katakomben der Urmarxisten

Während der letzten Jahre seines Lebens hat Lukács mit Verbitterung den Widerspruch zwischen seinen Hoffnungen auf eine immer mächtiger werdende Entstalinisierung des gesellschaftlichen Lebens und dem Vordringen der konservativen Kräfte zur Kenntnis nehmen müssen. In Beantwortung eines Briefes von Adam Schaff der mit Anklängen von Verzweiflung die Situation in Polen gegen Ende des Jahres 1968 beklagte, die jedes marxistische Denken fast unmöglich machte (wir befinden uns in der Periode der Offensive der Gruppe Moczar), verhehlte der alte ungarische Denker nicht seinen Pessimismus und sah in Schaffs Schilderung eine Bestätigung seiner finsteren Vorahnungen: „Freilich ... wissen wir, daß aus dieser Gegend heute schwerlich erfreuliche Nachrichten kommen können.“

Der Einmarsch in die Tschechoslowakei wurde von Lukács ohne Vorbehalte verurteilt, wenngleich er aus Rücksicht auf die Haltung seiner Partei auf öffentliche Stellungnahmen verzichtete. Als Bertrand Russell ihn im Herbst 1968 aufforderte, einen Protestbrief gegen die Ereignisse in der Tschechoslowakei zu unterschreiben, lehnte Lukács — obwohl er persönlich die lnitiativen und Aktionen von Russell unterstützte — es ab, sich einem kollektiven Brief anzuschließen, mit dem Argument, daß die richtige Kritik an den Ereignissen in der Tschechoslowakei gerade jetzt Gefahr laufe, zu einem lnstrument des kalten Krieges zu werden.

Der Antwortbrief an Russell vom 4. November 1968 verrät dieselbe Ambivalenz der Haltung Lukács’, sein ehrliches Streben nach einer echten Entstalinisierung, begleitet von der ständigen Angst, die Sache des Sozialismus zu kompromittieren. Er will auf dem gespannten Seil der Geschichte vorwärts kommen, indem er verbissen nach einem dritten Weg zwischen Rückkehr des Stalinismus und der Preisgabe der kommunistischen Illusionen sucht. Am Ende seines Briefes an Bertrand Russell teilte er mit, daß er die Absicht habe, seine Ansichten über die „Zentralfrage vieler heutiger Konflikte“, nämlich über „das Problem von Demokratisierung“, in einer wissenschaftlichen Abhandlung zu erörtern. Dabei handelt es sich um das Manuskript der Demokratieschrift, die bis heute nicht veröffentlicht ist.

Die Lektüre der Lukács-Korrespondenz während der letzten zwanzig Jahre seines Lebens, die sich, alphabetisch geordnet, in umfangreichen Aktenordnern im Lukács-Nachlaß in Budapest befindet, gibt den Schlüssel zum Verständnis seiner Haltung. In den Briefen findet man häufig das stoische Gefühl der ideologischen Vereinsamung, eine resignative Weisheit angesichts der Unbeliebtheit eines Denkensatzes, der mit einer gewissen Wollust „gegen den Strom“ schwimmend, sich bewußt in Widerspruch zu den herrschenden Tendenzen in Ost und West stellte.

Bei meiner ersten Unterhaltung mit Lukács in Budapest im Oktober 1965 verglich er die Lage der Marxisten mit jener der Urchristen‚ die gezwungen waren, ihre Versammlungen in den Katakomben abzuhalten. Er beklagte die erzwungene lsolation oder besser gesagt den Boykott, zu dem jene verurteilt waren, die beharrlich die Linie des wirklichen Marxismus verfolgten. Als übrigens Adam Schaff sich in einem Brief im Herbst 1965 über die Hindernisse beschwerte, die der Entwicklung eines autonomen marxistischen Denkens in den Weg gelegt werden, bestand Lukács hartnäckig auf seiner Haltung und beschrieb in klaren Worten die fatale lsolation, in der sich ein authentisches nonkonformistisches und kritisches Denken per definitionem befindet: „(Unsere Tätigkeit) ist mit vielen Unannehmlichkeiten und Enttäuschungen etc. verbunden. Das ist aber unvermeidlich. Wenn wir den Marxismus wieder zu einer lebendigen Macht machen wollen, müssen wir notwendig unpopulär werden, da wir ja ein Tertium datur sowohl den stalinistischen Traditionen wie den westlichen philosophischen Vorurteilen gegenüber repräsentieren. Man kann als Marxist sich darüber nicht wundern, daß man sich in beiden Lagern zu verteidigen und den Sieg der Wahrheit zu verhindern oder wenigstens zu verlangsamen versucht“ (Brief vom 22. November 1965).

