Grundrisse, Nummer 25
März
2008
Venezuela:

Mit Verfassungsreferenden zur sozialen Befreiung?

Randglossen zum Exodus aus der zum Untergang bestimmten Weltzivilisation des Kapitals

Am 2. Dezember 2007 sind die hauptsächlich von Chávez einerseits sowie von den Chávisten in der Nationalversammlung andererseits vorgeschlagenen Verfassungsreform-Pakete in einem Referendum jeweils knapp gescheitert, das Nationalversammlungspaket noch etwas deutlicher als das hauptsächlich von Chávez initiierte. Entgegen den Befürchtungen, die die Internationale der einäugigen Human Rights & Democracy-Wächter vor der Abstimmung eifrig an die Wand der Weltöffentlichkeit gepinselt hatten, hat Chávez noch am Tag seiner Niederlage diese als solche anerkannt und dabei sogar zugegeben, dass ein solches Ergebnis besser sei, als ein knapper Sieg der Befürworter gewesen wäre. „Por ahora“ (vorläufig einmal, fürs Erste) wird es also nichts mit den Reformvorhaben, zumindest nicht auf der Verfassungsebene. Präsident, Regierung und Staat müssen also weiterhin im Rahmen der am 15. Dezember 1999 in einem Referendum beschlossenen Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuela agieren.

Dem Prozess der bolivarischen Transformation möge nichts Schlimmeres passieren. Es bleibt zu hoffen, dass die Bolivarische Bewegung aus dieser taktischen Niederlage richtige Schlussfolgerungen zieht und dabei nicht zuletzt auch damit beginnt, ihre Chávez-, Staats- und Verfassungszentriertheit als prärevolutionär-populistische „Muttermale der alten Gesellschaft“ (Marx) abzustreifen.

In Venezuela und in der internationalen Solidaritätsbewegung wird der Ausgang des Verfassungsreferendums von verschiedenen Seiten dahingehend interpretiert, dass sich darin ein weiteres Mal zeige, dass „die Leut“ zu blöd sind für den Sozialismus, den wohlmeinende revolutionäre Führungen der Bevölkerung angedeihen lassen wollen. Ich möchte hier den gegenteiligen Ansatz in Anschlag bringen, also behaupten, dass „die Leute“ häufig klüger sind, als ihre revolutionären Führungen und Letztere gut daran täten, ganz bescheiden „von den Massen zu lernen“ (Mao).

Als „Beweis“ für die Blödheit der Leut´ wird genommen, dass im Reformpaket ja auch der 6-Stunden-Tag und eine Sozialversicherung für informell Beschäftigte enthalten gewesen seien. Die Leut´ hätten also von der Opposition und deren Medien verhetzt gegen ihre eigenen Interessen abgestimmt? Nun ja, welche Leut´? Wie viele arbeiten denn in Venezuela tatsächlich Vollzeit? Oder anders gefragt: Was hat eine Frau vom 6-Stunden-Tag, die ihre Kinder und einen perspektivlos saufenden Arbeitslosen zu versorgen hat? Kommt Hugo nach 6 Stunden und macht den Abwasch, bringt die Kinder zu Bett und holt dann spätnachts den besoffenen Gatten aus der Spelunke und überlegt sich zwischendurch, wo und wie am nächsten Tag die Lebensmittel zu organisieren sein werden? Und wenn die Ernte einzubringen ist, können dann die Landarbeiter die Körbe nach 6 Stunden fallen lassen, weil eine bolivarische Eingreiftruppe kommt, und die restliche Ernte einbringt? Was ist mit den ambulanten StraßenhändlerInnen, den Kindern, die an den Kreuzungen stehen, um die Windschutzscheiben der haltenden Autos zu putzen, den GelegenheitsjobberInnen, den BettlerInnen, den Hausbediensteten, den Wäscherinnen und Näherinnen, abenteuernden Ablegern der Oberklassen, den StraßenmusikantInnen, TaschenspielerInnen, den AbfallsammlerInnen, den Haftentlassenen, den SexarbeiterInnen, den BerufsspielerInnen und den Kleinkriminellen? Ist also für die, die man in früheren Zeiten und in bevorzugteren Weltgegenden la bohème genannt hat, dann auch nach 6 Stunden Schluss, nur weil das in der Verfassung so steht? Und auch mit der Sozialversicherung ist es halt für all jene, die nicht wenigstens teilweise irgendwo offiziell angemeldet jobben so eine Sache. Und mit der vagen Hoffnung, dass die dann schon irgendwann (mit dem vollen Greifen der Durchindustrialisierung?) alle eine „ordentliche Beschäftigung“ ergattern würden, die unter Umständen Mitte des XIX. Jahrhunderts noch denkmöglich war, sollte es am Beginn des XXI. Jahrhunderts bei allen, die keine totale Realitätsverweigerung zustande bringen, wohl auch endgültig vorbei sein.

