MOZ, Nummer 49
Februar
1990
Gewerkschaften:

Mit wem zieht die neue Zeit?

Die modernsten und flexibelsten Unternehmer sind gestärkt aus den technologischen Umstrukturierungen der 80er Jahre hervorgegangen. Die Gewerkschaften hingegen haben im Zuge der Rationalisierungen Machteinbußen erlitten.

Wie stark und warum sich die ehemaligen Kampforganisationen der Arbeiter/innen in der Defensive befinden, darüber diskutierten in den Räumen der MONATSZEITUNG:

Ulrich Briefs, Gewerkschafter und Bundestagsabgeordneter der BRD-Grünen in Bonn; Peter Michael Lingens, Herausgeber der „Wochenpresse“;
Helmut Oberchristl, Arbeiterbetriebsratsobmann der VÖEST.
Das Gespräch führte Hannes Hofbauer.

(v.l.n.r.) Hannes Hofbauer, Helmut Oberchristl, Peter Michael Lingens, Ulrich Briefs
Hofbauer: Ganz unzweifelhaft hat sich heute, am Beginn der 90er Jahre, das Kräfteverhältnis von Kapital und Arbeit zugunsten des Kapitals verschoben. Was sind die entscheidenden Faktoren dafür?

Lingens: Ich möchte zurückfragen, woraus Sie ableiten, daß sich das Verhältnis von Kapital und Arbeit so verschoben hat, wie Sie es darstellen?

Hofbauer: Allein aus der Tatsache, daß ÖGB-Präsident Benya in jeder Nachrichtensendung aufgetreten ist und sein Nachfolger Verzetnitsch so gut wie niemals im Fernsehen zu sehen ist.

Lingens: Das sagt aber nur aus, daß Benya die Fähigkeit besessen hat, in den Medien präsent zu sein. Meinetwegen ist das auch ein Indiz dafür, daß die Gewerkschaften an Bedeutung verloren haben, aber warum Sie daraus eine Verschiebung des Kräfteverhältnisses von der Arbeit zum Kapital ableiten, interessiert mich.

Briefs: Wenn man sich die Veränderungen in den Betrieben ansieht, stellt man fest, daß sich der Kapitaleinsatz pro Arbeitsplatz in den letzten 20 Jahren im Durchschnitt verfünffacht hat. Ein Beispiel: In der Aachener Bergbauregion investiert jetzt der japanische Konzernriese Mitsubishi in eine Chipsfabrik — nicht in Kartoffelchips, sondern in integrierte Schaltungen — und gibt für 300 Arbeitsplätze 600 Mio. DM aus, das heißt, jeder Arbeitsplatz kostet 2 Mio. DM (= 14 Mio. öS). Wenn man das jetzt in Kosten umrechnet, heißt das, daß im Verhältnis zu den Lohnkosten etwa der 15fache Betrag an Gemeinkosten des Kapitals anfällt.

Lingens: Das ist — was dieses Beispiel betrifft — einleuchtend. Wie groß ist aber die Zahl solcher Betriebe? Bei der Mehrheit der Betriebe sind nach wie vor die Lohnkosten die höchsten Kosten. Daher kann ich mich allenfalls damit anfreunden, zu sagen, daß eine Verschiebung stattgefunden hat, aber es ist allgemein betrachtet noch nicht so, daß wir von einem die Lohnkosten übersteigenden Kapitaleinsatz sprechen können.

Oberchristl: In Österreich ist der Kapitalzuwachs viel höher als der Zuwachs der Arbeitnehmereinkommen, die um etwa 5% zurückgeblieben sind. Die Einkommen aus Kapital sind in den letzten Jahren viel höher gestiegen als die Einkommen aus Löhnen und Gehältern.

Lingens: Das Wort Kapital hat immer so einen Zusatzgeruch. Man müßte korrekter sagen, daß der Anteil der Lohnkosten im Verhältnis zum Anteil jener Kosten, die die Unternehmen für Investitionen im Maschinenbereich aufbringen müssen, sinkt.

Briefs: Diese Verschiebung ist freilich auch an den Arbeitsplätzen direkt spürbar. Der Arbeiter und der Angestellte wird von immer mehr Technik umgeben.