Revolutionsjahr: Lukács in Stockholm 1956

Manchmal spricht Lukács wie ein Glaubensapostel („Sieg der Wahrheit“ ist eine Formel, die eher zu einem Missionar paßt); mit dieser Verbissenheit verteidigte er eben seine Position als Outsider angesichts der in beiden Welten vorherrschenden politischen und ideologischen Strömungen. Einige Jahre darauf schrieb er einem sowjetischen Freund, der ihm die komplizierte ideologische Situation in seinem Land dargestellt hatte, einen beredten Brief: „Alles was Sie schrieben, ist sehr interessant und zeigt, wie verwirrt heute die ideologischen Fronten sind. Das ist hier und auch im Westen ebenso. Auch ich werde hier vielfach als Revisionist betrachtet, während man mich auf der anderen Seite zum Stalinisten macht. Solange die Frage, was eigentlich Marxismus ist, nicht theoretisch geklärt ist, kann sich diese Lage nicht ändern. Vor allem muß geklärt werden, daß Lenin wirklich der Fortsetzer von Marx war, während Stalin im wesentlichen eine Abwendung vom Marxismus, bestenfalls seine Vulgarisierung bedeutet. Ich versuche jetzt in einem großen Buch (Ontologie des gesellschaftlichen Seins) einige Grundfragen zu klären” (Brief vom 15. Februar 1969 an lgor Al...witsch).

Giftzwerg am Zauberberg

Als die „Naphta-Legende“ auftauchte (eine Hypothese, derzufolge Lukács Thomas Mann für seine Gestalt des kleinen terroristischen Jesuiten im Zauberberg als Modell gedient haben soll), reagierte Lukács mißmutig und scheute nicht davor zurück, in der Agitation um die angebliche Übereinstimmung zwischen Naphta und Lukács eine Art kalten Krieg gegen seine Schriften zu vermuten, um diese gerade in einem Augenblick zu desavouieren, wo seine Gedanken in manchen westlichen Ländern Anklang zu finden begannen. Als er erfuhr, daß ihn Melvin Lasky gerade in dem Moment angriff, als drei seiner Bücher in englischer Übersetzung erschienen, antwortete Lukács trocken: „Man kann nur froh sein, einen Melvin Lasky zum Feind und nicht zum Freund zu haben“ (Brief an Michael Lifschitz vom 8. August 1964).

Ähnlich Lukács am selben Tag an Professor Podach nach Heidelberg: „Was die Naphta-Angelegenheit betrifft, so ist das ein uralter Literaturklatsch. Jetzt, wo meine Schriften sich weiter verbreiten, wird er wieder aufgewärmt. Was an diesem Klatsch richtig ist, weiß ich nicht, und es interessiert mich sehr wenig.“ In seinem Brief an M. Lifschitz drückte er sich allerdings etwas nuancierter aus: „Da Thomas Mann seit jeher die Gewohnheit hatte, Abbildungen seiner Bekannten für seine Romane auszunützen, ist es nicht ausgeschlossen, daß an der Sache etwas Wahres ist. Ich finde zwar, daß vieles Äußere bei Naphta auch photographisch nicht stimmt; von der Weltanschauung sagt Thomas Mann selbst, daß sie seine eigene Erfindung ist.“

Niemand liest das Hauptwerk

Lukács hat die letzten fünfzehn Jahre seines Lebens mit der Abfassung seiner beiden großen Synthesen zugebracht: Ästhetik und Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins. Mit der Arbeit an Ästhetik begann er vor 1956, nachdem er ein Einführungswerk zur Problematik beendet hatte, die er später in seinem Opus magnum ausführlich behandelte: Das Besondere als zentrale Kategorie der Ästhetik (erstmals im Jahre 1957 bei Editori Riuniti in italienischer Sprache erschienen, mit einem Vorwort, das Bukarest, Dezember 1956 datiert ist). Die Arbeit wurde aber durch die Ungarn-Ereignisse im Jahre 1956 unterbrochen. Am 2. August 1956 schrieb er an Bottigelli: „Die italienische Reise in diesem Frühjahr sowie die ideologischen Kämpfe bei uns haben mich von der Ästhetik so abgelenkt, daß ich den ganzen Winter ausschließlich für dieses Werk verwenden will.“

Weit entfernt war er damals von der Vorstellung, daß er jenen Winter unter ganz anderen Umständen zubringen würde, nach Rumänien deportiert, zusammen mit lmre Nagy und anderen Politikern, die für den ungarischen Herbst 1956 verantwortlich gemacht wurden, nachdem sie gemeinsam die jugoslawische Botschaft verlassen hatten, in die sie geflüchtet waren. In seiner autobiographischen Schrift Gelebtes Denken, die er kurz vor seinem Tod verfaßte und die bis heute nicht veröffentlicht ist, bezeichnet Lukács diese Flucht in die jugoslawische Botschaft trotzdem als „groben Fehler“, wahrscheinlich weil er dachte, daß dieser Schritt als ein Schuldbekenntnis interpretiert werden kann.

