Weg und Ziel, Heft 4/1997
Oktober
1997

Notate zu Begriff und Praxis der Revolution

Ihr, die ihr überlebtet in gestorbenen Städten;
Habt doch nun endlich mit euch selbst erbarmen!
Zieht nun in neue Kriege nicht; ihr armen;
als ob die alten nicht gelanget hätten: Ich bitt euch;
habet mit euch selbst erbarmen!
 
Ihr Männer; greift zur Kelle;
nicht zum Messer! Ihr säßet unter Dächern schliesslich jetzt;
hättet ihr auf das Messer nicht gesetzt;
und unter Dächern säße es sich doch besser ich bitt euch;
greift zur Kelle;
nicht zum Messer!
 
Ihr Kinder; daß sie euch mit Krieg verschonen;
müsst ihr um Einsicht eure Eltern bitten: Sagt laut;
ihr wollt nicht in Ruinen wohnen und nicht das Leiden;
was sie selber litten: Ihr Kinder;
daß sie euch mit Krieg verschonen!
 
Ihr Mütter; da es euch anheimgegeben;
den Krieg zu dulden oder nicht zu dulden;
ich bitt euch; lasset eure Kinder leben!
daß sie euch die Geburt und nicht den Tod dann schulden;
ihr Mütter; lasset eure Kinder leben!
 
Bert Brecht

Im Jahre 1964 kam es mir in den Sinn, eine Theorie der Revolution zu schreiben. Seither hat mich dieser „Auftrag“ nicht wieder gänzlich ver­lassen. Im Ernst glaubte ich im Jahre 1968 nicht daran, daß die Weltrevoluti­on schon jetzt möglich sei. Ich vertrat die Ansicht, daß die gesamte Welt eine negative Einheit (globale Entfremdung) sein müsse, totalitär und nur quantita­tiv (eine Welt ohne Humanismus, ohne Individualität, Ethik, ohne Gerechtig­keit und Erbarmen, eine Welt von wenigen dirigiert und von den vielen ohne Gesicht, Strichcodeidentitäten viel­leicht, subordiniert) noch vorhanden, bevor der Augenblick des „Umschla­gens“ möglich sei — in das wahre Ganze aus dem ganzen Unwahren heraus.

Es scheint richtig, daß alle Revolu­tionen bisher vom Regime her bestimmt waren, das ihnen vorausgegangen war. So ist etwa die absolute Revolution durchaus ein Findelkind des absoluti­stischen Systems und die große Okto­berrevolution eine Reaktion auf den politischen Rückstand des Zarismus. Allein, das bloß reaktive Moment der politisch-sozialen Revolutionen erklärt nicht ihren Sinn und ihr Wesen.

Aber, so fragte ich mich schon da­mals und frage es mich heute erneut: was sollten die Etappen der revolutionären Momente in der Weltgeschichte bisher? „Geschichte existiert nicht im­mer; Weltgeschichte ist das Resultat.“ Wohl auch der konstitutiven Tat der Revolution wegen, oder? Die Idee der Weltgeschichte und der Begriff der Re­volution scheinen unmittelbar ineinan­der verkehrt zu sein, das heißt die eine ist ohne die andere undenkbar.

Damals sowenig wie heute war es mir klar, was die Differenz von Revolu­tion in einem Lande oder Weltrevoluti­on, permanente Revolution oder Rück­fall in die Steinzeit im Grunde bedeu­ten sollte.

Der konstitutive Begriff der Revo­lution für das moderne Verständnis von Welt überhaupt ist nur im Verständnis und Selbstverständnis von Geschichte als Heilsgeschichte möglich. Also geht dem modernen Revolutionsbegriff der noch mittelalterliche Weltsinn voraus, jedenfalls in seinem Übergang zur Neuzeit, der mit Joachim von Fiore eine neue Ordnung des Weltganzen konzipiert: es sei ein Zusammenhang (Synthesis) von Geschichte, Telos der Weltgeschichte und Hoffnung auf ein Ende der Entfremdung möglich — frei­lich im Bild des Sohnes (Christus) noch, das als christliches Universum die dia­lektische Einheit von Kontinuität und Diskontinuität der Geschichte ermög­liche.

Tausend Jahre Weltgeist Superstar

1969 schlug ich dem Cheflektor ei­nes damals sehr progressiven Verlages in Berlin meine Theorie der Revolution vor. Er zeigte sich mehr als geneigt, ein solches Buch zu veröffentlichen. Er­schienen ist damals an fast nämlicher Stelle „Fetisch Revolution“ von H. G. Helms — eine profunde Kritik der 68er-Bewegung. Sie hat sich als eine Revolte gegen den autoritären Staat, seine Strukturen und gegen die Nazi-Ver­gangenheit der Elterngeneration her­ausgestellt. Freilich hat sich dieser Empörung einiges zu verdanken; indes: was ist geblieben von den Black Pan­thers, von den Black Muslims und Guerrilleros in der Ikone Guevaras? Was ist geblieben! Was ist geblieben vom antiimperialistischen Geist der Jugend, die gegen den Vietnamkrieg aufgestanden ist? Fast nichts! Meine Generation hatte noch ein geschlosse­nes Weltbild. Bei den Feministinnen, bei den Ökologen und bei den Phanta­sten der neuen-alten Religionen wird sich ein solches nicht finden lassen; im Gegenteil: sie alle werden behaupten, daß ein geschlossenes Weltbild nicht sinnvoll sei. So ist einerseits das alte Herrschaftsprinzip des divide et impera voll aufgegangen, andrerseits hat sich zwar die objektive Möglichkeit der Weltrevolution vergrößert — bei fast gleichzeitigem Verlöschen des revolu­tionären Subjekts in der Perspektive der Geschichte.

Was ist aus den subversiven Bewe­gungen, die so disparat waren wie SDS, Black Panthers, Weather Men, Tupamaros usw. geworden? Damals nicht dabeigewesen waren die Proletarier, sie waren vom Faschismus längst ins gan­ze Unwahre des autoritären Staates in­tegriert worden. Dachte die Avantgar­de damals ernsthaft, die Arbeiterklasse aus den Fängen kapitalistischer Ver­führung befreien zu können? Wer hätte ohne die Proletarier aller Länder wohl das revolutionäre Subjekt der Weltge­schichte sein können?

Aus den Friedensbewegungen wie aus der hedonistischen Linken ist auch nichts geworden als ein anderer Typus von Konsum oder sozialem Verhalten. Wenn also der rechte Augenblick der Revolution, die Chance der grundle­genden Weltveränderung nicht genutzt wird, wenn sie nicht mit den subjekti­ven Momenten disparater Empörungen zusammenfällt in einem kollektiven Willensakt, kehrt er erst wieder, sagen wir, wie das Bild des Kometen Big Hope. Also ist die Periodizität und die Vereinigung subversiver Kräfte ein wesentliches Merkmal des Begriffs der Weltrevolution. Ist ein solcher Augen­blick vorüber, müssen „Ewigkeiten“ vergehen, bis wieder die große Chance auf eine revolutionäre Weltverände­rung in die Perspektive der vom Men­schen machbaren Geschichte eintritt. Der Augenblick der Revolution hat im­mer etwas saturnalisches, schicksal­haftes und von kosmischer Gewalt an sich. Vielleicht ist die spekulative Beschäftigung mit extraterrestrischen Wesen und ihrer Errettung der Welt nichts als eine verzerrte Hoffnung aus der versäumten Revolution.

Es kann zum Beispiel ein Komet aus der Sicht der Menschenaugen, der Teleskope und schließlich aus dem Ge­sichtsfeld der Astronomen verschwun­den sein, so existiert er dennoch weiter. Seine Wiederkehr kann vorausberech­net werden, jedoch solche Prognosen betreffs Weltrevolution sind weniger einfach.