Wir haben uns mit einer linken Betriebsgruppe im VW-Werk die Bilanzen der letzten sieben Jahre angesehen, von 1980 bis 1986. Da ist folgendes zu bemerken: 1980 lag der Anteil der Personalkosten insgesamt — also einschließlich Altersversorgung und Sozialabgaben — bei 25%; 1986 lag derselbe Anteil nur mehr bei 20%. Jetzt könnte man argumentieren, daß der immer geringer werdende Anteil der Lohnkosten einen Bedeutungsverlust der Lohnarbeit überhaupt verursacht. Aber es ist genau umgekehrt. Je mehr Kapital pro Arbeitsplatz eingesetzt ist, je höher also die Fixkosten sind, umso größer wird der Druck auf die verbleibenden Kosten. Der Unternehmer muß natürlich sehen, daß er die hohen Fixkosten wieder hereinbekommt. Das führt dann auch zwangsläufig zu Konzentrationsprozessen, weil der Unternehmer ökonomisch gezwungen ist, seine immer teurer werdenden Produktionsapparate möglichst hochgradig auszulasten, um die riesigen Fixkosten reinzubekommen.

Lingens: Zweifellos gibt es diesen Druck auf die Einkommen, aber der ist nicht unbedingt eine Folge der aktuellen technologischen Entwicklung. Das war immer schon so. Der Druck des — nennen wir es — Kapitals ist solange unvermindert angewachsen und hat den Arbeiter bis an die Grenze seiner Möglichkeiten — verwenden wir auch einmal dieses Wort — ausgebeutet, als die Gewerkschaften keinen Widerstand entgegengesetzt haben und nicht imstande waren, zu sagen, wir lassen diesen Druck nicht zu. Da gibt es etwas tendenziell Neues, was in der Tat mit den Problemen der Gewerkschaft zusammenhängt. Wenn wir uns auf ein Denkexperiment einlassen und sagen, daß jemand imstande wäre, jede Arbeit durch eine Maschine herzustellen, dann ist er umgekehrt auch imstande, zu sagen, daß er überhaupt niemandem mehr etwas bezahlt.

Gegenargument: Wenn er überhaupt niemanden bezahlt, wird ihm auch niemand mehr die Waren abkaufen können, die er produziert hat. Daher sind sich auch alle Verfechter eines aufgeklärten Kapitalismus einig, daß ein solches System schwachsinnig wäre. Aber: Tendenziell kann man natürlich eine Gesellschaft konstruieren, in der eine relativ kleine Gruppe viel konsumiert und eine relativ große Gruppe vergleichsweise ausgegrenzt ist. Vom Prinzip her schaffen sehr, sehr gute Maschinen diese Möglichkeit. Aber sie schaffen auch die Möglichkeit, daß die Leute Gott sei Dank wenig arbeiten müssen und trotzdem über eine ansehnliche Menge an Gütern verfügen. Diese beiden Varianten sind denkbar als Reaktion auf die aktuelle technologische Entwicklung.

Ein weiterer Grund des Machtverlustes der Gewerkschaften ist, daß die sogenannte industrielle Reservearmee auf die Löhne drückt. Das bedeutet auch, daß die Angestellten nicht mehr in dem Ausmaß ihre Lohnforderungen durchsetzen können. Deshalb meine ich auch, daß die Gewerkschaft einen großen Fehler begeht, indem sie sich kaum der Arbeitslosen, sondern nur der Arbeitenden annimmt. In Wirklichkeit ist das Schicksal der Arbeitenden extrem von der Situation der Arbeitslosen beeinflußt. Die Gewerkschaft hat die Solidarität mit den Arbeitslosen vernachlässigt, und das ist zu ihrem eigenen Schaden passiert. Wenn die Gewerkschaft diesen Zustand zuläßt, beschneidet sie sich ihrer Kampfmöglichkeiten, denn wie soll es zum Beispiel einen erfolgreichen Streik geben, wenn tausende — von der Gewerkschaft nicht betreute — Arbeitslose Arbeit suchen?

Der Kampf um die Ladenschlußzeiten ist ein Kampf um bessere Lebensbedingungen. (Oberchristl)

Oberchristl: Die Gewerkschaft hat sich sehr wohl der Arbeitslosen angenommen, indem sie den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit zu ihrem obersten Gebot erhoben hat, gerade in Österreich. Wir haben hier ganze 4% Arbeitslosigkeit, während in der EG der Schnitt bei 10% liegt. Deshalb ist diese Theorie von Lingens aus österreichischer Sicht nicht sehr logisch. Natürlich wird durch immer mehr Maschinen immer mehr rationalisiert. Und gerade deshalb ist für uns die Frage der Arbeitszeitverkürzung so zentral. Wie sollen wir sonst diese rationalisierungsbedingten Probleme lösen, wenn nicht mit einer Verkürzung der Arbeitszeit?

Hofbauer: Einig darüber sind wir uns offensichtlich, daß wir uns mitten in einem großen Rationalisierungsschub befinden ...