Als er im April 1957 aus der Deportation nach Budapest zurückkehrte, stürzte er sich gleich in die Arbeit und vollendete in weniger als drei Jahren das Manuskript der Ästhetik, ein Werk von mehr als 1.700 Seiten, das er im Februar 1960 noch einmal überarbeitet. Anläßlich eines Gesprächs in Budapest gab er mir gegenüber zu, daß er Schwierigkeiten mit der Erlaubnis hatte, das Manuskript seinem deutschen Verleger zu schicken. Die Veröffentlichung in der Bundesrepublik war unter der einzigen Bedingung vorgesehen, daß er selbst Ungarn verließ. Es war zumindest die Ansicht des Parteifunktionärs, der das Manuskript las.

Am 7. Februar 1959 hatte er übrigens an Bottigelli geschrieben: „Ein wie langer Weg bis zur Veröffentlichung vor mir steht, weiß ich natürlich nicht. Ich habe auch beim Hegel zehn Jahre erwartet.“ Es handelt sich um sein Buch Der junge Hegel, das er im Jahre 1938 in der Emigration in Moskau beendete, aber erst zehn Jahre später in Zürich und Wien veröffentlichen konnte.

Die Veröffentlichung der Ästhetik bei Luchterhand im Jahre 1963 löste bei weitem nicht jenes Echo aus, das man hätte erwarten können. Auch heute noch ist dieses Werk in zwei dicken Bänden, das den großangelegten ersten Versuch einer Formulierung der Prinzipien einer marxistischen Ästhetik darstellt, weithin unbekannt und wenig diskutiert. George Steiner war einer der ersten, der ihm im Times Literary Supplement (Juni 1964) eine Rezension widmete; er wies auf die Bedeutung des Werkes hin, nicht ohne einige Vorbehalte und prinzipielle Einwände vorzubringen. Lukács schrieb ihm einen Brief, in dem er den Empfang des Artikels bestätigte und seine Überzeugung äußerte, daß die Diskussion des Buches eine Sache der Zukunft sei: „Ein so ausführliches Buch benötigt eine lnkubationszeit von einigen Jahren.“

Ernst Fischer war einer der wenigen, der gleich nach Erhalt des Buches, und dann auch während der Lektüre seine Begeisterung ausdrückte; er zögerte nicht, Lukács’ Ästhetik mit jener von Hegel zu vergleichen, auch wenn er damals schon einige Vorbehalte einfließen ließ (die er in expliziterer Form in einer Studie formulierte, welche in englischer Übersetzung in einem Lukács gewidmeten Sonderheft der amerikanischen Zeitschrift The Philosophical Forum am 3. April 1973 erschien). Als Fischer 1964 seinen älteren Freund nach neuen Reaktionen auf sein großes Werk fragte, antwortete ihm Lukács, daß er bis dato noch kein einziges „vernünftiges Echo” verzeichnen könne und fügte eine Bemerkung hinzu, die seine Verärgerung erkennen läßt: .

„Was man in Deutschland darüber äußert, sind lauter Dummheiten“ (Brief vom 12. Juni 1964).

Meine unsterbliche Seele, Herr Goldmann ...

Lukács stand schon lange vor einer paradoxen Situation: während seine Jugendwerke insbesondere unter der Intelligenz des Westens manchmal mit übertriebenem Lob bedacht wurden („genial“), setzten sich seine reifen Werke, einschließlich der Ästhetik und der Ontologie (die veröffentlichten Fragmente davon), in die er einen Gutteil seiner geistigen Energie investiert hatte, nur langsam und unter großen Schwierigkeiten durch. Das bestätigte ihn nur in der Einsamkeit seines Weges.