Alles, das heißt das ganze Unwahre oder die Hölle, in der wir leben, sei noch einmal radikal hinterfragt:

Ist der Terror, den die bürgerlichen Revolutionen in die Welt gesetzt haben, je wieder aufhebbar ohne die Fortset­zung dieser Revolution durch die pro­letarische? Gibt es nach dem Ende der bürgerlichen Gesellschaft eine andere Ordnung? Muß der Revolutionsbegriff gänzlich neu gedacht werden — nach dem Scheitern aller Revolutionen bis­her? Ist die Tragödie des Scheiterns der Tragik menschlicher Existenz imma­nent? Kann es eine revolutionäre Be­wegung geben, die die Bewegungsfor­men von

  • Welt und Geschichte
  • Kosmos
  • individuellem/kollektivem Verhält­nis der Menschheit zu sich und zum Göttlichen

sinnvoll verbindet derart, daß das Heilsversprechen, Glück hier und jetzt sei für alle möglich, eingelöst werde?
Ist die Verwirklichung der Freiheit für alle im Reich des Ewigen Friedens im Angesicht der alten Ikone: Das Wahre, Schöne und Gute, nur phantas­matisch?

Kann es, nach dem Scheitern der Proletarischen Revolution und des So­zialistischen Staates, nach dem Scheitern der ruralen Revolution eines Pol Pot usw., nach dem Scheitern der chi­nesischen Revolution, kann es — ohne Weltrevolution überhaupt eine sinn­volle Revolution geben oder brauchen wir einen anderen Typus, den etwa Ghandis, von Revolution? Oder sind alle Revolutionen bisher nur Etappen auf dem Wege zur großen sozialisti­schen Weltrevolution? Gewiß scheint eines: auf dem Wege zur Globalität gibt es nur zwei Resultate: das ganze Un­wahre als Totalitarismus und Faschis­mus oder die Welt als sozialistische. Der dritte Weg ist unmöglich: Aber wäre denn eine sozialistische Welt eine Welt ohne Kriege, eine gerechte gute und schöne Welt? Was müssen die neu­en Leitbilder und Ideale der Revoluti­on sein und was bestimmt die Revolution letztlich als „legitim“ und was macht sie, im Unterschied zu „Gefan­genenhausaufständen“ an- und für sich unterscheidbar — von beliebig he­gemonialen Machtkämpfen, lobbyisti­schen Besitzansprüchen und anderen politischen gruppendynamischen Pro­zessen?

Jedermann weiß oder er weiß es recht eigentlich nicht, daß der Revolu­tionsbegriff seit Kopernicus und Hegel für die Moderne konstitutiv ist, — er ist geradezu zum Kanon des okzidentalen Weltverständnisses geworden, viel­leicht sogar des orientalen. Ohne Theo­rie und Praxis der Weltrevolution kein Fortschritt und nur ein trauriges Ende der Moderne, nur Rückfall in die Stein­zeit — bei durchaus rasanter Weiterent­wicklung der materiellen Produktion: rasender Stillstand; Taumel und Toten­starre.

Das Wort Revolution kommt aus der Astronomie und bezeichnet in dem großen Werk des Kopernicus, De Revolutionibus Orbium Coelestium, die re­volvierenden Bewegungen der Him­melskörper. Mit Hegels „Phänomenolo­gie des Geistes“ fiel der Begriff der Revolution aus dem Himmel in die Sphäre der Weltgeschichte, zwar noch als idealtypisches Bewegungsbild für die Freiheit des Weltgeistes und aller an ihm Teilhabenden.

Der Charakter des revolutionären Geistes besteht für Hegel in der Aufhe­bung des Toten in dieser Welt — zugun­sten von Liebe, Gleichheit und Er­kenntnis. Wie in der Französischen Revolution trennt und verbindet die Menschen das höchste Wesen, der ab­solute Geist — Weltgeist Superstar.

Mit Marx und Engels fiel der Revo­lutionsbegriff weiter — oder er ist wie­der aufgestiegen — in die prometheische Sphäre: Nach der Überwindung des Vater- oder Königsmordes erzeugt sich der Mensch lustvoll und verantwort­lich für seinesgleichen wie die Mitwelt selbst — durch sein dionysisches Arbeits- und Kunstwerk.

Der Mensch allein sei seines Glückes Schmied. Die prometheische Ord­nung ist eine endgültige Absage an den Eingriff göttlicher Vorsehung, der Göt­ter überhaupt und auch des Fatums. An die Stelle des Glaubensapparats Kirche trat der Staatsapparat, an die Stelle der Religion die allseligmachen­de Ideologie des historisch dialekti­schen Materialismus und an die Stelle der Unterdrückten und Ausgebeuteten das souveräne Volk oder die revolutio­nären Massen — Agenturen, die es bis heute zu keiner Synthesis gebracht ha­ben, nicht einmal zur Versöhnung von Hammer und Sichel. Die industrielle und die agrarische Produktion wie ihre Agenten klaffen mehr denn je ausein­ander. Und an die Stelle des schreckli­chen Fatums sollte die Wissenschaft in ihrem reinen Glanze treten. Fetisch materialistische Erkenntnistheorie und materialistische Prognostik.

Als schließlich 1917 die Revolution — nicht in Deutschland oder England, sondern im ganz und gar rückständi­gen Rußland — ausgebrochen war, glaubte die Welt, dies sei der Beginn der Weltrevolution. Kapitalistische Propaganda? Schließlich entartete die revolutionäre Bewegung in Rußland zum Sozialismus in einem Lande (Sta­lin, SU) und, statt der Weiterentwick­lung aller möglichen revolutionären Bewegungen in den industriell am mei­sten entfalteten Industrienationen ka­men die großen Gegenrevolutionen, in Deutschland und Italien zumal der Fa­schismus; in den Vereinigten Staaten Nordamerikas entwickelte sich im Na­men der verlogenen Moral der prote­stantischen Ethik die Alleinherrschaft des Kapitals im hegemonialen Zugriff auf die ganze Welt, heute Globalisie­rung genannt.

Aber Deutschland, du bist der Welt­geschichte noch immer dein Bestes schuldig geblieben, was du je hervorge­bracht hast! Entweder hat Goethe recht, der sagt, die Weltgeschichte sei nichts als ein fataler Sturz des Men­schen vom Himmel durch die Welt zur Hölle oder Marx, der ausruft: Freiheit oder Weltgericht! Wie auch immer! Das Programm der Neuen Zeit, Novus ordo Saeculorum — von Joachim bis zu Marx, Lenin/Trotzki und Mao ist noch immer nicht eingelöst worden. Die kapitalisti­sche Globalisierung ist eine historische Deviation, oder: die Summe aller histo­rischen Fehlleistungen bisher. War das Mittelalter noch ein humanistisches Weltganzes wie die Renaissance auch, hat die bürgerliche Moderne sich aus der Dichotomie von Terrorismus/Humanismus noch nicht eindeutig herau­sentwickelt und erklärt. Alles deutet aber darauf hin, daß der Humanismus auf dem Wege zur neuen Globalisie­rung auf der Strecke bleibt.

Jede historische Bewegung, sei sie revolutionär genannt oder beliebig li­near, läßt sich letztlich nur von ihrem Ende her, der kein Tod sein kann, defi­nieren. Im übrigen trägt der Revoluti­onsbegriff die Antinomie in sich, bewe­gungsspezifisch doppelt gerichtet zu sein: Zum einen wendet er sich an Ver­gangengesetztes, wohin zurückzukeh­ren sei, etwa die Rückkehr in die alte clandestine Gemeinschaft (vgl. K. Marx, Ethnologische Schriften), zum anderen wird ein Zukünftiges antizi­piert, ein Reich, ein Weltreich ohne Ausbeutung, ohne Geld, ohne Klassen­herrschaft, ohne Staat und ohne Kapi­tal. Der Revolutionsbegriff spiegelt die gesamte Widersprüchlichkeit der Bür­gerlichen Gesellschaft und der Ge­schichte wider, sozialistisch-materiali­stisch, theologisch-teleologisch gedacht oder pragmatisch materialistisch ein­dimensional als Globalisierung. Die wissenschaftlich technologische Revo­lution ohne soziale, politische und kul­turelle ist im Grunde nichts als ein un­endlicher Regreß.