Die so genannte soziale Seite der Verfassungsreform stellt sich also als totales Minderheitsprogramm heraus. Das ist aber natürlich noch überhaupt kein Argument, dass 6-Stunden-Tag und Ausweitung des Geltungsbereichs der Sozialversicherung nicht auch als Minderheitsprogramm verwirklicht werden sollten, aber eben nicht unbedingt als Gegenstand eines Verfassungsreferendums, sondern im Zuge einer gewerkschaftlichen Kampagne, deren Ergebnis dann als Generaltarifvertrag von UNT (Nationale Arbeiterunion) und CTV (Konföderation der Arbeiter Venezuelas), den beiden Gewerkschaftsdachverbänden, sowie Fedecámaras (Venezolanische Handels- und Produktionskammer) und den zuständigen Staatsministerien unterzeichnet wird. Das hätte zusätzlich den Vorteil, dass sich dabei wahrscheinlich auch die CTV und Fedecámaras, zwei wesentliche Stützen der Chávez-Opposition, zumindest für die Öffentlichkeit in die Haare geraten müssten, ohne dass die Frage pro oder contra Chávez, die in ihrer Binarität ohnehin schon die längste Zeit höchst notwendige gesellschaftliche Debatten und Auseinandersetzungen blockiert und gesellschaftliche Konstellationen zementiert, alles wieder zudecken könnte.

Es bleibt auch fragwürdig, warum und nach welchen Kriterien gruppiert die verschiedenen Themen der Verfassungsreform in zwei Blöcke sortiert nur en bloc abgestimmt werden konnten, es sei denn, es ist bloß darum gegangen, die Verlängerung der Amtszeit des Präsidenten und die Möglichkeit zur Wiederkandidatur von Chávez entsprechend „sozial“ und „partizipativ“ aufgemascherlt und verpackt zur Abstimmung zu bringen, und jede eingehendere Debatte wieder einmal nur auf ein pro oder contra Chávez herunterzubringen. Dass dieser Versuch an den Wahlurnen gescheitert ist, ist uneingeschränkt zu begrüßen, denn es gehört keineswegs zum progressiven Erbe der bisherigen Revolutionen, dass sie nahezu ausnahmslos in lebenslange Herrschaft für den Aufstandsführer, mitunter seiner ganzen Familie eingemündet und nur allzu häufig mit seinem Tode auch untergegangen sind. Eine solche Refeudalisierung der politischen Öffentlichkeit bringt schließlich auch eine Fixierung auf Verdienste der Vergangenheit zum Ausdruck, wo doch der Aufstand eigentlich „nur“ das Tor aufstoßen sollte zu einer Transformation der Gesellschaft in eine befreite Zukunft, in der noch keiner war und über die daher auch keiner „wissenschaftlich“ und ein für allemal Bescheid wissen kann.

So positiv die nunmehr auch verfassungsmäßig gebotene Pluralisierung der bolivarischen Bewegung an sich daher auch zu bewerten ist, bleibt sie wie alles im Leben natürlich nicht ohne Risiko, denn totsicher ist nur der Tod. Absehbar ist derzeit leider erst, dass sich um Raúl Baduel, einem Mitverschworenen der ersten Stunde aus dem Fallschirmjäger-Regiment in Maracay und dem entscheidenden antiputschistischen Militär vom April 2002, nach seinem Aufruf, gegen die Verfassungsreform zu stimmen, so etwas wie ein rechter Flügel der bolivarischen Bewegung herausbildet. (Anhänger des Binärdenkens schlagen ihn gleich ungeschaut und teilweise als self-fulfilling prophecy funktionierend der antibolivarischen Opposition zu, was noch keineswegs ausgemacht ist.) Dabei wäre auch links von Chávez noch jede Menge Platz und es auch insgesamt hoch an der Zeit, dass die zivile und vor allem auch die weibliche Seite der Bolivarischen Bewegung Gesicht bekommt und gesellschaftliche Statur gewinnt. Das pueblo ist nämlich keineswegs so einheitlich/vereinheitlicht wie der Propaganda-Slogan „Con Chávez el pueblo es el Gobierno“ zusammen mit seiner Repräsentationsmystifikation transportiert.

Und auch das Feld, auf dem sich ein solcher linker Flügel zuallererst und in erster Linie zu bewähren hätte, ist seit dem Referendum auf das Deutlichste markiert, denn es ist vor allem in den Barrios von Caracas für Chávez verloren gegangen: viele Barrio-Bewohner sind diesmal zu Hause respektive bei ihren diversen Beschäftigungen geblieben. Das unbestreitbar große Showtalent von Chávez reicht offenbar nicht mehr aus; ihre große Bereitschaft zu hoffen hat sich mit den Jahren, so scheint es, doch erschöpft: Es macht uns (s)ein Geschwätz nicht satt, es schafft kein Essen her (Brecht). Was die Oberklassen und leider auch allzu viele allzu ordnungsverliebte Traditionsmarxisten als den Mob ansehen und nur aus großer Distanz mit tiefem Misstrauen beäugen, hat revolutionären Prozessen schon häufig aus der Patsche geholfen. Jetzt scheint in Venezuela eine Situation herangereift zu sein, in der just diese Menschen von den Hügeln um Caracas den bolivarischen Prozess entscheidend voranbringen können, indem sie sich für ihre ureigensten Anliegen und Angelegenheiten kraftvoll einsetzen und effektiv organisieren. Es möge gelingen!

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