Lucien Goldmann, um ein typisches Beispiel zu nennen, der so viel für die Exegese der Werke des jungen Lukács geleistet hatte, hat das Erscheinen der großen Ästhetik ohne die geringste Reaktion, mit absoluter Gleichgültigkeit aufgenommen. Man muß allerdings sagen, daß Goldmann, als er Lukács sein Buch Der verborgene Gott schickte (das Lukács als ein sehr interessantes Werk einschätzte), von jener Person, die er als „den größten Denker des zwanzigsten Jahrhunderts“ glorifizierte, einen Brief erhielt, der im Grunde jeder Auseinandersetzung Goldmanns mit seinem Werk ein kategorisches Ende setzte: „Wenn ich um 1924 gestorben wäre und meine unsterbliche Seele aus einem Jenseits Ihre literarische Tätigkeit betrachten würde, so wäre sie von echter Dankbarkeit erfüllt um das intensive Eingehen auf meine frühen Werke. Da ich aber nicht gestorben bin und in diesen 34 Jahren mein eigentliches Lebenswerk geschaffen habe — dieses Lebenswerk existiert für Sie überhaupt nicht —, kann ich als lebendiger Mensch, dessen Interessen selbstverständlich auf die eigene gegenwärtige Tätigkeit gerichtet sind, sehr schwer zu ihren Dariegungen Stellung nehmen.“

Dieser am 1. Oktober 1959 abgeschickte Brief, ein Musterbeispiel Von Lukács’ Briefstil (Mangel an Flexibilität und Höflichkeit), markiert das Ende der Beziehung zwischen Lukács und Goldmann.

Lukács’ Aussagen zu seinen eigenen Werken, die sich seinen Briefen entnehmen lassen, zeigen ihn als Denker einer „Übergangsperiode“, dessen theoretische Arbeit von Suche und Unsicherheit geprägt ist. Keine Spur des typischen Selbstbewußtseins des Philosophen, der die Summe der Geschichte zieht — nach dem Muster Hegels. Lukács wies den Vergleich mit jenem zurück, wie ihn Ernst Fischer unter dem Eindruck der Ästhetik gewagt hatte. Der Gedanke, der wie ein Leitmotiv Lukács’ Briefe der letzten zehn Jahre durchzieht, war: nach der langen Nacht der Stalinzeit, die das marxistische Denken bis in seine Grundfesten pervertiert und erschüttert hat, müssen die fundamentalen Kategorien des Denkens einer radikalen Neuuntersuchung unterzogen werden; er sah seine Mission darin, mit seiner Ästhetik und seiner Ontologie des gesellschaftlichen Seins für diese Renaissance des Marxismus Pionierarbeit zu leisten.

Es finden sich auch bemerkenswert selbstkritische Erklärungen, wenn man bedenkt, daß er die in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren, in der stalinistischen Zeit, geäußerten Ansichten zur Ästhetik niemals einer ernsthaften kritischen Einschätzung unterzog; er zeigte sich nun bemüht, den „oppositionellen“ Charakter seiner Haltung gegenüber der Stalin-Schdanow-Linie zu unterstreichen: „Wir sind alle mit den Schemen [Schemata] unserer bisherigen Kunstauffassung der Vergangenheit tief uneinverstanden“, schrieb er am 23. Jänner 1961 an Ernst Fischer.

Die Dogmatismuskritik ergänzte er in jenen Jahren mit Abgrenzung von jenen, die sich im Namen der Stalinismuskritik von den Grundlagen des Marxismus entfernen wollten: „Wenn Du — selbstverständiich bei anderen Themen — an so begabte Menschen wie Kolakowski oder Lefebvre denkst, kannst Du diese Gefahr deutlich ersehen.“

Nur ganze Menschen, lieber Ernst Fischer!

Auf Fischers Brief aus Wien vom 5. Juni 1964, in dem er für seine Ästhetik mit Lob überhäuft wird, antwortete er mit der Bereitschaft, Einwände und Kritiken entgegenzunehmen, auch wenn er jene, die er bis zu diesem Zeitpunkt erhalten hatte, mit Verachtung zurückwies: „Mit alledem meine ich garnicht, daß an dem Buch nicht sehr viel Problematisches sein muß. Darum bin ich sehr begierig, Deine Bedenken und Einwände zu hören. Der Vergleich mit Hegel ist natürlich sehr schmeichelhaft, aber auch übertrieben. Abgesehen vom Unterschied der Begabungen konnte Hegel eine Periode abschließen, während meine Ästhetik nicht viel mehr ist als eine Anregung für eine neu beginnende Aufschwungsperiode des Marxismus“ (Brief an Fischer vom 12. Juni 1964).

Die Unterschiede zwischen den Ästhetikauffassungen von Lukács und Ernst Fischer verdienen eine nähere Betrachtung. Fischer erwies sich als zunehmend offen für die Werke der literarischen Avantgarde des zwanzigsten Jahrhunderts und spendete in seinen Artikeln Schriftstellern wie Joyce, Musil oder Beckett großes Lob. Lukács verteidigte unnachgiebig‚ wenn auch differenziert, seine grundlegende Kritik an diesen Schriftstellern und versuchte in seinen Briefen die tieferliegenden Gründe für eine rigoristische Ästhetikauffassung darzulegen, eine Haltung, die ihm scharfe Kritik und Angriffe einbrachte (unter anderem den berühmten Artikel von Adorno in der Zeitschrift Der Monat unter dem Titel Erpreßte Versöhnung aus dem Jahre 1958.