Idee und Begriff der Revolution

Die existenzielle Wurzel der Revo­lution liegt in der unbestreitbaren Tat­sache begründet, daß alle Lebewesen grundsäzlich leiden, der Mensch viel­leicht am meisten (manche sagen, die Engel und die Götter litten noch viel mehr). Nach kommunistisch-materiali­stischem Selbstverständnis leiden die Menschen am meisten unter den Klas­senverhältnissen, sowohl der kapitali­stische Ausbeuter wie auch der ausge­beutete Arbeiter. Die Differenz von Lohnarbeit und Kapital sei quasi kon­stitutiv für alles Leiden in dieser Welt — aufhebbar nur durch die sozialisti­sche Revolution, die ein- für allemal die Entfremdungsverhältnisse zu be­seitigen habe: Den Staat, die kapitali­stisch-bürgerliche Rechtsordnung, die Kirchen und die Klassenherrschaft, Ausbeutung und Unfreiheit usw. Wer hat sich je gefragt, wie unendlich lang­weilig ein sozialistisches Paradies sein müsse: nichts als kollektiv produzie­rende und konsumierende Arbeiter! Fast so schlimm wie Pol Pots tausend­jähriges Totenreich von Bauern. Selbst die durchaus differenzierten „Para­diesvorstellungen“ eines Charles Fou­rier wirken letzlich fade: nichts als eine bürokratisch durchorganisierte Arbeits- und Liebeswelt! An einem gewissen Punkt schlägt die Lust wieder in Leid um. Die Jugend vergeht und mit ihr Schönheit und Liebeskraft. Der Tod bleibt als Stachel so beständig wie der Verfall der Natur. Selbst dann, wenn sich alle Zwistigkeiten unter den Menschen aufheben ließen, überdauer­ten den Ewigen Frieden die Angst vor Veränderung, Verlustängste. Aber die Geschichte als permanente Revolution ist ein realistisches Modell — freilich — quem ad finem? Jedenfalls ist der hi­storisch-dialektische Materialismus eine große menschliche Anstrengung, das Leid aus der Welt zu schaffen — oder geht es nur um Macht, um die Diktatur des Proletariats als Vehikel anderer Machtinteressen?

Man könnte natürlich auch mutma­ßen, daß Karl Marx eine Wiedergeburt des Mannes Moses gewesen sei, der, wie jener, die monokausale und monothe­istische Dogmatik des absolutistischen Realitätsprinzips — Sonnengott = Son­nenkönig mit Hilfe der Leviten als sein neues Programm über das arme jüdi­sche Volk gestülpt habe, um einen neu­en Äon einzuläuten. Die Proletarier würden dann eben die Rolle des jüdi­schen Volkes in der Weltgeschichte ein­zunehmen haben. Aber das ist theolo­gische Spekulation und gehört nicht hierher.

Nun ist das Leiden eine Wurzel der Religionen gleichermaßen, wobei die eine sagt, Leiden sei sinnvoll, denn die­se Welt sei nichtig, die andere indessen, Leiden sei „aufhebbar“. Jedenfalls ist der Glaube eine ebenso starke Triebfe­der revolutionärer Bewegungen wie der soziale, ökonomische oder politische Aspekt. In mancher Hinsicht ist der so­zialistische Revolutionsbegriff jeden­falls säkulär, das heißt eine in die ma­terielle Welt gefallene religiöse Idee. Jedenfalls ist es mit dem vom Kopf­stand in den Beinstand gebrachten Denken oder der Kritik am Idealismus durch Marx/Engels und Co. noch nicht abgetan — was die neue Weltordnung im Hinblick auf die Permanenz des Leidens angeht.

Eine andere, nicht weniger bedeut­same Wurzel des Revolutionsbegriffs ist der Begriff des Krieges, sagt doch Michel Foucault, es führe eine dialekti­sche Spur „vom Licht des Krieges zur Geburt der Geschichte.“ Und ohne Zweifel sind Revolutionen und sogar Rebellionen mäeutische Instrumente und Verfahren auf dem Wege zu einer gemeinsamen Menschheitsgeschichte.

Die Idee der Revolution; insbeson­dere die Idee der sozialistischen Welt­revolution gibt der Sinn- und Richtungslosigkeit aller Kriege Sinn und Richtung — auf ein Ende des Krieges qua ewiger Friede — oder Ende der Welt als Katastrophe hin gerichtet.

Die zivile Ordnung ist im Grunde eine Schlachtordnung. „Wer hat den Krieg im Filigran des Friedens wahrgenommen“, fragt Foucault. Die Antwort wird leider immer wieder lauten müs­sen: Der Krieg ist die Fortsetzung der Politik — mit anderen Mitteln. Welche Politik braucht die Menschheit und von welchem Subjekt geführt, um „Nie wieder Krieg!“ zum kategorischen Im­perativ zu machen?

Heute beherrschen Religionskriege, hegemoniale Machtkämpfe um Welt­markt-Anteile, ideologische Konflikte, geopolitische Positionskämpfe und na­türlich Kämpfe um Rohstoffe im we­sentlichen die Weltpolitik. Von Klassenkämpfen und Revolten auf dem Weg zur Weltrevolution kann man ernsthaft jetzt nur subversiv-theoretisch reden.

Der Kampf der kurdischen PKK ist ein ethnischer Überlebenskampf gegen die türkische Diktatur, der genau so gut unter einem anderen Vorzeichen geführt werden könnte. Die Rebellio­nen in Asien und Mittelamerika, in Südamerika und in anderen Weltteilen haben mit der Idee der kommunisti­schen Weltrevolution überhaupt nichts mehr gemein. Phantasmatische Remi­niszenzen der Roten Khmer oder des Leuchtenden Pfades gleichen eher Rückzugsgefechten als avantgardisti­schen Rebellionen. Wie heißt es so tra­gisch im Heldengesang der Verdamm­ten dieser Erde: Auf zum letzten Ge­fecht! Das könnten die Bauern und Arbeiter auf der ganzen Welt singen, als Abgesang! — bevor sie durch Robo­ter ersetzt oder durch Sanierungsmaß­nahmen marginalisiert worden sind.

Gibt es in der Geschichte nichts als einen permanenten Wechsel von Krieg und Frieden, wird im Schoße des Frie­dens schon wieder der nächste Krieg geboren? Ist die Idee der Weltrevoluti­on nichts als die Große Mutter aller Kriege, die Permanenz aller Wider­sprüche, die nur verdrängt, verschoben oder sumblimiert werden?

Der Augenblick der Revolution

Das Ziel der Rebellion ist die Be­freiung. Das Ziel der Revolution ist die Gründung der Freiheit.

Idealtypisch liegt der Augenblick der Revolution zwischen Rebellion, das heißt der Befreiung aus alter unerträg­licher Herrschaft, da das intendierte Ganze zum Unwahren geworden, und dem wiederholten Versuch, dies Ganze der Freiheit erneut zu begründen. Das Ganze der Freiheit ist bekanntlich nur ideell unteilbar.

Der Augenblick ist nur als Synthe­sis zu begreifen: Hic Rhodos, hic salta! Der Augenblick der Revolution läßt sich gewissermaßen mit der Differenz des physiologischen Sehens und synop­tischen, ja synkretistischen Schauens vergleichen. Im Sehen schlägt peri­odisch der Augendeckel — wie eine Guillotine — nieder. Die an sich gleiten­de Welt der Bilder als ein möglicher Film wird zerhackt in Momente, in Einzelaufnahmen, die menschliche Vorstellungs-, Einbildungs- und Nach­bildungskraft indes schafft ein Ganzes, eben die laufenden Bilder, den Film oder eine kontingente Erzählung, ein Werk der Poesis, ein Kunstwerk! Der Augenblick der Revolution ist ein Schioboleth:

Wenn Revolten in Unheil, Zersplit­terung, Verbrechen und unendlichen Regreß umschlagen, weil ihnen nicht auf dem Fuß die Revolution folgt, ha­ben sie an sich keinen anderen Sinn als die Befreiung von unerträglichen Zwängen. So sagt man also von den 68ern mit Recht: Beautiful losers, denn ihrer Rebellion folgte keine Revolution, wenngleich das Allgemeine dieser Be­wegung die Theorie der Subversion war und auch bleibt. Das sind wir alle, von Che bis zu Dutschke, unsere Gene­ration, die man aber auch verheizt hat: Verlierer und Verlorene. Es ist fast eine Schande, überhaupt noch am Leben zu sein, wäre da nicht der Gedanke Arthur Köstlers und Trotzkis von der Perma­nenz der Revolution und vom Staffettenlauf der Subversion. Rebellionen können scheitern wie Revolutionen auch! Was aber immer bleibt, sind die Zeichen und Symbole im Leib des Un­bewußten und im kollektiven Gedächt­nis der Menschheit. Die Gefahr ist al­lerdings auch nicht zu bagatellisieren, daß genspezifische Manipulationen jede Spur von Revolte tilgen und damit auch historisches Bewußtsein schlecht­hin. Wir sind fast schon so weit. Was Camus noch mit Recht behaupten durf­te, die conditio humana sine qua non sei die Kunst und die Revolte, scheint im schwarzen Loch zu verschwinden.

