MOZ, Nummer 58
Dezember
1990
Sanierungsfall Polen:

Operation gelungen, Patient tot

Die Westsicht und die Ostsicht. Beide gibt es nach wie vor. Im Sanierungsfall Polen sind sich allerdings der marktwirtschaftlich sozialisierte Journalist aus dem Westen und sein planwirtschaftlich sozialisierter Kollege aus dem Osten einig: Polen 1990 ist das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten.

Um hinter die Kulissen des Umstrukturierung genannten Großversuches an einem ganzen Volk zu blicken, bereisten MONATSZEITUNG-Redakteur Hannes Hofbauer und der Chefredakteur der in Wroclaw/Breslau erscheinenden Zeitschrift „Sprawy i Ludzie“, Julian Bartosz, Mitte November eine Woche lang das Land.

Cocktail aus den Angaben des polnischen statistischen Hauptamtes: 40 Mrd. US-Dollar Auslandsschulden; Industrieproduktion im Vergleich zum Vorjahr um 30% gefallen; Reallohnverlust seit 1989: 35%; Inflationsrate nach der Hyperinflation: ca. 300% pro Jahr; registrierte Arbeitslose: 1,5 Millionen.

Die größte US-amerikanische Investment- und Brokerbank „Merill Lynch“, die gerade zusammen mit der „Creditanstalt“ in Wien und Budapest einen „Austro-Hungarian Fonds“ zur Privatisierung der ungarischen Staatsbetriebe gegründet hat, warnt ihre Kunden vor mittelfristigen Investitionen in Polen. In ihrer monatlich erscheinenden Hitliste der unsichersten Geldanlegeplätze der Welt nimmt das Land an der Weichsel die letzte Stelle der ehemaligen Ostblockländer ein.

Ohnmacht und Konzeptlosigkeit beherrschen dementsprechend den sozial- und wirtschaftspolitischen Diskurs der polnischen Wissenschaftler und Politiker. Aggressionen werden — zurecht, aber nutzlos — an der 40 Jahre lang politisch dominierenden Staatspartei PVAP (Polnische Vereinigte Arbeiterpartei), die sich längst in „Sozialdemokratie“ umbenannt hat, ausgelassen.

Mondpolitik

„Mondökonomie“, so nannten die Polen in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg jene konzeptlosen Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen, die von Planungsministerium und ZK-Beschlüssen dekretiert wurden und im besten Falle guten Willen, niemals jedoch wirtschaftliche Logik als Grundlage hatten. Im neuen Selbstverständnis der Regierenden müssen Eingriffe ins Wirtschaftsleben — so steht es in der einschlägigen monetaristischen Fachliteratur — weitgehend unterbleiben, um den freien Marktkräften und so weiter und so fort. Folgerichtig hat man sich von der Mondökonomie auf die Mondpolitik verlegt, sprich: man wünscht sich in bester voluntaristischer Tradition eine kapitalistische Sanierung mit sozialer Absicherung für die Armen; keine staatlichen Direktiven und viele staatliche Mittel im Sozialbereich.

Kohlengrube in Niederschlesien

Die ehrlichsten unter den sogenannten Experten allerdings haben sich der Propagandasprache entledigt und beginnen, die allgemeine Konzeptlosigkeit selbst zum politischen Thema zu machen. Karol Modzelewski, Senator und ehemaliger Pressesprecher der Solidarnosc: „Wir stehen heute vor immensen strukturellen Problemen, und es ist völlig unbekannt, wie das Resultat des Umstrukturierungsprozesses aussehen wird. Unsere Regierung allerdings nimmt das gar nicht wahr und betreibt eine Laissez-faire-Politik, die mir Angst macht.“

Wahlkampf: Wer ist der Feind?

Rundum baffes Staunen über die Dynamik der Krise. Der Präsidentschaftswahlkampf Walesa gegen Mazowiecki bietet Gelegenheit, die jeweilige Ahnungslosigkeit mit schönen Worten zu verbrämen.

Im Breslauer Studentenklub „Sesam“ der „Bewegung für alternatives Denken“ hat Janusz Zagórski, ein ehemaliger Jungkommunist, der aus der Partei gefeuert wurde, je zwei Wahlkämpfer der früheren politischen Freunde Walesa und Mazowiecki zum Streitgespräch geladen. Die Solidarnosc-Sieger — vor einem Jahr geschlossen und vereint gegen die „Kommune“ genannte 40jährige Parteidiktatur — sind heute Gegner, ja — wie es manchmal scheint — sogar Feinde geworden. Die einen sind Mitglieder der „Zentrumsallianz“ der Gebrüder Kaczynski — jener politischen Vorreiter von Lech Walesa, die die polnische Westintegration „beschleunigen“ wollen, die anderen vertreten die „Bürgerbewegung Demokratische Aktion“ und den amtierenden Ministerpräsidenten Mazowiecki. Lange Referate von beiden Seiten. Gähnendes Publikum. Erhitzt wird die Atmosphäre im Saal eigentlich nur von den starken Lichtern des lokalen Fernsehens. Ein älterer Herr, der eigens zu dieser Veranstaltung mit dem Zug angereist ist, möchte endlich wissen, was die Protagonisten von Lech Walesa und Tadeusz Mazowiecki trennt. Wieder Wortflüsse zum Thema politische Kultur, Charaktereigenschaften, Bildung und ähnlichen Wichtigkeiten. Plötzlich aber fällt der Satz über den Unterschied — hineingebrüllt in den Raum von einem enttäuschten Gewerkschaftsführer aus der ersten Reihe:

Ihr seid nun an der Regierung, ihr seid die neue Nomenklatura, ihr genießt die Privilegien der Macht, und wir armen Ärsche haben nichts davon ...

