Niederlagen des Friedens
Vor sechs Jahren wurde mit der Unterzeichnung der Friedensverträge der 36-jährige Bürgerkrieg in Guatemala beendet. Die Guerilla gab ihre Waffen ab und wanderte ins Parlament. Heute befindet sich die Linke im Land in ihrer schwersten Krise seit der Konterrevolution von 1954.
Fernando Quisquinay ist Student der Literaturwissenschaften auf der USAC und jahrelanger Basisaktivist der ehemaligen Guerillabewegung und der AEU. Nach den jüngsten politischen Entwicklungen fühlt er sich von der URNG im Stich gelassen und macht heute gemeinsam mit anderen jungen Leuten Straßentheater, eine Literaturzeitschrift, Wandmalereien, etc.
Ich kam 1991 auf die Universität — politisch aktiv war ich bereits zu Schulzeiten. 1985 während des LehrerInnenstreiks begann ich im Zuge der Zusammenstöße die Realität dieses Landes zu erkennen. Das war die Zeit, in der mir die Klassenunterschiede bewusst wurden, obwohl ich diese Erkenntnis als Konzept erst viel später lernte. 1985, nachdem Mejía Victores den General Ríos Montt geputscht hatte, besetzte das Militär die USAC eine Woche lang. Als Schüler sah ich die Bilder im Fernsehen: Die Regierung wollte beweisen, dass man auf dem Campus Waffen, subversive Propaganda, Bücher und alles was sie selbst dort hintransportierten und kameragerecht arangierten, gefunden hatten.
Natürlich stimmt es, dass einige Studentinnenorganisationen mit der Guerilla zusammenarbeiteten, aber die Waffenlager der Guerilla befanden sich sicher nicht auf der Universität. Durch die damalige Repressionswelle organisierten wir SchülerInnen der Mittelschule uns stärker.
Diese SchülerInnenbewegung gibt es schon seit Anfang der Siebzigerjahre. Zwischen 1977 und 1978 erreichte die Bewegung einen Höhepunkt, aber auch die Repression dagegen. 1977 wurde Aníbal Caballeros, ein Schüler der öffentlichen Schule „Rafael Aqueche“, ermordet. Außerdem wurde ein weiteres führendes Mitglied der Bewegung, Robin Garcia entführt und ist seither „verschwunden“. Nach 1975 sind viele wichtige Personen des Widerstands gegen die Militärdiktatur gefallen: Fuentes Mohr, Oliverio Castañeda de Leon, etc. 1984 entführte das Militär die gesamte Leitung der AEU. Auch sie sind bis heute „verschwunden“.
Man musste die Gefallenen und Verschwundenen in den politischen Organisationen wieder ersetzen und der sozialen Bewegung, die in vielen Fällen mit der Guerilla zusammenarbeitete, wieder neue Impulse geben. Diese von der Welle der Gewalt erzwungene Rotation der politischen Kader setzte sich die gesamten Achtzigerjahre fort und 1989 wurde erneut die gesamte AEU-Führung entführt. Fünf Mitglieder des Leitungsgremiums wurden mit Folterspuren am ganzen Körper tot aufgefunden, fünf weitere sind bis heute „verschwunden“. Dadurch hatte ich meinen ersten Kontakt mit organisierten KämpferInnen von einer der vier Organisationen der URNG.
1986 war ich in der SchülerInnenvertretung aktiv und lernte zum ersten Mal die Herstellung von „Volkswaffen“, wie wir sie nannten, also Molotow-Coctails oder jegliche Art von Waffen, die wir brauchten, um uns gegen die Angriffe von Polizeieinheiten zu verteidigen. Das führte dazu, dass unserer Gruppe die Wiedereinschreibung für das nächste Schuljahr verwehrt wurde und wir somit die Schule wechseln mussten. Danach hielt ich mich ca. 3 Jahre von militanter Politik zurück.
Nein, ich komme aus einer sehr religiösen Familie — mein Vater ist beim Opus Dei. Bei uns wurde nie über Politik diskutiert. Ich komme aus der untersten Schicht. Mein Vater ist Gärtner und meine Mutter Babysitterin in einem der reichsten Bezirke der Hauptstadt, der „Canada“ bei einer kubanischen Familie. Die krassen gesellschaftlichen Unterschiede in Guatemala lernte ich spätestens kennen, als mich die SchülerInnen der Privatschulen als „cholero“ beschimpften, ein abwertender Terminus für die Unterschicht und v.a. für Hausbedienstete und Putzfrauen.