Die allgemeinste und abstrakteste Voraussetzung für die Bestimmung des Augenblicks der Revolution ist der ver­letzte Leib oder die Wunde: Der Mensch wird geboren als ein verletztes Wesen und zugleich begabt mit Sehnsucht nach Vollendung, nach einer für alle gültigen Heilung. Dies hat Brancusi so wunderbar in seinem Ei dargestellt — diese vollendete Form mit einer Narbe. Befreiung des leiblich und leibhaft Ganzen von den Wunden und Narben des Leidens ist auch ein wesentliches Motiv der Revolution. Die kapitalisti­sche Produktionsweise hat den Leib in ein Ensemble von Körpern pervertiert, nicht zuletzt durch die Taylorisierung der Arbeitskraft. Auch dort, wo die tayloristische Arbeitsweise zugunsten einer autonomen Assemblyline (Volvo) abgeschafft worden ist, bleibt weltweit die Subsumtion des leiblich-wirklichen Menschen unter die Megamaschine der technokratisch-bürokratisch-politi­schen Gewalt bestehen, gleichgültig, ob nun die Guillotine nicht mehr exeku­tiert. Der elektrische Stuhl, die tödli­che Giftspritze, die Bürokratisierung der Welt, der verwaltete Mensch, die Autobahn, der Atomstaat und die digi­talisierte Mediatisierung sind schlim­mer als alles zuvor. Und die Arbeit al­ler, der Herrscher wie der Beherrschten, hat von dionysischer Schöpfung nichts mehr an sich. Das Zukunftsbild der ka­pitalistischen Globalisierung ist ein katastrophal wachsender Terror und das Bild des Endes mit Schrecken — durch keinen Augenblick revolutionä­rer Machtergreifung getrübt.

Der Augenblick der Revolution zer­fällt methodisch-methodologisch na­türlich in verschiedene Momente: in die der Massenpsychologie, der politisch­ökonomischen Voraussetzungen, der politologischen und geopolitischen Substrate, und sogar in solche spekula­tiver Theologie oder selbst Astrologie. Könnte der Augenblick der Revolution von einem Stab der Weltbesten im Be­reich von Prognostik, Zukunftsfor­schung, Simulation und Pentagonstra­tegie bestimmt und auch in seinem weiteren Verlauf gefaßt werden? Wenn ja, dann läßt sich mit denselben Mitteln die Revolution auch verhindern oder in ihr Gegenteil verkehren. Der Augen­blick der Revolution ist auch ein we­sentliches Moment des Umgangs mit dem Zufall und der Wahrscheinlich­keit. Lassen sich Zufall und Schicksal je ganz aufheben?

Scheitert eine Regierungsform, ist an sich der Augenblick der Revolution da. Nicht erst seit der außerparlamen­tarischen Revolutionsbewegung dürfte allgemein bekannt sein, daß der Parla­mentarismus und die demokratische Grundordnung der Gesellschaft per se kein Garant für eine revolutionäre Ver­änderung sein können. Der Augenblick des Umschlagens mag gekommen sein, und dennoch entsteht anderes als erwartet. Vielleicht ist der Mensch doch nicht Herr der Geschichte oder noch nicht. Jedenfalls ist der Augenblick der Revolution vorherbestimmt — nicht nur vom abzulösenden Regime und seiner Struktur, nein, alle historischen Mo­mente wie Wünsche, Hoffnungen, Lei­denschaften, Erwartungen usw. treten in diesem Augenblick aus der kollekti­ven Welt ins helle Tageslicht des Be­wußtseins: Der Augenblick der Revolu­tion ist schrecklich, aber er läutert, wie die antike Tragödie.

Marx faßt den Augenblick der Re­volution bekanntlich so: Wenn die Dif­ferenz von Produktivkraftentfaltung und Produktionsverhältnissen zu groß geworden sei, käme es zu einer revolu­tionären Explosion. Mir ist dieses Mo­dell zu mechanistisch, und die Weltge­schichte hat es im übrigen widerlegt. Carl Schmidt mit seiner Theorie des Partisanen bringt das Moment des tellurischen Charakters des Partisanen bei. Diese Theorie charakterisierte die Revolutionen bisher vielleicht genauer: Der kolonialisierende oder imperiale Eindringling treffe auf den organisier­ten Widerstand der Ansässigen, boden­ständige Bauern zumeist, die sich ge­gen den Aggressor zur Wehr setzten.

Das starke Potential des nationalen und des heimatlichen Widerstandes, die wesentliche defensive tellurische Kraft der Patrioten verteidigt sich ge­gen einen fremden Eroberer. Aber sie muß sich mit der Aggressivität der in­ternationalen kommunistischen Welt­revolution verbinden, um einen neuen Nomos der Erde zu verwirklichen. Ein solches globales Denken unter kommu­nistischem Vorzeichen ist heute nir­gends in Sicht. Die Globalisierung fin­det ausschließlich unter kapitalisti­schen Vorzeichen statt. Der Nomos der Welt wird von der amerikanischen He­gemonie bestimmt, die mit der Vorherr­schaft des Kapitalismus in eins gesetzt worden ist.

Sind denn nur die Figuren im gro­ßen barocken Welttheater vertauscht und die Kostüme gewechselt worden? Ist die Islamische Revolution ein Re­greß oder ein Progreß? Trifft das Wie­dererstarken des Imperialismus nach der fast vollzogenen Dekolonialisierung der Welt auf keine Revolutionen auslösende Kraft mehr? Auf jeden Fall ist die Mediatisierung des öffentlichen Raums eine neue Form des Imperialis­mus, eben nicht nur kulturell, sondern primär materiell. Sie geht der wirt­schaftlichen Globalisierung nur vor­aus.

Die neue Weltordnung

Alles für uns und nichts für die an­deren!

Nach dem Ende des Zweiten Welt­krieges sollte die Welt neu geordnet werden. Winston Churchill hatte da eine ausgezeichnete Idee: „(...) die Welt sollte von den saturierten Nationen re­giert werden, die nicht mehr begehren, als sie bereits besitzen. Läge die Regie­rung der Welt in den Händen hungriger Nationen, gäbe es fortwährend Gefahr (...)“. Wir können uns verhalten wie reiche Männer, die auf ihrem eigenen Boden in Frieden leben.

Die Saat scheint aufzugehen: Die reichen Männer der reichen Gesell­schaften regieren — gemeinsam mit den reichen Männern der hungrigen Natio­nen. Die anderen werden gnadenlos unterdrückt. Und sie dienen schwei­gend und leiden.

Der große Mao hatte noch eine an­dere Idee von der neuen Weltordnung:

Wäre mir der Himmel ein Standort, ich zöge mein Schwert und schlüge dich in drei Stücke: eins als Geschenk für Europa; eins für Amerika; eins aber behaltend für China; und es würde Frieden beherrschen die Welt.

(Die Vorstellung eines neuen Nomos nach Mao, Gedicht Kunlun, Überset­zung Rolf Schneider)

Im Unterschied zur europäischen Weltrevolutionsidee, die auf das Ganze gerichtet war, beschränkt sich Maos Konzept auf eine Dreiteilung der Welt. Trotz Sinisierung des Marxismus be­steht hier chinesisches Denken primär fort, eine andere Geschichtsauffassung, als sie der Westen hervorgebracht hat. In China heute bahnt sich eine Koexi­stenz in einem Lande von Sozialismus und Kapitalismus an: Der Sozialismus ist zwar Staatsreligion Nummer 1 ge­blieben, bei gleichzeitiger sanktionier­ter Lust an Bereicherung Privilegierter und ihrer Teilhabe am Weltreichtum im Club der Plutokraten.