Lingens: ... mit einem Einwand, Österreich betreffend. Österreich hat unter anderem deshalb so wenig Arbeitslose, weil — und da sage ich jetzt: leider — der Rationalisierungsschub weitgehend ausgeblieben ist.

Briefs: Die große Herausforderung an die Gewerkschaft ist, wie sie mit dem Abbau des Volumens an gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit umgeht. Die notwendige Arbeit zur Erringung einer bestimmten Leistung nimmt laufend ab, weil wir eben seit Mitte der 70er Jahre Technologien entwickelt haben, die mehr Prozeßinnovationen verkörpern als Produktinnovationen. Dazu gehören die Informations- und Kommunikationstechnologien. Das hat dazu geführt, daß in der BRD die Produktion in den letzten 20 Jahren ziemlich genau verdoppelt, die dafür notwendige Arbeit aber um 25% reduziert wurde. Die Folge wird sein, daß wir die 35-Stunden-Woche als Einstieg dringend brauchen. Orientieren müssen wir uns noch in diesem Jahrhundert an der Unter-30-Stunden-Woche, um die Probleme in den Griff zu bekommen. Und diese Diskussion, das dürfen wir nicht vergessen, haben die Gewerkschaften gegen den Widerstand der Unternehmer und fast der gesamten politischen Öffentlichkeit aufs Tapet gebracht.

Oberchristl: In Wirklichkeit geht die Gesellschaft, was z.B. die Lebensarbeitszeit anbelangt, in die andere Richtung. Die Eisenbahner z.B., die früher in Pension gehen können, werden von allen Zeitungen attackiert, da ist von Schmarotzern die Rede.

Lingens: Das ist ja auch de facto ungerecht, wenn die Nichteisenbahner bis ins Alter von 65 Jahren und die Eisenbahner 10 Jahre weniger arbeiten müssen.

Oberchristl: Vollkommen richtig. Nur, wie beseitigen wir diese angebliche Ungerechtigkeit? Indem man eben nicht alle mit 55 Jahren in Pension gehen läßt, sondern umgekehrt, indem man verlangt, daß auch die Eisenbahner länger arbeiten müssen.

Lingens: Man kann meiner Meinung nach nicht die Dummheit von einigen Funktionären des Kapitalismus, wenn sie das so nennen wollen, mit dem System verwechseln. Die ganze Behauptung, daß wir Sozialabbau betreiben müssen, ist angesichts der enormen Wertschöpfung pure Dummheit. Ich sage das in dieser Entschiedenheit, wissend, welche Herren diese Behauptung aufgestellt haben. Es ist eine Frage des gesellschaftlichen Konsenses, wie die Wertschöpfung verteilt wird. Wir brauchen eine gesellschaftliche Übereinkunft, daß Sozialprogramme nicht gekürzt werden.

Briefs: In Wirklichkeit geht gerade diese Wertschöpfung im Verhältnis immer weniger in den Sozialbereich. Ökonomisches Wachstum bringt nicht mehr soziale Sicherheit. Jeder Arbeiter und jede Arbeiterin in der BRD produziert derzeit jährlich Waren im Wert von 90.000 DM (630.000 öS), davon bekommt er bzw. sie in Form von Lohn- und Lohnnebenkosten ungefähr 25.000 DM (175.000 öS), 20.000 DM werden jedes Jahr pro Arbeiter/in als Zwangswachstumsmittel der Wirtschaft produziert. Das ist der Teil, der als volkswirtschaftlicher Cash-flow den Unternehmen zufällt, womit weitere Ausgaben getätigt werden. Meine Kritik als Grüner: Diese 20.000 DM sind für zwanghafte Wachstumsprozesse da. 500 Mrd. DM (3,5 Billionen öS) macht dieser volkswirtschaftliche Cash-flow aus, die zum bestehenden Kapitalstock dazukommen. Das bedeutet neue Maschinen, neue Werkshallen, Fabrikerschließungen. Da stoßen wir an Grenzen ökologischer und sozialer Natur. Wir haben dieses riesige Problem der Überkapazitäten und unüberschaubare Mengen von vagabundierendem Kapital. Der Boom der Deutschen Bank und vieler anderer Banken ist aus dem Phänomen heraus erklärbar, daß bei fortgesetzter Überkapazität viel Kapital ins Spekulationsgeschäft geht. Dieses Phänomen ist bezifferbar: Die Bank für internationalen Zahlungsausgleich hat festgestellt, daß über 2 Billionen US-$ (25 Billionen öS) auf den internationalen Kapitalmärkten vagabundieren, vor 15 Jahren waren es erst 350 Mrd. US-$.

Hofbauer: Und was heißt das für die Gewerkschaften?