Die „Huelga“ wurde 1898 von den StudentInnen aller Fakultäten gegründet. Sie planten eine Reihe von politisch-kulturellen Aktivitäten, die mit einem Faschingsumzug enden. Jährlich wird dabei der „Rey Feo“, der hässliche König, gewählt, der sozusagen die Armen vertritt und all das öffentlich kritisiert, was sich die Armen zwar denken, aber nicht öffentlich formulieren können. Nachdem auch immer die Regierungen hart attackiert und lächerlich gemacht werden, haben manche Diktatoren, wie z.B. Jorge Ubico versucht, die „Huelga“ zu verbieten.
Zu früheren Zeiten war die „Huelga“ sehr kämpferisch und viele erinnern sich daran, dass es damals nicht notwendig war, Schimpfwörter und sexistische Anspielungen zu verwenden um Kritik zu üben. Ich glaube, dass es viel mit der Gewalt und der Repression zu tun hat, dass die StudentInnen teilweise das Ziel vor Augen verloren und statt inhaltliche Kritik zu üben, mit sexistischen Schimpftiraden um sich werfen. Dazu kommt, dass viele Kader und erfahrene PolitaktivistInnen fielen und dadurch ständig unerfahrene Aktivistinnen die „Huelga“ organisierten.
Der Karfreitagsumzug der „Huelga“ hat immer mehr an Qualität verloren. Die wenigen, die versuchten, eine sinnvolle politische Message zu artikulieren, gingen unter den Tausenden von TeilnehmerInnen leider oft unter.
Was sexistische Positionen betrifft, hat sich das etwas verändert seitdem auch mehr Genossinnen an der Organisation des Streiks mitwirken. Aber du hast schon recht, dass auch heute noch in der Öffentlichkeit stehende Politikerinnen nur auf Grundlage von sexistischen Parolen angefeindet werden.
Als ich 1994 bei der Organisierung der „Huelga“ mitwirkte, haben sich mir ein paar Leute aus der URNG, konkret aus dem PGT, und StudentInnen der Fakultätsvertretung der Geisteswissenschaften angenähert, um gemeinsam eine Organisation zu gründen, mit der wir bei den nächsten Universitätswahlen kandidierten. Diese companer@s waren die ersten, die mir politische Theorie zu lesen gaben, zum Beispiel ein Buch von Aníbal Ponce über Bildung und Klassenkampf.
Unsere Gruppe gewann die Wahlen Ende ‘94 und mehr als über theoretische Bildung begann ich praktische Erfahrungen in der politischen Arbeit auf Uniebene gemeinsam mit den companer@s der anderen Fakultätsvertretungen zu sammeln. Somit erhielt ich auch den Zugang zu einer der wichtigsten Organisationen der URNG, den FAR, deren Mitglied ich wurde.
Ich war damals StudentInnenvertreter auf der Geisteswissenschaft und da waren eben die meisten bei der FAR. Für mich waren damals auch keine gravierenden ideologischen Unterschiede erkennbar. Es wurde vielmehr die Einheit in der URNG betont. Wenn es Konflikte gab, waren diese eher persönlicher Natur.
Ich begann, an Lesekreisen, die von der Generalkommandatur der URNG, aber auch von StudentInnen organisiert wurden, teilzunehmen. Wir lasen dort Dokumente über die Notwendigkeit des revolutionären Volkskrieges, die ideologische Ausrichtung der FAR, usw.
In meiner ersten Gruppe waren alle Ladin@s und im Lesekreis war nur eine von fünf Personen eine Frau. Im Frauensekretariat der AEU gab es zu dieser Zeit eine sehr wichtige Frauengruppe, die aus FAR-Mitgliedern bestand. Sie führten einen harten Kampf um die Teilnahme von Frauen in den Diskussionen und Entscheidungsprozessen und versuchten die Diskussion über die Gleichstellung der Geschlechter anzuheizen. Am Anfang wurde ihrer Aufgabe nicht genügend Wichtigkeit zugestanden, aber sie schafften es, immer mehr Frauen zu organisieren und dadurch auch ein größeres politisches Gewicht innerhalb der FAR zu erreichen. Ein Beispiel: Das „Militanzteam“, eine Einheit innerhalb unserer Organisation, die für die politische Bildung zuständig war, wurde von drei Frauen und einem Mann geleitet.