Im Westen hat sich mit dem Ende der Wohlstandsallianz und mit dem Beginn des neuen imperialen Zeitalters der innere Klassenkrieg verschärft — objektiv, bei geschwundenem Klassen­bewußtsein. Niemand vermag voraus­zusagen, ob ein geschrumpftes Klas­senbewußtsein nur ein vorübergehen­der Defekt sei, oder ein nicht wieder umkehrbarer Krankheitsverlauf. Sollte stimmen, daß das Sein das Bewußtsein bestimme, hätten paradoxer Weise die Kapitalisten gewonnen; sollte indes es sich erweisen, daß das Bewußtsein das Sein bestimme, hätte der kommunisti­sche Weltrevolutionsgedanke noch eine Chance.

Mit der Globalisierung der Wirt­schaft hält die Dritte Welt in den rei­chen Nationen selbst Einzug; es wächst die Tendenz zu einer zweigeteilten Ge­sellschaft, in der weite Bereiche un­wichtig werden, weil sie zur Bereiche­rung der Privilegierten unwichtig wer­den. Mehr denn je muß die Masse ideo­logisch und physisch kontrolliert werden und aller Organisations- und Kom­munikationsmöglichkeiten, der Vorbe­dingungen für konstruktives Denken und Handeln, beraubt werden.

Europa befindet sich bewußtseins­spezifisch und entwicklungspolitisch heute an der vergleichbaren Stelle wie Amerika nach dem Bürgerkrieg und Rußland nach 1917. Europa befindet sich, im Verhältnis zu den USA, ja selbst zu Japan und China, politisch­-historisch im Rückstand. Die alte Nationalstaaterei löst sich nur bittweise wenn überhaupt auf, ein „harmoni­sches“ Verhältnis von Zentralisierung und Region ist nicht in Sicht; die öko­nomisch-politische Bedrohung auf dem Weltmarkt sowie geopolitisch ist stei­gend. Noch könnte Europa durch eine sozialistische Revolution seine Weltpo­sition retten, denn nur eine solche könnte Europa vom Balkan bis zum Ural und vom Ural bis an die Küsten Englands und Irlands zusammen­schweißen und als ein fortschrittliches Territorium legitimieren. Ansonsten entsteht nichts als ein bürokratisch verwaltetes zentral-dezentrales Terri­torium als Submarkt des Weltmarktes unter US-amerikanischer Hegemonie, bittweise versehen mit Teilhabe simu­lierter Macht der einen oder anderen, der Briten und Franzosen oder der Deutschen allein. Aber auch „gemisch­te Partien“ sind vorstellbar. Jedoch der Spielmeister bliebe immer ein anderer, niemals ein souveränes Volk, nicht ein­mal die eigene Regierung. Der einzige Souverän ist die kapitalistische Inter­nationale oder die kosmische Superna­tionale, Hauptort Raumstation „Hans im Glück“. Wenn in naher Zukunft der Globalisierungsprozeß abgeschlossen sein sollte, werden nur noch zwei Agen­ten auf der Weltbühne agieren: die ein­same und völlig entfremdete Masse und der Chor kapitalistischer Manager un­ter der Fuchtel wechselnder Dirigen­ten, die alle Abziehbilder von Tyrannen und Diktatoren sein werden: ein Pan­optikum der Gewalt, abgetrennt von der Macht des Volkes, lauter kleine Hitlers und Mussolinis, und Stalins und Metaxis und und und.

Freilich ist auch ein langes Interre­gnum denkbar, wie Rußland es heute erlebt: die totale Mafiotisierung oder die Herrschaft des reinen Verbrechens, wie sie ja in Italien unter Andreotti fast schon Wirklichkeit war, allerdings noch unter dem Mäntelchen des Parlamenta­rismus und der zentralen Staatsreligi­on. Vergessen wir eines nicht: in Italien haben nur zwei Kräfte diesem Interre­gnum entgegengewirkt, und zwar die Masse der gläubigen Kommunisten und die Masse der gläubigen Katholiken, dort eben das Volk; aber keine Verfas­sung und auch kein republikanischer Geist.

Eine unheilige Allianz an der Macht ist heute in Rußland tätig: Die Herr­schaft einer neuen, nicht-kriminellen, aber reaktionären Elite von Laien und orthodoxen Priestern aus der wieder­auferstandenen orthodoxen Kirche und aus Resten der alten Staatsmacht, plus Relikten alter Nomenklatura und neuer dirigistischer Manipulation, minus Alt­kommunisten aber plus Ersatzheer ei­nes dahinvegetierenden russischen Vol­kes ohne Glauben, ohne Zukunft, ver­elendet und abgestumpft. Daraus könnte der neue Supra-National-Staat entstehen. Und natürlich mit den un­terprivilegierten Volksmassen der alten Roten Armee - als riesiges Ersatzheer für die Bedürfnisbefriedigung der neu­en Kapitalisten und ihrer Klientel: Ar­beitskräfte für die Fabriken, Kriege, Konsumsteuerung, Prostitution im ein­fachen Wortsinn; usw.

In den USA hat die Clinton-Admi­nistration die gesamte Erledigung aller Fragen der sozialstaatlichen Praxis, vom welfare-check bis zur Frage der Erziehung, der Schwangerschaftsun­terbrechung, usw. an die Martin Lockhead Co. übergeben, der Welten größte Waffenschmiede. Dort werden mit ih­ren nicht mehr für die Kriegsprodukti­on ausgelasteten Rechnern die neuen Verteilungsungerechtigkeiten betrieben und an der Armut auch noch verdient.

Dies könnte in Europa im übrigen demnächst auch der Fall sein, sollten Kohl und die groß-kleinbürgerliche christlich-soziale Union an der Macht bleiben. Ausschließlich eine Über­gangsregierung aus Grün, Rosa und Halbrot ließe anderes wenigstens er­hoffen, wenn schon keine Revolution.

Ein reaktionärer Staat wie das neue Rußland wäre gewiß in der EU und in der NATO willkommen, vorausgesetzt, die Amerikaner erkämpften ihren aus­schließlichen Hegemonieanspruch in Europa. Ja dann hätten sie auch nichts dagegen, daß Europa auch einig mit Rußland sei.

Welche Rolle überhaupt die Staaten nach Auflösung der Nationalstaaten und ihrer Einrichtungen (z.B. Volksheer) im kapitalistischen Globus spie­len werden, ist nicht so leicht vorherzu­sagen. Leider fehlt bis heute eine Theo­rie des Staates nach Hegel. Marx ist uns eine Kritik der Hegelschen Rechts­philosophie schuldig geblieben. Sie existiert bekanntlich nur als Skizze und ist weit ab von einem theoretischen Entwurf für einen neuen Staat unter diesen neuen Prämissen. Und Lenins Staat und Revolution ist in seiner Grundthese vom Absterben des Staates zumindest partiell wiederlegt worden. Eine zukünftige kapitalistische Weltre­gierung ohne Staat werde möglich, dann indes doch nicht als Resultat der sozialistischen Revolution.

Die alten Nationalstaaten sind zwar in ihrem Verhältnis zum Kapital heute im Absterben begriffen, indes entste­hen neue mit den neuen Submärkten des Weltmarktes. Es wird wahrschein­lich in naher Zukunft nur noch fünf große geo- und machtpolitische Terri­torien mit Zentren und Peripherien ge­ben, der Rest wird als quantite negligeable eliminiert. Auch ein Welt-Herr­schaftszentrum im Weltall ist denkbar und eine Weltregierung dort — die über eine sozial verkommende und ökolo­gisch nur noch auf Sparflamme dahindümpelnde Rest-Welt verfügt. Dies wäre allerdings das wirkliche Ende mit Schrecken.