Nur nicht zu modern! (Lukács 1961)

Man darf nicht vergessen, die Grundlinien von Lukács’ Ästhetik sind der Mensch in seiner Ganzheit und die Vielschichtigkeit des Lebens. Nachdem er sich damit abgefunden hatte, daß unser Zeitalter eine „Übergangsperiode“ ist, also eine Zeit tiefer Krise der alten Werte, seien es nun jene des kapitalistischen Westens oder die des „Kasernensozialismus“ à la Stalin, und des tastenden Vordringens neuer Werte, hielt er sich für befugt, die Schriftsteller und Künstler danach zu fragen, wie sie diese Krise in ihre Arbeit einbrachten und insbesondere wie sie dieses Gefühl der Krise meisterten durch intensive Arbeit an ihrer eigenen Subjektivität und durch eine Verwurzelung in der „Unzerstörbarkeit der menschlichen Substanz“, wie Lukács es nannte.

1958 veröffentlichte Ernst Fischer in der Zeitschrift Sinn und Form einen Artikel mit dem Titel „Die Mystifikation der Wirklichkeit“, in dem er nicht nur Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, wie Melville, oder des 20. Jahrhunderts, wie Majakowski, Brecht, Laxness oder O’Casey, als Vertreter einer humanistischen Literatur lobte, und sogar von Musil als einem „großen Schriftsteller“ und von Joyce, Pound und Gottfried Benn als wichtigen Künstlern und Schöpfern bleibender Werte sprach. Lukács nahm diesen Artikel zum Anlaß, um in einem Brief vom 2. November 1958 zu versuchen, den „subtilen Unterschied“ zwischen ihm und Fischer in der Ästhetik zu erörtern.

Lukács’ Ausgangspunkt war eine Reflexion über die mächtigen und vielfältigen Bedrohungen, denen der Mensch in unserer Epoche ausgesetzt ist; in dem zitierten Brief an Fischer konzentrierte sich sein Hauptinteresse auf die literarische Wiedergabe der Krise: „Die Komplikation entsteht auch daraus, daß Verzerrungen am Bild des Menschen auch in tragischer Weise vor sich gehen, d.h. von Menschen, die das Gute wollen, tief an den Verzerrungen leiden, die subjektiv meinen, gegen diese anzukämpfen. Ich glaube, die Differenz zwischen uns besteht darin, daß ich — obwohl ich alle diese Motive ebenfalls verstehe — doch intensiver für die lntegrität dieses Bildes eintrete (so eine Differenz ist zwischen uns in der Beurteilung Musils).“

Lukács nahm die Gelegenheit zum Anlaß, um einige Bemerkungen zu diesem Hauptpunkt seines ästhetischen Denkens anzubringen: die Verteidigung der menschlichen Integrität, ausgehend von einer sehr hoch gesteckten Vorstellung von der Substanz des Menschen, gab Anlaß für die Angriffe, denen sein 1958 erschienenes Büchlein Wider einen mißverstandenen Realismus ausgesetzt war, Angriffe, die oft aus einem völligen Unverständnis seiner tiefsten Gedanken herrührten (es stimmt, daß Adorno zum Beispiel in dem oben zitierten Artikel fand, Lukács verschaffe, ohne es zu wollen, der sowjetischen Position ein „ruhiges Gewissen“). „Diese Unverstandenheit muß man auf sich nehmen“, schrieb Lukács an Ernst Fischer. Er sah sich als unverstandener Denker.

Steckenbleiber Musil, Plebejerdemokrat Solschenizyn

Jahre später findet man denselben Gedanken, diesmal aus einer historischen Argumentation heraus entwickelt, in einem Brief an einen seiner bevorzugten Briefpartner, den italienischen Germanisten Cesare Cases. Lukács schreibt über Musil, den er dem Schriftsteller gegenüberstellt, der für ihn überragenden Wert hat, Thomas Mann: „Ich meine, daß die heute als ausschlaggebend betrachtete Schriftstellergeneration mehr historische Wendungen durchgemacht hat als je eine vor ihr (Erster Weltkrieg, Revolutionen von 17-18, Faschismus, Zweiter Weltkrieg, die beginnende Wendung heute); Nun besitzen sehr wenige Schriftsteller das Prinzip des ‚Stirb und werde‘ in dem Ausmaße von Thomas Mann. Sie haben das Steckenbleiben bei Musil ausgezeichnet gesehen. Ich weiß nun nicht, ob es nicht möglich wäre‚ einen Uberblick über diese Literatur von diesem Standpunkt aus zu geben, nämlich darzustellen, wie das Verstehen oder Nichtverstehen einer Wendung künstlerisch gewirkt hat und wo die Quellen der Bewährung oder des Versagens liegen“ (Brief vom 5. Jänner 1966).