Als wir die neue AEU mit dem Generalsekretär Manolo Vela 1994 übernahmen, begannen wir unsere Arbeit sofort mit massiven Protestaktionen, die sich gegen die Preiserhöhung des öffentlichen Verkehrs richteten. Wir wollten eine breite Beteiligung der Bevölkerung an den Protesten erreichen. Am zweiten November dieses Jahres begannen wir mit dem Abfackeln öffentlicher Busse und waren bis zum elften November jeden Tag auf der Straße, agitierten, errichteten Barrikaden und versuchten, in der Bevölkerung Bewusstsein über die Vorgänge zu schaffen. Die Spannung stieg täglich.
Bei einer Protestaktion an der Uni wurden einige StudentInnen sogar von Hubschraubern aus mit Tränengas angegriffen. Der Humor und die Kreativität unserer companer@s zeigte sich, als sie spontan eine „Fliegerabwehr“ aufbauten: Sie besorgten Eisentrommeln, die normalerweise zum Abschießen von Feuerwerken benutzt werden, und wir schossen mit allem zur Verfügung Stehenden auf die Hubschrauber. Aus Angst, wir könnten einen der Hubschrauber tatsächlich treffen, evakuierten wir ein nahegelegenes Mc Donald’s. Danach wurden wir vor einem Tor, an dem wir Posten standen, von der Polizei beschossen. Auch ich wurde getroffen und verletzt.
Obwohl am Tag darauf die Preiserhöhungen des öffentlichen Verkehrs zurückgenommen wurden, entschieden wir, unseren Protest fortzusetzen. Bei dieser Demonstration wurde mein Freund Mario von der Polizei brutal ermordet. Ich saß verletzt vor dem Fernseher und musste unbeweglich alles mitansehen. Das waren einige der schlimmsten Augenblicke meines Lebens.
Was die Kritik vieler Linker an unserer Vorgangsweise betrifft, muss ich sagen, dass für uns diese Demonstration völlig gerechtfertigt und notwendig war. Die Regierung hat zwar die Preiserhöhungen kurzfristig zurückgenommen, hat aber nicht mit uns verhandelt und keinerlei Garantien abgegeben, diese Preiserhöhungen nicht in Zukunft erneut zu beschließen. Außerdem wurden so viele von uns während der Proteste verletzt, dass wir es nur als Zufall betrachten können, dass nicht zuvor schon jemand im Kugelhagel der Polizei starb. Auch dagegen wollten wir noch einmal unseren Protest kundtun. Das war unser Recht und der Fehler lag somit ausschließlich bei den staatlichen Sicherheitskräften!
Die AEU bemühte sich mit allen Mitteln, den Fall vor die Gerichte zu bringen und es kam tatsächlich zu einem Schuldspruch: Die unmittelbaren Täter wurden zu 30 Jahren Haft verurteilt und die politisch Verantwortlichen zu 10 Jahren. Ramiro war jedoch nur eine willige Marionette des Militärs und somit wurden die Häftlinge innerhalb kürzester Zeit auf freien Fuß gesetzt.
Ich bin nach wie vor überzeugt, dass die Abkommen ein gutes Instrument sein hätten können. Ich reiste damals als Teil von verschiedenen Teams in mehrere Operationsgebiete der URNG und erklärte den KämpferInnen die Inhalte der Friedensverträge. Wir sollten damals die KämpferInnen beruhigen, ihnen erklären, was nach dem Waffenstillstand und der Demobilisierung passieren würde, welche Rolle sie danach im politischen Kampf übernehmen würden. Ich sagte ihnen, dass sie Tag für Tag ihr Leben aufs Spiel gesetzt und sie absolute Priorität für uns hatten. Heute bereue ich meine Naivität, ich habe Sachen gesagt, die dann ganz anders kamen. Das heißt nicht, dass ich mich nicht mehr mit den Abkommen identifiziere, schon aber, dass die „Comandancia“ der URNG viele Fehler gemacht hat.
Die KämpferInnen stammen zum größten Teil aus einer isolierten Bevölkerungsschicht aus weit entfernten Teilen des Landes mit enormen wirtschaftlichen Problemen. Vielen ging es in Kriegszeiten besser als jetzt. Sie wussten wenigstens, dass sie für etwas kämpften. Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages haben die vier Organisationen der URNG dummerweise viele Leute rekrutiert, nur um eine gewisse Stärke vorzutäuschen und natürlich auch um an finanzielle Unterstützung, Projekte, etc. heranzukommen. So geschah es, dass in verschiedenen Operationsgebieten KämpferInnen demobilisiert wurden, die z.B. erst seit einem Monat Mitglied der URNG waren. Daraufhin erhielt so mancheR einen „Minugua-Ausweis“ für demobilisierte URNG-KämpferInnen und manche schafften es bis hin zu Führungspositionen, die ihnen nicht zustanden.