Wie sehen auf dem Wege zum gan­zen Unwahren, auf dem Wege zur kapi­talistischen Globalisierung die Verkehrsverhältnisse der Weltpolitik, der Staaten und Staatengemeinschaften im Blick auf die Kapital- und Ökointeres­sen, auf nationale Souveränitätsan­sprüche und Hegemoniebestrebungen aus? Wir wissen es nicht genau, da uns die Daten nicht zur Verfügung stehen, aber wir können einige spekulative Thesen aufstellen:

Die Mittel kapitalistischer Globali­sierung sind noch nicht relevant und effizient genug. Die totale Mediatisie­rung der Information ohne reziproke Kommunikation erzeugt mehr Isolati­on als qualitativen Austausch. Information ohne Kommunikation = Isolati­on, auch für die Medienbeherrscher selbst. Die Transportverhältnisse wer­den immer katastrophaler, von Mitwelt läßt sich recht eigentlich schon nicht mehr sprechen. Geblieben ist von allem nur noch Schlachtordnung und Strate­gie unter changierenden Hegemoniean­sprüchen. Und Macht- und Gewaltlobbies. Die Produktion von Gütern wird immer umweltunverträglicher, und von einer Natur als sinnvoller Mitwelt läßt sich nur noch im emphatischen Sinn (die Grünen) sprechen. Kultur gibt es keine mehr, geschweige eine Weltkul­tur. Sie ist nichts als ein Teil der globa­len Vergnügungsindustrien und der Be­wußtseins-Fabriken unter der Fuchtel der selbsterklärten Experten — ein Pan­optikum und ein Big-Mac-Land, eine Kette von Werbespots und ein fortlau­fender, ununterbrochener Pornofilm oder die ewige Wiederholung einiger bekannter Grundmuster aus der gro­ßen Zeit der Stile. Im besten Fall ist der Kunstbetrieb eine changierende und äußerst prostitutive Submarkt-Situation der Manieren und Manierismen, exekutiert von Profitinteressen, Lob­bymakers und den Rollenspielern, den Künstlern selbst, die wie Marktstrate­gen und Samurais oder Renaissance-Colleoni agieren.

Die Kultur ist nichts als ein Simulacrum unter der Ägide nekrophiler Macht- und Kapitalinteressen.

Das alte Machtverhältnis Lohnar­beit und Kapital existiert, fest im Griff der Kapitalisten, dem Sozialstaat und seinen Einrichtungen mehr und mehr entgleitend, als differenzlose Masse von Anbietern und Nachfragern jenseits von Klassenlage, Herkunft, Bewußtsein und Stand sowie Standort: Eine Masse von zum Beispiel hoch ausgebildeten Fachleuten für EDV, Kommunikation oder Research/Design aus Indien etwa steht überall im Westen konkurrenzlos billig zur Verfügung. Räumliche und kulturelle Distanzen spielen keine Rol­le, — dank der globalen Mediatisierung nach digitalem Muster. Zugleich: Ka­stenbindungen lösen sich zugunsten von Klassenkämpfen auf, zum Beispiel zwischen den Unberührbaren und den Brahmanen. Anything goes! Im schwar­zen Sack des Posthistoir.

Mit der neuen, digitalisierten Kom­munikation, die recht eigentlich nichts als ein mixtum compositum aus Transport und Verkehr plus High Tech ist, werden räumlich-zeitliche Differenzen so irrelevant wie die „Natursprachen“ der neuen whitecolour-workers oder ihre kulturelle Herkunft. Freilich sind da die Reaktionen auf diese Globalisie­rung schon überall mächtig in Sicht, insbesondere der neue Islamische Fundamentalismus. Das ist nicht nur ein heart of darkness unter neu patriar­chalen theokratischen Ägiden, das ist wirkliche und sehr gefährliche Reakti­on auf die umfassend pervertierten Verhältnisse im Westen und seine He­gemonieansprüche.

Die Eroberung der Erde, die mei­stens darauf hinausläuft, daß man sie denen wegnimmt, die eine andere Hautfarbe oder etwas flachere Nasen als wir haben, ist keine hübsche Sache, wenn wir ein bißchen genauer hinse­hen. Was das Ganze erträglich macht, ist nur die Idee. Eine Idee dahinter: kein sentimentaler Vorwand, sondern eine Idee; und ein selbstloser Glaube an die Idee — etwas, woran man sich halten und vor dem man sich verneigen und dem man Opfer bringen kann.

(Joseph Conrad, Herz der Finsternis)

Der Westen hat — nach dem Tod Gottes im 19. Jahrhundert — entweder den Glauben an sich selbst verloren oder ihn, wie in den USA, zur höchsten Kommandosache erklärt, zur Staatsre­ligion. Nur aus diesem und keinem an­deren Grund werden große pseudoreli­giöse Bewegungen wie die Scientologen in Europa und den USA so unterschied­lich beurteilt: Die vielen unterschiedli­chen Religionen, die es in den USA von Anfang an gegeben hat, sind dort längst zur Staatsreligion zusammenge­schweißt, das heißt, sie wirken als durchaus willkommenes Steuerinstru­ment wie die Armut auch oder der Sport. In Europa ist das noch anders, auch in der Welt des Islam - noch! Im­merhin: man kann von der Religion denken, wie man will; sie ist an sich keine Angelegenheit der Vernunft, son­dern eben des Glaubens und damit der humanistischen Idee der Freiheit ver­bunden. Wird sie nur noch eine Angele­genheit der Administration und der Staatsmache, also angewandte Ideolo­gie, verliert sie ihre besten Klangfar­ben: Sie wird zu einer Simulation und zu einem Moment der Massenmanipu­lation.

Wirkliche Ideen, Ideenvielfalt und ihre Verwirklichungsmöglichkeit, Ide­ale frei von ideologischen Bindungen sind in einem Land und in den Völkern ein sehr gutes Anzeichen von wirkli­cher Kultur, von Humanismus und Selbstbewußtsein.

Die wahre Religion, nicht nur die Kunstreligion, kann und darf nicht nur ein Instrument politischer Herrschaft sein! Ist sie indes nichts als ihre säku­larisierte Gestalt qua Diamat, wird ei­ner solchen neuen Formation kein lan­ges Leben beschieden sein.

Die Sowjetunion und ihre Satelli­ten sind nicht zuletzt auch daran zu­grunde gegangen, daß sie der Religion nicht wirklich einen Platz in ihrer poli­tisch-kulturellen Mitte einräumen konnten: ihre Gewalt war eben selbst religiöser Natur; sie selbst war und ist — als roher Kommunismus — eine säkuläre religiöse Erscheinung und als sol­che ein für allemal im Verschwinden begriffen. Soll der marxistische Kom­munismus in Zukunft als eine der we­sentlichen Grundlagen der möglichen Weltrevolution noch Chancen haben, dann bestimmt nicht als scientistischer Atheismus oder als Religionsersatz. Heute ist der wissenschaftliche Kom­munismus nur noch Opium für das Volk oder Entsorgungsschlacke auf dem Misthaufen der Geschichte.

Revolution und Geschichte

Die geschichtsphilosophischen The­sen Walter Benjamins inkludieren eine gewaltige Sprengkraft, auch eine als Kritik der Eindimensionalität des hi­storisch-dialektischen Materialismus, der Orthodoxie und der Gewalt stalinistischer Diktatur. Bekanntlich war Benjamin auch in Moskau; sein Tage­buch aus der Zeit kurz vor den Schau­prozessen ist noch immer ein erschüt­terndes Dokument des Verrats an der Revolution und aller humanistischen Ideale der revolutionären Avantgarde.

Bekanntlich soll es einen Automa­ten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzug er­widert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türki­scher Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf ei­nem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Il­lusion erweckt, dieser Tisch sei von al­len Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstel­len. Gewinnen soll immer die Puppe, die man „historischen Materialismus“ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theo­logie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.

(Walter Benjamin, 1. These)

Entschlüsselt man, was der Autor hier als Sach- bzw. Wahrheitsgehalt der Geschichte, das heißt, der neu durch den Materialismus gemachten und gemessenen, in Rußland nach 1917 metaphorisch-kritisch zusammenge­ballt hat, entschließt diese These:

Neu, quasi als vermerkbarer Bruch in der Geschichte, ist das durchgängig mechanistische Prinzip ihrer Deutung, ihre Beherrschbarkeit durch Zwerge und ihre Gestalt als Panoptikum (Spie­gel, Widerspiegelungstheorie). Man muß sich nun die Differenz der Hegel- schen und Marxschen Dialektik ansehen, um zu begreifen, was die mechani­stische Deutung des Weltganzen ist. Freilich hat der mechanistische Realitäts- und Geschichtsbegriff viele Wur­zeln, und daß der Mensch sein eigener Zwerg sei, wissen wir nicht erst seit Hitler und Stalin. Wichtig an Benja­mins erster These ist auch noch die Dif­ferenz von Theologie als ancilla und kommunistischer Ideologie als Staats­religion, im besonderen betreffs Ruß­land.