Die Wärme, ja der Enthusiasmus, mit der er Solschenizyns Novelle Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch und seine ersten Romane Der erste Kreis der Hölle und Krebsstation aufnahm, läßt sich eben aus seiner Überzeugung erklären, daß zum ersten Mal die große historische Krise des Stalinismus seinen entsprechenden literarischen Ausdruck gefunden hat. Bereit, in dem von Solschenizyn eingeschlagenen literarischen Weg eine mögliche Regeneration des „sozialistischen Realismus“ zu sehen (wobei der Begriff in seiner rigorosen Auffassung, die er ihm gerne verlieh, absolut im Widerspruch stand zum verschönernden Realismus der gängigen Interpretation), legte Lukács Wert darauf, einen seiner sowjetischen Freunde in einem Brief vom 15. Februar 1969 zu warnen, daß Solschenizyn seiner Meinung nach vom ideologischen Standpunkt eher „ein plebejischer Demokrat“ sei und in keinem Fall „ein marxistischer Kommunist (im guten Sinne)“. Aus der Bemerkung in Klammer muß man schließen, daß Lukács „gute“ und „böse“ Kommunisten klar unterschieden wissen wollte. Was seine ideologische Einschätzung von Solschenizyn betrifft, würde das eine eigene Diskussion erfordern.

Lukács als „Majakowski“

Adorno im Grandhotel Abgrund

Von der Arbeit an seinen großen theoretischen Werken gegen Ende seines Lebens völlig in Anspruch genommen, reagierte Lukács nur selten auf Kritik; wenn er mit Gegnern diskutieren mußte, begnügte er sich mit kurzen Bemerkungen und begab sich absichtlich in das Reich der großen Prinzipien. Die polemischen Vorwürfe eines Sartre oder eines Adorno sind ohne direkte Antwort geblieben. Er hat sich nie näher mit den Schriften der Frankfurter Schule befaßt. Die gelegentlichen Bemerkungen zu dem einen oder anderen Vertreter dieser Schule in seinen Briefen sind deshalb von besonderem Interesse.

Schon in seinen Gesprächen (mit Kofler, Abendroth, Holz) hielt er es für angebracht, den Geist dieser Schule in eindeutig polemischer Absicht als eine einfache „Sezession“ innerhalb des deutschen universitären Akademismus abzutun. Seine im Vorwort zur Theorie des Romans (1962) formulierte Bemerkung über den konformistischen Charakter des „Nonkonformisten“ Adorno ist bekannt. In einem Brief an Cesare Cases vom 12. August 1967, in dem er seinem Briefpartner auf eine Frage zur Negativen Dialektik von Adorno antwortete, liest man: „Die Negative Dialektik Adornos habe ich bis jetzt nicht gelesen, obwohl auch Agnes Heller sagt, daß sie stellenweise ganz interessant ist. Ich muß sagen, daß mir dieses ‚respektable‘ Revolutionärtun höchst zuwider ist.“ Offenbar konnte Lukács für Adornos Gleichsetzung von Logik des Kollektivs und „repressiver identität“ keine Sympathie aufbringen.

Wandlungen eines Gesichts: Lukács (in Berlin 1948)

Als ich Lukács gegen Ende der sechziger Jahre zuletzt besuchte, war er dabei, die Negative Dialektik von Adorno zu lesen. Im Gespräch betonte er den radikalen Unterschied, der ihn in der philosophischen Problemstellung sowohl des Kapitals als auch der Freiheit von Adorno trennte. „Adorno leugnet das Wesentliche des freien Handelns: die Tatsache, daß es sich auf Alternativen gründet“, sagte Lukács ungefähr. Als ich ihn bat, mir den Adornoschen Text anzugeben, der diese Behauptung rechtfertigt, stand er von seinem Schreibtisch auf und ging raschen Schritts in die Bibliothek, wo er die Negative Dialektik zur Hand nahm und mir auf Seite 223 der deutschen Erstausgabe eine mit grünem Stift angezeichnete Fußnote zu lesen gab. Ich zitiere hier zwei Sätze, die aus der von Lukács beanstandeten Passage entnommen sind: „Frei wäre erst, wer keinen Alternativen sich beugen müßte, und im Bestehenden ist es eine Spur von Freiheit, ihnen sich zu verweigern. Freiheit meint Kritik und Veränderung der Situationen, nicht deren Bestätigung durch Entscheidung inmitten ihres Zwangsgefüges“ (T.W. Adorno: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt 1973, S. 225 f.).