Briefs: Unter solchen Bedingungen ist die Wirtschaft gezwungen, Wachstum, das sie auf den Märkten nur mehr schwer erreichen kann, drinnen aus den Betrieben herauszuholen. Neben den technologischen Rationalisierungen ist da besonders die Ausdehnung der Nacht- und Schichtarbeit hervorzuheben, die kontinuierliche Fahrweise, also die Wochenend- und die Rund-um-die-Uhr-Produktion, das alles ist im Wachsen begriffen.

Hofbauer: Dadurch werden ja auch in einem Ausmaß Lebenszusammenhänge zerstört, das bis heute undenkbar ist.

Briefs: Ja. Mit den neuen Technologien hat die Nacht- und Schichtarbeit zugenommen, und die berühmten Managerkrankheiten — Herz, Kreislauf, Magengeschwüre — sind heute bei Produktionsarbeiter/inne/n so häufig wie bei Managern.

Hofbauer: Und die Gewerkschaft wird in diesem Bereich tätig? Bisher war sie ja mehr oder minder ausschließlich mit dem Verteilungskampf beschäftigt.

Briefs: Die Gewerkschaften haben — zumindest in der BRD — einiges dazugelernt. Bereits 1973 wurde einer der ersten Lohnverträge in der IG Metall abgeschlossen, der unmittelbar auf Arbeitsbedingungen Einfluß nahm. Diese Tradition ist in einem gewissen Umfang fortgeführt worden. Die qualitative Lohnpolitik hat die Argumente geliefert für die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung, die ja auch einem gewissen Leistungsdruck entgegenwirken soll. In der BRD gibt es Personal- und Betriebsräte, die für die Verhinderung bestimmter technischer Entwicklungen kämpfen, weil diese die Bedingungen für die arbeitenden Menschen unzumutbar verschlechtern.

Hofbauer: Gibt es dafür Beispiele?

Briefs: Z.B. in der Asbestproduktion oder im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologie wurden zahlreiche Betriebs- und Dienstvereinbarungen abgeschlossen, die es den Unternehmen verbieten, beliebige Daten ihrer Mitarbeiter/innen aufzunehmen und zu speichern. Anfang der 70er Jahre waren solche Erfolge noch nicht möglich, da wäre jede Gewerkschaft sofort isoliert gewesen. Bestimmte Formen des Technikeinsatzes werden verhindert, vor allem im Kontrollbereich.

Hofbauer: In Österreich sind mir solche Kämpfe nicht zu Ohren gedrungen, wie sieht das im ÖGB aus und in den einzelnen Fachgewerkschaften?

Oberchristl: Im Grunde genommen haben wir bei unserem Kampf um die 35-Stunden-Woche, um den 8. Dezember, um die Ladenschlußzeiten immer auch für unsere Arbeits- und Lebensbedingungen gekämpft. Das alles sind keine Verteilungskämpfe, sondern qualitative Auseinandersetzungen, die allerdings in der österreichischen Presselandschaft keinen Niederschlag finden, vielleicht deshalb, weil dort die Inserate der Industrie die Sache bestimmen. Wer sonst als die Gewerkschaften führt überhaupt so einen Kampf gegen die Verschlechterung der Lebensbedingungen am Arbeitsplatz? Nehmen wir eine alleinstehende Frau, die als Verkäuferin jetzt nachts um 8 Uhr nach Hause kommt; was bedeutet für sie eine Flexibilisierung der Arbeitszeit? Wenn jetzt diese Frau bei einer Verlängerung der Ladenschlußzeit nicht mitmachen will, heißt das, daß sie sich verabschieden kann und woanders Arbeit suchen muß.

Lingens: Dabei vergessen Sie, daß dieselbe arbeitende Frau auch einkaufen muß und daß das bei den in den 80er Jahren geltenden Ladenschlußzeiten oft sehr schwierig war.

Oberchristl: Herr Lingens, hat Ihre Mutter, wenn sie überhaupt in der Arbeit war ...

Lingens: ... sie war in der Arbeit ...

Oberchristl: ... hat sie dann Zeit gefunden, einkaufen zu gehen? Früher gab es weniger Urlaub und die 48-Stunden-Woche, und trotzdem haben wir eingekauft! Heute gibt es sechs Wochen Urlaub und eine kürzere Arbeitszeit, und da soll es nicht mehr möglich sein, einkaufen zu gehen?

Lingens: Das Einkaufen findet ja nicht während des Urlaubs statt.