Obwohl wir selbst während unserer Tour durch verschiedenen Operationsgebiete der Guerilla von den KämpferInnen extrem viel gelernt hatten, standen am Ende diese einfachen KämpferInnen als die Betrogenen da.
Die Ausnahmen sind jene companeras, die auch heute wichtige Posten in der Partei besetzen, wobei ich nicht sagen kann, wieviel Einfluss sie dort wirklich ausüben. Die Mehrheit der URNG-Kämpferinnen befindet sich heute jedoch da, wo sie bevor sie „in die Berge gingen“ waren: zu Hause, bei den Kindern oder sie überleben mit irgendwelchen Jobs.
Ich glaube nicht, dass die URNG als Struktur, so wie sie geplant war, noch Zukunft hat. Sie wird wohl eine noch viel tiefergehende Spaltung erfahren, da der Kampf zwischen den Führungs- und Mittelkadern alle politischen Aussagen der Partei in der Öffentlichkeit überdeckt.
Vermutlich wurden viel zu viele Erwartungen in die URNG gesetzt, die sie nicht erfüllen konnte. Zur Zeit konsolidiert sich die Rechte in Guatemala und versucht eine Parteiherrschaft im Stil der PRI in Mexiko zu etablieren. Anstatt diesem Versuch etwas entgegenzusetzen, zerfleischt sich die Linke momentan selbst, was wiederum nur der Rechten nutzt.
Nein, nach allem was passiert ist, wurde die StudentInnenbewegung einfach fallen gelassen, wir alle wurden im Regen stehen gelassen. Ich selbst habe meine Mitgliedschaft nie aufgegeben, wurde aber auch nie mehr in den politischen Prozess der Partei integriert. Man hat sich für uns nur noch interessiert, wenn Wahlen anstanden. Da waren wir ihnen gut genug um Werbung zu verteilen, Transparente zu malen, etc. und eigentlich will ich nicht der Arbeitssklave der Partei sein.
Das Gespräch mit Fernando Quisquinay führte Mary Kreutzer im Dezember 2001. Das ungekürzte Interview wird in dem Buch von Thomas Schmidinger und Mary Kreutzer: „Niederlagen des Friedens. Gespräche und Begegnungen in Guatemala und El Salvador“ im Sommer 2002 erscheinen.
Abkürzungen:
- URNG: Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca, Nationale Revolutionäre Einheit Guatemalas. 1982 erfolgter Zusammenschluss von PGT, FAR, EGP und ORPA, seit dem Ende des Bürgerkriegs 1996 Parlamentspartei.
- PGT: Partido Guatemalteco del Trabajo, Guatemaltekische Partei der Arbeit. Moskautreue Kommunistische Partei Guatemalas, ursprünglich gegen den bewaffneten Kampf, verschiedene Strömungen, die unterschiedliche Positionen in der Frage des bewaffneten Kampfes einnahmen.
- FAR: Fuerzas Armardas Rebeldes, Bewaffnete Rebellische Streitkräfte. Leninistische Guerilla, die aus dem ursprünglichen bewaffneten Flügel der PGT hervorgegangen ist.
- EGP: Ejercito Guerillero de los Pobres, Guerillaheer der Armen. Guevaristische Guerilla die aus der FAR hervorgegangen ist.
- ORPA: Organizatión Revolucionaria del Pueblo en Armas, Revolutionäre Organisation des bewaffneten Volkes. Sozialdemokratische Guerilla.
- Corriente Revolucionaria: Revolutionäre Strömung. Aus der FAR hervorgegangene Strömung in der URNG, inhaltliche Unterschiede zur Mehrheitsströmung der URNG sind kaum festzustellen.
- Linea Institucional: Institutionelle Linie. Mehrheitsströmung der URNG bestehend aus ehemaliger EGP, ORPA und PGT. Das Exekutivkomitee (CEN) der Partei wird ausschließlich von Mitgliedern der Linea Institucional besetzt.
- AEU: Asociación Estudiantil Universitaria Oliverio Castañeda de Leon, Universitäre StudentInnenvereinigung „Oliverio Castañeda de Leon“. StudentInnenvertretung der USAC.
- USAC: Universidad de San Carlos. Einzige öffentliche Universität Guatemalas, seit der guatemaltekischen „Oktoberrevolution“ 1944 autonom.
- MINUGUA: Misión de Naciones Unidas en Guatemala, UNO- Mission in Guatemala. Soll die Einhaltung der Friedensverträge überwachen.