Lukács als „Tito“ (Wien 1920)

Mit dieser Bemerkung berührte Lukács die Grundlagen seiner Meinungsverschiedenheiten mit Adorno: für ihn gab es keinen teleologischen Akt, der nicht in objektiven Kausalreihen verwurzelt wäre; die Wahl zwischen genau umrissenen Alternativen schien ihm in jeder freien Handlung angelegt. Während sich Adorno hinter der Antinomie zwischen der Unreduzierbarkeit des Individuellen und dem repressiven Druck der „Allgemeinheit” (bei ihm ein Synonym für „Kollektiv“) verschanzte, womit er notgedrungen zu einer sehr pessimistischen Geschichtsauffassung gelangte, blieb Lukács von der Möglichkeit der Überwindung der Negativität über die Wechselfälle und Vermittlungsschritte der Geschichte hin überzeugt.

Eine Stelle aus der Negativen Dialektik, die sich auf den Tod bezog und den positiven Diskurs über den „Sinn des Lebens“ verwarf, kommentierte Lukács mit einem einzigen Wort: Semprun; er bezog sich auf das Buch Le grand voyage von Jorge Semprun, das er sehr bewunderte und das er gerne als Ausgangspunkt für einen seiner Lieblingsgedanken heranzog: die Nichtresignation und die Nichtkapituiation vor dem Bösen.

Marcuse, Bloch — die kenn ich doch noch?

Zu Herbert Marcuse findet man in einem an Ernst Fischer gerichteten Brief (der Lukács geschrieben hatte, er habe Marcuse in Salzburg getroffen) eine für Lukács symptomatische Bemerkung (Lukács hat wohl für die Kritik der spätkapitalistischen Gesellschaft im Eindimensionalen Menschen Sympathie gehabt, aber auch starke Vorbehalte hinsichtlich einer Synthese von Freud und Marx): „Das Gespräch mit Herbert Marcuse ist wahrscheinlich sehr interessant gewesen. Das, was ich von ihm gelesen habe, ist eine originelle Mischung aus Wahrem und Falschem“ (Brief vom 22. November 1967).

Was Ernst Bloch anlangt, so hat sich die Beziehung der beiden alten Freunde in der letzten Periode ihres Lebens abgekühlt, wie eine Passage eines Antwortbriefes an Professor Podach aus Heidelberg zeigt: „Was Bloch betrifft, war ich in meiner frühen Jugend mit ihm gut befreundet. Er ist sicher ein geistvoller Mensch und ein guter Stilist. Aber für Prinzip Hoffnung kann ich kein Interesse aufbringen“ (Brief vom 13. Jänner 1964).

Brecht hat gegen sich recht

Schließlich wollen wir noch bei einem Problem verweilen, das seit Jahren der Kritik Stoff geliefert hat: die Beziehung zwischen Lukács und Brecht. Lukács maß den ästhetischen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Brecht keine besondere Bedeutung bei. Nicht ohne Erstaunen und sogar Verärgerung mußte er feststellen, daß eine Anzahl seiner Freunde Brechtzitate als explosives Material gegen seine ästhetische Theorie ansahen. Er gab vor, das was er in einem Brief an Cesare Cases „die sogenannte Brecht-Lukács-Frage“ nannte, nicht allzu ernst zu nehmen: „Ich glaube jeder von uns beiden war für die Entwicklung des anderen eine so episodische Figur, daß die große Literatur über diese Beziehung ein Streit um des Kaisers Bart ist“ (Brief vom 17. November 1966).

Als man ihm mitteilte, in den posthum entdeckten Schriften Brechts seien Texte von äußerster Heftigkeit gegen einige seiner Artikel aus den dreißiger Jahren enthalten (man erzählte ihm von einem Buch Helge Hultbergs über die Ästhethischen Anschauungen Bertolt Brechts), wollte er die Sache mit souveräner Gleichgültigkeit vom Tisch wischen: „Was meine Beziehung zu Brecht betrifft, so muß ich sagen, daß ich sehr wenig Interesse dafür habe, was aus dem Nachlaß über mich herauskommen wird“ (Brief vom 20. 2.1967).