Oberchristl: Diese Flexibilisierung ist etwas Furchtbares. Was heißt denn das, wenn man es zu Ende denkt? Die höchste Form der Flexibilität ist der Taglöhner, sprich der Stundenlöhner, der nur dann arbeitet, wenn ihn der Unternehmer gerade braucht. Aus unternehmerischer Sicht brauche ich dann überhaupt kein Arbeitsverhältnis mehr mit Arbeitern einzugehen. Neben einer festen Gruppe von hochqualifizierten Angestellten braucht ein Unternehmer dann nur mehr Tag- und Stundenlöhner, so sieht die zu Ende gedachte Flexibilität aus. Wir Arbeiter haben nichts anderes zu verkaufen als unsere Arbeitskraft. Und sogenannte Liberale wollen diesen Zustand flexibilisieren, d.h. gewachsene Familienstrukturen zerschlagen, regelmäßige Kinderbetreuung verunmöglichen.

Hofbauer: Tatsächlich bewegen wir uns doch auf eine Arbeitsgesellschaft zu, in der es so etwas wie eine Dreiteilung des Arbeitsmarktes gibt, nach Gorz werden das sein: 25% bestbezahlte Stammbelegschaft, 25% Randbelegschaft und 50% völlig ungesicherte, extern agierende Arbeitskräfte, mit der „sozialen Sicherheit“ eines Werkvertrages ausgestattet.
In Österreich ist der Rationalisierungsschub weitgehend ausgeblieben. (Lingens)

Lingens: Noch einmal zur Ladenschlußzeit, das kann man so nicht stehen lassen. Ich bin immer für die Flexibilisierung eingetreten. Das möchte ich ein wenig ausführen. Es gibt da nämlich zugegebenermaßen einen kritischen Zeitpunkt, nämlich in dem historischen Moment, in dem die Arbeitszeit von der 40-Stunden-Woche auf die 30-Stunden-Woche sinkt und gleichzeitig Flexibilisierung stattfindet. Da kann es passieren, daß wir eine Reihe von Familienstrukturen zerstören und daß die Nachteile der Flexibilisierung — kurzfristig — überwiegen. Dann allerdings werden wir technologisch in eine Situation kommen, wo wir viel größere Arbeitszeitverkürzungen zu erwarten haben. In dem Moment wird aus der Schichtarbeit, von der man jetzt zurecht sagen kann, daß sie familienfeindlich ist, eine durchaus akzeptable Sache. Man wird seinen Computer zu Hause stehen haben und seine Arbeit dann erledigen, wann man sie sinnvollerweise erledigen will. In meinem Beruf ist das teilweise jetzt schon so, aber auch in anderen Berufen wird die Möglichkeit des Zuhausearbeitens zunehmen und werden die insgesamt notwendigen Arbeitszeiten in die Gegend von zwei Stunden am Tag heruntersinken. Und dann ist das kein Problem mehr, ob diese Arbeit am Tag oder am Abend stattfindet. Im Dienstleistungsbereich ist das für mich ebenso vorstellbar. Wenn die Verkäuferin nur 3 Stunden am Tag im Geschäft steht, dann wird das kein Problem mehr sein, daß das vielleicht die Zeit zwischen 19 Uhr und 22 Uhr ist.

... dem Modernisierungs- und Wachstumsprojekt eine Alternative entgegensetzen. (Briefs)

Briefs: Ich lebe seit zehn Jahren unter den Bedingungen des Dienstleistungsabends. Ich brauche ihn nicht, der Abend ist viel zu kostspielig, wenn man in einer Familie lebt und Kinder hat. Für die Frauen, die alleine leben und Kinder aufziehen, ist so etwas überhaupt undurchführbar. So erklärt sich auch, daß bei uns Grünen der Hauptwiderstand gegen die ganze Flexibilisierung von den Feministinnen kommt. Die sagen ganz klar, daß das zu Lasten der Frau geht und die bereits existierenden Diskriminierungen im Erwerbsarbeitsprozeß vergrößert.

Was heißt überhaupt Flexibilisierung? Von der Wortwurzel her bedeutet das „beugbar machen“, die Leute „biegen“; das ist flexibilisieren. Wir haben doch schon eine Produktionsweise, die uns viel zu sehr biegbar gemacht hat. Können wir es uns nicht umgekehrt leisten, in einer Gesellschaft, die von Jahr zu Jahr reicher wird, mehr Zeit für uns zu sichern?

Hofbauer: Lingens spricht davon, daß in nicht allzu ferner Zukunft der Zwei- bis Drei-StundenTag in den westlichen Industrieländern Einkehr halten kann. Und diese Arbeit soll dann noch großteils als Heimarbeit möglich sein ...