Versuchen wir heute — in diesem wirkungslosen Posthistoir oder in einer Postmoderne — wieder Fuß zu fassen, müssen wir jedenfalls ein Verhältnis zur Vergangenheit finden, was aus­schließlich, meine ich, durch revolutio­näres Denken und Handeln möglich wird, durch ein Agieren also, das nicht nur vergangensetzt, sondern zugleich auch die Zukunft entwerfen muß und dabei dies ganze Unwahre der Gegen­wart kritisch hinterfragt und distan­ziert: Stellt man sich auf den Stand­punkt, daß unserer Erbschaft der Zeit kein Testament überantwortet sei, wird man im relativen Nichts herumtau­meln. Wer indessen die Revolutionen als großen Auftrag und als Erbe anzu­sehen bereit ist, kann sich nicht damit begnügen wollen, an ihnen bloß herumzukritteln. Kritik der Revolutionen ist mehr als notwendig, aber das Fest­halten am permanenten Geist ihrer Ge­schichtlichkeit gleichermaßen. Das Wesen der Kritik ist Teilhabe, Anteil­nahme und der brennende Wunsch nach Veränderung. Träge und selbstge­fällige, selbstgenügsame Singles und andere Entfremdete werden daran kei­nen Gefallen finden.

Die Prämisse bestimmter Einsich­ten ist immer auch eine pure Angele­genheit des Glaubens und vorab nicht der wissenschaftlichen Erkenntnis. Zu meinen, daß der Kommunismus besser sei als der Kapitalismus, ist nicht nur eine Sache der Klassenlagen. Man muß schon die ganze Freiheit wollen und sie, unteilbar, mit allen ausnahmslos genießen wollen, um Kommunist zu sein. Post festum träten dann noch wis­senschaftliche Beweise hinzu, um zu bedeuten, was die bessere Verfassung einer Gesellschaftsordnung sei, aber der Grund ist immer religiöser Natur. Weder die Kunst noch die Wissenschaft können Berge versetzen, allein der Glaube kann es; und der Geist der Re­volution ist vorab ein sehr gläubiger. Eine Zeit wie die heutige, jedenfalls im Westen, wird keine revolutionäre Kraft zeigen, denn sie hat sich mit allem ab­gefunden, was grundsätzlich schlecht ist. Vielleicht müssen wir alle viel är­mer werden, materiell und im Geiste, um wieder revolutionär zu wünschen. So sind wir mit unserm Unglück nichts als zufrieden. Wir wohlstandsverwahr­losten Demokratie-Sklaven fürchten uns vor der geringsten Veränderung. Das ist der Hauptgrund dafür, daß wir in diesen schrecklichen Hiatus hinein­geraten sind: objektiv spricht alles für die Notwendigkeit der Revolution heu­te, aber niemand will sie, vor allem das Volk nicht. Riefe man ihm wieder zu, ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten, es würde nur trübe lächeln. Die Leute identifizieren sich geradezu mit ihren Ketten, zumal sie den Anschein haben, aus Gold zu sein, aber sie sind im besten Fall aus Stahl.

Vom revolutionären Zeit- und Weltgeist

In seinem Wesen ist der Mensch be­stimmt durch seine

  • Vorgeburtlichkeit
  • Geburtlichkeit und schließlich
  • Sterblichkeit.

Diese drei großen Tore seiner Erfah­renheit und Erfahrbarkeit bilden ge­meinsam mit dem Wissen um die Grunderfahrung des Leides sein Stre­ben nach immer neuer Veränderung aus: Er versucht in periodischen Ab­ständen, individuell oder kollektiv, neue und grundlegende Ordnungen zu etablieren, um sein Streben nach Glück auf Dauer zu stellen und die Erfahren­heit des Leids in der Welt aufzuheben. Die alt- und neutestamentarischen Re­ligionen haben das Leiden für ewig er­klärt und damit die Menschen unter­jocht. Wen wundert es, daß die meisten Revolutionen und Konterrevolutionen aus diesem Schoße kommen. Freilich sind sie und ihre Exegeten immer wie­der daran, Versprochenes und Geoffenbartes einzulösen, beziehungsweise hart einzufordern, was dann zumeist zu schrecklichen Religionskriegen führt, wie um Jerusalem etwa oder um Rom, Byzanz oder Moskau. Monotheistisch­patriarchale Lehren brauchen ein Zen­trum und diesem setzt sich ein anderes entgegen: Der Krieg zwischen beiden ist auf Dauer unvermeidlich. Hier sind auch alle späteren Formen durchge­paust wie etwa der Kampf heute zwi­schen Weltzentren und Peripherien. Nur in einer vollkommen dezentralen Welt, stammesgemeinschaftlich struk­turiert und staatenlos, könnte Welt­krieg vermieden werden. Es gehört auch zur Erfahrenheit der Moderne, daß politisch organisierte Massen, auch dort, wo sie monotheistisch zentrali­sierte Gebilde ideologisch säkularisiert betreiben, in zunehmendem Maß auf immer größere und schrecklichere Weltkriege mit offenem Visier zugehen. Lenin hat zurecht vorausgesehen, daß das 20. Jahrhundert eines der Kriege sei, vom 21. Jahrhundert wird man sa­gen, es werde das Jahrhundert der Endkriege der drei großen monotheisti­schen Religionen gewesen sein, die in diesem Krieg alle untergehen werden. Und auf den Trümmern dieser Kriege wird sich der kapitalistische Materia­lismus seinen Weg zur endgültigen Glo­balisierung und Kosmisierung bahnen, wenn nicht, ja wenn nicht ... Wie schrecklich! Keine negative Utopie reicht aus, das furchtbare und un­menschliche Bild einer solchen Zukunft auszumalen, weder Orwell noch Ait­matow.

Zur Eigentümlichkeit der menschli­chen Existenz gehört die Tatsache, daß sie am Vergangenen eifersüchtig klebt, und zwar in der jeweils hegemonial do­minanten Interpretationsweise der nur den Herrschenden eigenen Tradition, während sie auf das Zukünftige wenig neidlos hinblickt. Damit möchte auch begründet sein, daß die Väter- und Müttergeneration von heute, trotz an­derslautenden Beteuerungen, ihren Kindern ökologische und psychologi­sche Wüsten hinterläßt. Es schwinge, sagt Walter Benjamin in seiner zweiten geschichtsphilosophischen These, in der Vorstellung des Glücks unveräu­ßerlich die der Erlösung mit. Wie kann eine Generation, die so grundsätzlich auf Erlösung verzichtet, ihren Kindern anderes denn Verwüstungen hinterlas­sen.

Mit der Vorstellung von Vergan­genheit, welche die Geschichte zu ihrer Sache macht, verhält es sich so: Die Vergangenheit führt einen heimlichen Index mit, durch den sie auf die Erlö­sung verwiesen wird. Streift denn nicht uns selbst ein Hauch der Luft, die um die Früheren gewesen ist? Ist nicht in Stimmen, denen wir unser Ohr schen­ken, ein Echo von nun verstummten? Haben die Frauen, die wir umwerben, nicht Schwestern, die sie nicht mehr gekannt haben? Ist dem so, dann be­steht eine geheime Verabredung zwi­schen den gewesenen Geschlechtern und unserem. Dann sind wir auf der Erde erwartet worden. Dann ist uns wie jedem Geschlecht, das vor uns war, eine schwache messianische Kraft mit­gegeben, an welche die Vergangenheit Anspruch hat. Billig ist dieser An­spruch nicht abzufertigen. Der histori­sche Materialismus weiß darum.

(Wal­ter Benjamin, 2. geschichtsphilosophi­sche These)

Ob seiner trinitarischen Pfortenexi­stenz, ob seiner Leidenserfahrenheit, ob seines Glückstrebens, ob seiner Heilserwartung ist das menschliche Denken als tatensetzendes immer dar­auf ausgerichtet, einen neuen Anfang zu machen — novus ordo saeculorum. Das ist der Geist der Revolution! In­dessen inkludiert der an sich nach vor­ne gerichtete Revolutionsblick immer zugleich auch die Konterrevolution, denn der Revolutionsbegriff ist doppelt gerichtet: auf Vergangenes wie auf Zu­künftiges gleichermaßen. Das macht ihn ja so schrecklich und für die wenig­sten verständlich. Vielleicht müßten wir einen Revolutionsbegriff entwickeln, der nur Zukünftiges meint, aber ich weiß nicht, ob sich Zukünftiges je von Vergangenem wird abtrennen las­sen. Es gehört auch zur Tendenz kapi­talistischer Globalisierung, alles Ver­gangene als ein für allemal Vergange­nes abzustellen und darin liegt auch ein großes Verhängnis!