Lukács drückte in seinen Gesprächen oft sein Bedauern darüber aus, Brechts Werk keine ausführliche kritische Studie gewidmet zu haben. Er gab bereitwillig zu, daß die wenigen Seiten zu Brecht, die er in die Luchterhand-Ausgabe seiner Werke eingeschoben hatte und die übrigens auch im Vorwort zur Neuauflage seiner Skizze einer Geschichte der neueren deutschen Literatur aufscheinen, ungenügend seien als Ersatz für die Analyse eines Schriftstellers, den er als den „größten realistischen Dramatiker seiner Zeit“ bezeichnete.

Besuchern, welche die Kritik Brechts an ihm erwähnten, erzählte er gerne von dem Besuch, den ihm Brecht im Jahre 1941 auf der Durchreise in Moskau (auf dem Weg in die Vereinigten Staaten) abstattete: damals hätte ihm Brecht gesagt, es gebe Leute, die versuchten, ihre Meinungsverschiedenheiten aufzubauschen und Zwietracht zwischen ihnen zu säen; sie beide sollten sich diesen Versuchen in den Weg stellen und einen Akt der Solidarität setzen. Andererseits ist aber nicht sicher, ob Lukács die schärfsten Stellen gegen ihn in Brechts Nachlaß überhaupt zu Gesicht bekommen hat.

Er betonte die freundschaftlichen Beziehungen, die in den letzten Jahren zwischen ihnen bestanden, und die Tatsache, daß die Witwe nach Brechts Tod den Wunsch äußerte, er solle die Grabrede halten. Aus dem Brief, den Helene Weigel ihm aus Berlin am 16. August 1956 schrieb: „Als einen von Brechts engsten Freunden bitte ich Dich zu seinem Begräbnis, am Freitag um 9 Uhr, auf den Dorotheenfriedhof in der Chausseestraße. Da Brecht den Wunsch hatte, daß nur seine engsten Freunde dabei sein sollen, bitte ich um absolute Diskretion, Deine (Helene Weigel).“

Stalinist Brecht vs. Lib-Lukács?

Wir wollen mit diesen biographischen Details und mit den Lukács-Zitaten nicht die Bedeutung der ästhetischen Meinungsverschiedenheiten zwischen ihm und Brecht herunterspielen. Die Tatsache, daß diese Meinungsverschiedenheiten nicht nur ästhetischer Natur waren, sondern in sehr unterschiedlichen politischen Positionen während der dreißiger Jahre wurzelten, wird von Lukács in einem Brief an Hans Mayer aus dem Jahre 1961 explizit bestätigt. Lukács erinnert an den Geist der Rede, die Brecht im Jahre 1935 anläßlich des ersten Kongresses antifaschistischer Schriftsteller in Paris hielt und in der er eine Klassenlinie im antifaschistischen Kampf vertrat, gegründet auf den Antagonismus Proletariat/Bourgeoisie, während Lukács ein Anhänger der „Volksfront“-Politik auf Grundlage einer breiten Allianz aller demokratischen Kräfte im Kampf gegen die Nazis war.

Auf der literarischen Ebene drückte sich das in dem Widerspruch zwischen dem Prinzip der „organischen Anordnung“ von Situationen und Personen, in der Achtung vor der Feinstruktur der Wirklichkeit aus, ohne Angabe der Komplexität der Vermittlungsschritte (der von Lukács eingenommene Standpunkt), und dem Prinzip des „didaktischen Theaters“ (Brecht), in dem „Verfremdungseffekt“ und „Montage“ vom Autor programmatisch eingesetzt werden. Lukács hat bis zum Ende beharrlich die scheinbar paradoxe These vertreten, daß Brecht seine bedeutendsten Werke in seiner letzten Periode nicht wegen seines ästhetischen Programms, sondern diesem entgegen geschaffen habe. Ein Brief an Cesare Cases vom 17. September 1966 beinhaltet eine solche Stelle. Lukács regte seinen Freund zu einer kritischen Studie an, die aufzeigen sollte, daß die Größe von Brechts Stücken (er spielte dabei auf die letzte Periode an, die mit Mutter Courage ihren Anfang nahm) vom „Triumph des Realismus“ (ein Wort von Engels auf Balzac) herrührt und von den Absichten und dem Programm des Autors unabhängig ist: „Nämlich daß Brecht nicht aus modernistischen Theorien heraus Großes geschaffen hat, sondern gegen seine Theorien. Ich pflege zu sagen, daß Brecht mit großer dichterischer Intuition die Tochter der Mutter Courage als stumm gestaltet hat, damit in der letzten großartig tragischen Szene jeder ,Verfremdungseffekt‘ von vorneherein unmöglich wird.“

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