Briefs: Heimarbeit ist eine Legende. Die wird immer von denen strapaziert, die im Bereich der Informations- und Kommunikationstechniken tätig sind. Aber es reicht doch nicht, daß ich von zu Hause aus Lebensmittel bestelle, es muß ja auch Leute geben, die mir dann diese Lebensmittel ins Haus schaffen. Die Information ist nur ein kleiner Teil des gesamten Prozesses. De facto ist es so, daß wir in der BRD mit über 25 Millionen Arbeitsplätzen noch keine 1.000 elektronisch gestützten Heimarbeitsplätze haben.

Lingens: Ich glaube, das ist nur eine Frage der Zeit, bis sich solche Heimarbeitssysteme durchsetzen. Und: Nicht jede Flexibilisierung führt zur Inhumanität! Gerade dann, wenn die Arbeitszeit insgesamt enorm verringert wird.

Natürlich müssen sich auch die kapitalintensivsten Maschinen amortisieren, und daher ist es vernünftig, sie rund um die Uhr zu betreiben. Auch ist es sinnvoll, das Gerät nur kurzzeitig zu betreiben und schon wieder die nächste Generation zu kaufen, die noch um einen Grad besser ist.

Briefs: Das ist ja eine ökologische Katastrophe!

Lingens: Diejenige Wirtschaft wird sich am schnellsten entwickeln, die am schnellsten imstande ist, das Gerät zu amortisieren und zur nächsten Generation überzugehen. Zur Frage der Flexibilisierung von Frauenarbeit stimmt es einfach nicht, daß die Frauen durch die Teilzeitarbeit Nachteile erfahren, vorausgesetzt, daß die Teilzeitarbeiten vernünftig bezahlt werden. Es scheint mir eine Situation, in der eine Frau nur einen halben Tag arbeitet statt eines ganzen und den restlichen halben Tag für ihr Kleinkind zur Verfügung hat, ein enormer Fortschritt zu sein verglichen mit einem 8-Stunden-Tag. Meiner Meinung nach sind wir heute schon auf einem technologischen Standard, der es beiden Eltern erlauben würde, den halben Tag zu Hause zu verbringen. Wenn man so ein Modell einführte, würde das zu einem weiteren Technologieschub führen. Ich bin ja deshalb ein Anhänger der Arbeitszeitverkürzung, weil sie die Technologie vorantreibt. In Wirklichkeit sind die langen Arbeitszeiten fortschrittsfeindlich. Es ist ja auch charakteristisch, daß die Sowjetunion und ähnliche Staaten mit ihren extrem langen Arbeitszeiten und ihren niedrigen Arbeitskosten so gut wie keine Rationalisierung haben, dort wird sie auch nicht vorangetrieben.

Oberchristl: Wir leben in einer Zeit, wo gerade wir im Westen so reich wie kaum zuvor sind und uns Dinge leisten können, von denen unsere Eltern noch geträumt haben. Und trotzdem verkümmern wir eigentlich gesellschaftlich. Unser einziger Wert scheint zu sein, mehr erreichen zu wollen. Die inneren Werte — das nenne ich als Gewerkschafter bewußt so — drängen wir zurück.

Lingens: Gerade durch die Teilzeitarbeit besteht doch die Chance, diese Werte wieder wirksam werden zu lassen.

Oberchristl: Aber wie sieht denn diese Teilzeitarbeit real aus? In den USA sind in den letzten Jahren hunderttausende Teilzeitarbeitsplätze geschaffen worden, fast ausschließlich im Dienstleistungsbereich. Da können es sich besserverdienende Beschäftigte leisten, daß sie Leute anstellen, die mit ihrem Hund ausgehen, die Zeitungen holen u.s.w.

Briefs: Das sind die neuen Dienstboten und Dienstbotinnen.

Oberchristl: Genau. Die Bedingungen dieser Teilzeitarbeit werden von denen diktiert, die sich die Arbeit kaufen. Wenn einmal kein Bedarf an diversen Dienstleistungen besteht, gibt’s halt nichts zu verdienen für Teilzeitarbeiter.

Hofbauer: Wie geht die Gewerkschaft mit diesem — in hochbezahlte Angestellte und niedrigbezahlte Teilzeitbeschäftigte — geteilten Arbeitsmarkt um?

Oberchristl: Das wird bei uns sehr kontrovers diskutiert. Entscheidend ist, inwieweit die Entscheidung des Arbeitnehmers freiwillig ist. Im Falle eines beiderseitigen Kündigungsrechtes zahlt immer die Arbeitnehmerseite drauf. Die subjektiven Rechte der einzelnen Arbeiter müssen ganz vehement gesteigert werden.

Briefs: Auch als Gewerkschafter müssen wir dafür kämpfen, daß mehr Kontinuität und Stabilität in die Lebensverhältnisse einzieht. Das wäre doch heute machbar, wir leben nicht mehr in einer zwanghaften Wiederaufbauphase.