Taugt der Revolutionsbegriff über­haupt als Erklärungsmodell der Ge­schichte?

Alle Revolutionen in der Mensch­heitsgeschichte sind als Zentralsonnen zu begreifen, von denen der energetische Impuls ausgeht, der nicht nur den sozialen Körper der neuen Geschichte, das Volk, zu gebären und zu formieren hat. Das Volk ist der neue Souverän, das neue Subjekt der Geschichte, ohne Geburtswehen der Revolutionen un­denkbar. Freilich hat die Gegenreakti­on auf die Revolutionen aus dem Volk wieder das traurige Antlitz der einsa­men Masse hervorgebracht, das ein Hohn und eine Fratze ist, ein Hohn auf die mögliche neue Menschheit und die Fratze des Humanen. So wird es zur Aufgabe der nächsten Revolution, aus den Menschenmassen wieder Menschen zu machen, was ohne die Aufhebung des Kapitals und die Transformation des Krieges in den Weltfrieden undenk­bar ist. Die Mittel einer solchen Revo­lution stammen zum Großteil gewiß aus der Produktionskiste des Kapita­lismus, aber bestimmte Dinge werden aus anderen Epochen vorab besser zur Erreichung geeigneter Ziele nutzbar sein, wie etwa die Erzeugung von Le­bensmitteln durch Bauern und nicht durch Maschinen. Das harmonische Verhältnis von Hand-, Kopf-und Fuß­arbeit wird, wie der Übergang zur Tei­lung der Arbeit, neu zu definieren sein. Dabei werden sowohl Weltzeit wie auch Welt-Raum anders als heute ins poli­tisch-ökonomisch-kulturelle Kalkül zu ziehen sein.

Ein Ziel der Weltrevolution muß die Rückführung der Zeit auf ein mensch­liches Maß sein, desgleichen die Enträumlichung der Zeit. Solange diese Welt nichts als ein toter Gegenstand unter der taktischen Fuchtel der Dik­tatoren und ihres totalitären Anspruchs ist, wird sie nekrophil bleiben. Solange der Weltmarkt nichts als der Austausch lebendiger Arbeit gegen totes Kapital und tote Dinge ist, beherrscht von der sogenannten Bedürfnisbefriedigung nach mechanistischen Prinzipien, bleibt er die Prostitution aller Agen­ten.

Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnah­mezustand, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem ent­spricht. Dann wird uns als Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnah­mezustandes vor Augen stehen, und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern. Dessen Chance besteht nicht zuletzt darin, daß die Gegner ihm im Namen des Fortschritts als einer historischen Norm begegnen. — Das Staunen darüber, daß die Dinge, die wir erleben, im 20. Jahrhundert noch möglich sind, ist kein philosophisches. Es steht nicht am An­fang einer Erkenntnis, es sei denn der, daß die Vorstellung von Geschichte, aus der er stammt, nicht zu halten ist.

Walter Benjamins achte These ruh­te noch ungedruckt mit dem gesamten Manuskript Über den Begriff der Ge­schichte in seiner Aktentasche, die er auf der Flucht vor nazistischer Verfol­gung von Paris zur spanischen Grenze bei sich getragen hatte. Er selbst weilte dann sehr bald schon nicht mehr unter den Lebenden, aber seine Manuskripte wurden auf wundersame Weise geret­tet.

Der Ausnahmezustand ist die Revo­lution, die Sache selbst, von der her die Menschheitsgeschichte neu zu denken sei:

Der Ursprung ist das Ziel

Von allen Revolutionen bisher, im besondern von der großen russischen Oktoberrevolution wird man sagen müssen, sie hätten die ihnen und ihrem Geist entsprechende Institution nicht gefunden. Ist deshalb der Begriff der Revolution oder der der Weltrevolution ad acta zu legen?

Der Mensch, dieses dialektische Phänomen, ist gezwungen, ständig in Bewegung zu sein (...). Der Mensch kann also nie einen endgültigen Ruhe­platz finden und seine Wohnstatt bei Gott aufschlagen. Wie schändlich sind also alle festen Maßstäbe. Wer kann je einen Maßstab festsetzen? Der Mensch ist eine Wahl, ein Kampf, ein ständiges Werden. Er ist eine unendliche Migra­tion, eine Migration innerhalb seiner selbst, von Staub und Asche zu Gott. Er ist ein Wanderer innerhalb seiner eigenen Seele.

(Ali Shariati)

Die Geschichte ist weder leer noch je vorüber, solange der Mensch handelt und sein Handeln selbst verantwortet. Gerade das Wissen, daß er leidet wie alle Kreatur und daß er ständig voran­schreiten muß, aufrechten Ganges und mit der Sonne zugewandtem Gesicht, verpflichtet ihn zu allen Errungen­schaften seiner gesamten Tradition, verpflichtet ihn aber auch, gewaltsam jetzt zu sagen, und sich, sollte man ihn marginalisieren wollen, gewaltsam in dieses blinde Kontinuum Geschichte hineinzusprengen: Dies ist das Recht des abgelegten und verwaisten Kindes, dies ist die Legalität der Revolution.

Dieser Tigersprung unter dem frei­en Himmel der Geschichte ist der dia­lektische, als den Marx die Revolution begriffen hat. In Zeiten des Interre­gnums gelte, was ein flämischer Mönch im 12. Jahrhundert gedacht hat:

Es ist (...) eine Quelle großer Tu­gend für den erfahrenen Geist, Stück für Stück zu lernen, sich hinsichtlich der sichtbaren und vergänglichen Din­ge zu ändern, so daß er später in der Lage und fähig sein kann, sie völlig hinter sich zu lassen. Derjenige, der sein Heimatland süß findet, ist noch ein schwacher Anfänger: derjenige, für den jedes Stück Erdkrume wie sein ei­genes heimisches ist, ist bereits stark; vollkommen aber ist derjenige, für den die ganze Welt Fremde ist. Die zarte Seele hat ihre Liebe fest in einer be­stimmten Stelle der Welt verankert; die starke Persönlichkeit hat ihre Liebe auf alle Regionen ausgedehnt; der voll­kommene Mensch hat die seine ausge­löscht.

Der Geist der Revolution ist nicht verlorengegangen, ihre Spur verläuft in der kollektiven Phantasie der Menschheit. Davon weiß vorab der Dichter zu singen. Die Poesis und nicht die Ökonomie ist der Uterus prometheischer Veränderung. Die kommu­nistische Kritik der kapitalistischen Verhältnisse muß bestehen bleiben, aber sie soll sich mit dem poetischen Weltentwurf verbinden, der per se poesis und nicht oikonomia ist.

Die wirtschaftliche Globalisierung und der scheinbare Sieg des Kapitalis­mus möchten die Sache des Kommunismus, die Sache selbst und ihre Ge­schichte, ad acta legen, indessen bleibt der Gedanke der Subversion und der Revolution solange aktuell, solange die Menschheit in gedemütigten, geknech­teten und unfreien Verhältnissen lebt, solange der Mensch ein verlassenes und verächtliches Wesen ist. Alle Verhält­nisse sind umzuwerfen, die die diony­sisch schöpferische Arbeit des Men­schen in lohnabhängige und kapitalbestimmte Sklaventätigkeit verkehren — dies ist der kategorische Imperativ des Kommunismus, der erst durch seine Verwirklichung aufzuheben ist.

Nec/nec

nicht hammer und nicht amboß
auch kein herr und nie knecht
ein krieger jedoch und ein pazifist
gehend
aufrecht in die schlacht
der lebenden opfer wie die rache
der toten fürchtend
immer voran
über die schatten hinaus
auf dich zu
zur rückkehr vom andern bestimmt
derart dämon den liebenden
wie botschafter aller
verkündend
die lustvolle zeugung der welt;
vertrauter des seins wie des nicht­seins
pilger der kabbala
unterwegs im labyrinth der
kombination
vermeldend den bewunderten
was von den begehrenden
und den begehrenden
was von den bewunderten kommt
der einen geschenke und tribute
der anderen ermessen
und vergebung der tribute;
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