Hofbauer: Das ist ein klarer Antimodernisierungskurs.

Briefs: Natürlich. Wir Grüne wollen dem zwanghaften Modernisierungs- und Wachstumsprojekt in der BRD eine Alternative entgegensetzen. Meine Vorstellung von Arbeitszeitverkürzung und Teilzeitarbeit lautet ganz einfach: 6-Stunden-Tag plus gleitende Arbeitszeit, mehr brauchen wir nicht.

Lingens: Dem allen kann ich nichts Prinzipielles entgegenhalten.

Hofbauer: Das kann doch nicht sein, daß Sie, Herr Lingens, derselben Meinung sind wie Ulrich Briefs. Sie vertreten ja ganz explizit einen Modernisierungskurs.

Lingens: Moment. Modernisierung — und dafür trete ich heftig ein — bedeutet nicht zwingend Mehrproduktion. Das sind zwei verschiedene Dinge. Ich bin schon aus ökologischen Gründen für eine Modernisierung, all diese elektronischen Dinge sind ja schon aus diesen Gründen allein so wichtig. Und in diesem Sinne bin ich auch ein Grüner, daß eine Mehrproduktion nicht mehr linear zu einer Verbesserung der Lebensqualität führt. Ich glaube, daß es ausreicht — ich halte das auch für technisch durchführbar —, daß Männer und Frauen gleichermaßen nur einen halben Tag arbeiten ...

Hofbauer: ... das funktioniert aber technisch höchstens nördlich von Mailand, weiter im Süden müssen wir ganz andere Maßstäbe anlegen.

Oberchristl: Vor kurzem war ich auf einer Tagung, auf der die Sorge der Gewerkschafter der „3. Welt“ zum Ausdruck kam. Die fürchten sich vor der Entwicklung bei uns, weil sie sehen, wie die ökologisch problematischen Produktionen zu ihnen verschoben werden.

Lingens: Das ist ein anderes Kapitel. Ich will noch darauf eingehen, wieso viele Unternehmer dieses Modell der Arbeitszeitverkürzung so mißtrauisch beäugen. Die meisten Argumente gegen die Arbeitszeitverkürzung haben religiösen Charakter. Wir sind seit einem Jahrhundert auf Produktion hin ausgelegt, in unserem Verstand, in unseren Wertvorstellungen, in unseren Emotionen. Das war begreiflich und auch berechtigt, weil die Vergangenheit von der Notwendigkeit gekennzeichnet war, mehr zu produzieren, um dem Bevölkerungswachstum gerecht zu werden. Jetzt haben wir dieses Problem nicht mehr und sind immer noch fehlprogrammiert, nämlich auf Mehrproduktion programmiert. Das Problem dabei ist, daß besonders diejenigen darauf programmiert sind, die in unserer Gesellschaft erfolgreich sind. In dieser Situation könnten wir — das, was ich jetzt ein bißchen marxistisch nenne, obwohl ich sonst wenig dafür übrig habe — den Schritt aus der Notwendigkeit in die Freiheit vollziehen. Wir haben die Möglichkeit, die Dinge so zu steuern, daß in der technologischen Entwicklung eine unglaubliche Chance liegt.

Praktisch kann man das Problem lösen — das sind lauter Sakrilege, die ich da begehe, hoffentlich lesen meine Eigentümer das Interview nicht — durch das Basiseinkommen. Da kann dann jede Frau, die sagt, sie will zu Hause bleiben, ein Basiseinkommen haben. Wenn sie Lust hat, zu arbeiten, soll sie daneben arbeiten können. Die Gesellschaft ist in absehbarer Zeit so reich, daß sie sich das jedenfalls leisten kann.

Briefs: Vorsicht, das ist systemsprengend, was sie da sagen!

Lingens: Weiß ich nicht. Ein anderer Punkt ist die Frage, inwieweit wir verhindern können, daß der Reichtum zur Mehrproduktion und nicht zur Qualitätsverbesserung benutzt wird. Das Wichtigste dabei scheinen mir die Energiepreise. Mit hohen Energiepreisen kann man das Maß des Einsatzes der Energie vermindern. Wir können auch in diesem Marktsystem Rahmenbedingungen festschreiben, daß es nicht möglich ist, extreme Überproduktion zu schaffen. Man kann Rohstoffpreise von Staats wegen festlegen, mit hohen Steuern belegen. In Österreich klingt das vielleicht links, aber selbst der „Economist“ eine wirtschaftskonservative Zeitschrift schreibt, daß wir die Ölpreise hochhalten müssen, wenn schon die ölproduzierenden Länder dazu nicht in der Lage sind, weil wir doch diesen Raubbau an der Natur als wahnsinnig erkannt haben. Wir können in hundert Bereichen Auflagen machen, von den Luftreinhaltegesetzen bis zum Transitverkehr.

Briefs: Wenn man Ihnen so zuhört, muß man sich fragen, wie realistisch das ist, was Sie hier so vorbringen. Unsere Erfahrung deutet auf die gegenteilige Entwicklung hin. Das ganze Modernisierungsmodell läuft doch immer darauf hinaus, daß pro Stunde mehr produziert wird. Dadurch steigen Streß und Arbeitsdruck. Das zu ändern, stößt innerhalb des bestehenden Gesellschaftssystems auf Grenzen. Der Kapitalismus kommt nicht ohne Wachstum aus, das ist keine ideologische Aussage, das weiß jeder, der sich in einem Betrieb genauer umsieht. Dort geht es tagaus, tagein darum, neue Aufträge zu sichern, neue Märkte zu erschließen, Innovationen durchzusetzen. Da kommt jetzt seit 10 Jahren verschärft hinzu, daß wir inzwischen soweit — in Anführungszeichen — „fortgeschritten“ sind, daß wir uns die gemeinsamen Lebensgrundlagen — nämlich die Natur — zerstören. Wenn wir das konsequent verfolgen, was wir hier angesprochen haben — Arbeitszeitverkürzung, qualitative Veränderungen, weniger Arbeitsdruck, mehr sozialen Ausgleich —, dann schaffen wir das nicht im Kapitalismus, der wegen seiner inneren Wachstumsdynamik auf Gedeih und Verderb auf Wachstum angewiesen ist. Kapital kann gar nicht existieren — das ist sein Lebenszweck —, als in der nächsten Runde entsprechend mehr über Zinsen und Abschreibungen hereinzubekommen, mit Hilfe zusätzlicher Produktionen, d.h. auch Emissionen, zusätzliche Verkehrsflächen, zusätzlicher Grundwassergebrauch. Das ist das Kernproblem. Wir müssen einen scharfen Antimodernisierungskurs fahren, um dagegen anzukönnen, und dabei muß die Gewerkschaft eine entscheidende Rolle spielen.

Hofbauer: Wenn die Gewerkschaft nicht einmal in der Lage ist, der Träger der Reformen in unserer Gesellschaft zu sein, wie soll sie dann der Träger einer Reform gegen das kapitalistische System sein, das noch dazu international in einer Endsieg-Euphorie ist.

Lingens: Marx hat behauptet, daß der Kapitalismus gar nicht anders kann, als eine Verelendung für die Arbeiter herbeizuführen. Später hat sich gezeigt, daß der Kapitalismus schon anders kann.

Hofbauer: Da sprechen Sie aber jetzt von ein paar ausgewählten Gegenden in Westeuropa und den USA.

Lingens: Es gibt ja gar nicht mehr so etwas wie den Kapitalismus. Das System, das in dieser Runde so bezeichnet wird, ist ständig an verschiedenste Gegebenheiten adaptiet worden. Und die große Auseinandersetzung zwischen den Marxisten, die das System abschaffen wollten, und den reformerischen Sozialisten ist eindeutig für zweitere ausgegangen. Es hat sich gezeigt, daß dieses System stark flexibel gewesen ist. Die spannende Frage ist: Kann der Kapitalismus — der neue Kapitalismus — ohne Wachstum auskommen? Ich behaupte, daß es keine logische Begründung gibt, daß er das nicht könnte. Für den einzelnen Betrieb ist das richtig, daß er danach streben muß, größer zu werden, trotzdem kann die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit die Summe der Produktion aus allen Betrieben beschränken.

Briefs: Also, entweder die Produktion wächst oder sie wächst nicht. Ihr Modell ist unlogisch.

Hofbauer: Wiegestaltet sollen also diese Änderungen sein? Und sind die Gewerkschaften in Zukunft überhaupt noch Handlungsträger in dieser Entwicklung?

Oberchristl: Eines muß man zugeben, ein entscheidendes Manko in der aktuellen Gewerkschaftspolitik ist der solidarische Umgang zwischen den verschiedenen Gesellschaftssystemen. Solidarität hört meistens dort auf, wenn der einzelne um seine Existenz kämpft. Gerade in der Arbeitswelt, wo es nicht sehr zimperlich zugeht, ist das ein echtes Problem. Aber letztendlich bleibt es unsere einzige Chance, daß wir solidarisch sind, daß wir das schaffen, was Großkonzerne seit Jahrzehnten praktizieren, nämlich den zwischenstaatlichen Zusammenhalt.

Hofbauer: Danke für das Gespräch.

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