Drei Tage später, am 8. November, wird Prof. Bonislaw Geremek, der bisherige Leader des „Parlamentarischen Bürgerklubs“, der alle Abgeordneten und Senatoren der Solidarnosc im Sejm und Senat vereint, diesen Unterschied etwas nobler herausstellen. Es genüge nicht einen Gegner zu haben — die ‚Kommune‘ — viel schwieriger ist ein richtiges Konzept für die Zeit danach. Und da es verschiedene Wege gebe — so Geremek — und er den abenteuerlichen Weg Walesas nicht mitverantworten wolle, nehme er als Fraktionschef seinen Hut. Nachfolger des Intellektuellen wurde ein Arbeiter, der Abgeordnete und Gewerkschaftsmann aus Nowa Huta, Gil. Genauso haben es früher die ‚Kommunisten‘ gemacht: Wenn’s brenzlig wurde und schöne Worte nicht mehr reichten, schickten sie einen Mann ‚von der Basis‘ vor, am liebsten eben einen richtigen Arbeiter. Um deren Wohl habe es ja zu gehen.

Dieser verbale Tribut an die ‚Basis‘ — immerhin noch etwa 11 Millionen sind lohnabhängig oder Gehaltsempfänger — ist indes nicht mehr allgemeingültig. Im wilden Gebüsch der Polit-Jägerei des polnischen Reviers wird heute verstärkt mit anderen Werten geschossen: einheitliche Nation, christliche Grundsätze, Pluralismus und ganz freie Marktwirtschaft.

Auch die zwei großen Parteien um Walesa und Mazowiecki, die sich nur ungern als Parteien bekennen, sind auf diese propagandistischen Zugmaschinen umgestiegen. Die beiden Solidarnosc-Schöpfungen sind ganz und gar auf die Marktwirtschaft und auf den Kapitalismus eingestellt. Nur so könne der Mensch frei werden, nur dadurch sich ein menschliches und würdiges Leben aufbauen, selbstverständlich wenn er’s kann, wenn er sich darauf versteht, ‚unternehmerisch‘ zu sein. Und wie man es auch drehen und wenden möchte — die Mehrheit der Menschen in Polen glaubt heute daran. Sie hofft es, sie muß daran glauben, um überhaupt eine Perspektive zu haben.

Polen, das Land der unbegrenzten Unmöglichkeiten hat seine eigene Normalität und zumindestens für den politischen Hausgebrauch auch seine eigenè Logik. Dies bezieht sich auffallend auch auf die ‚linken‘ Darsteller im Polit-Zirkus.

A propos Zirkus. Im großen Zirkus „Arena“ — aufgestellt in Wroclaw/Breslau — wird jetzt — wie auf jedem freien Fleck in den Straßen — Handel getrieben. Doch bevor der sprichwörtliche Rubel zu rollen begann, wurde der Zirkus durch einen Prälaten mit Weihwasser eingesegnet — wie alle drei Spielcasinos in der Stadt auch. Nichts in Polen geht ohne eine solche heiligende Bespritzung. Auch die „Polnische Union der Sozialdemokraten“, die nach der Beerdigung der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) unter Führung von Genossen Fiszbach als eigene Parlamentsgruppe entstanden ist, begann die neue Etappe ihrer Tätigkeit unter diesem Zeichen. Die andere, auch dem Grab der PVAP entstiegene Neubildung — die „Sozialdemokratie der Polnischen Republik“ (SdPR) — ist zwar nicht so bigott wie die ‚Unionisten‘, ihr größtes Defizit jedoch besteht darin, daß sich sogar ihre ureigenen Beichtväter nicht für die Partei werben lassen.

Mit drei Sozialdemokraten verbringen wir einige Viertelstündchen in ihrer Abgeordnetenbleibe im neuen Parlamentshotel in Warschau.

Sie sind also — fragen wir die Ex-Mitglieder der PVAP — im Juni 1989 in den Sejm, das polnische Parlament, gewählt worden, mit dem Auftrag der ‚Basis‘, die es faktisch nicht mehr gab, für einen reformierten Sozialismus einzutreten, und jetzt — 16 Monate später — wollen Sie sich für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz einsetzen. Wie geht das?

„Das geht ganz einfach“, meint der ehemalige Direktor des größten polnischen LKW- und Buswerkes „Jelez“, Genosse Dalgiewicz, „weil wir ja im Grunde genommen im reformistischen Flügel der Partei schon immer für den Kapitalismus waren.“ „Und es ginge auch heute umso einfacher, wenn wir für den Kapitalismus das Kapital hätten“, setzt sein Parlamentskollege Boguslaw Was nach.

Genosse Was, ein Arbeiter, der betont, daß er der Arbeiterschaft ‚entstamme‘, gibt uns ein Beispiel, wie das bei seiner Firma funktioniert hat, die vom Konzern „Asea Brown Boveri“ aufgekauft wurde: Arbeitsplätze gesichert, Technologien angenommen, Aufträge erhalten, der Westen im eigenen Haus, nur die Löhne seien so „wie für die Neger“.

  • Damit sind jedoch die Sozialisten nicht einverstanden, wandten wir ein.
  • Was für Sozialisten? wollen die Abgeordneten wissen.
  • Die unter Jan Józef Lipski, der über die Liste der Solidarnosc in den Sejm gewählt wurde und heute Vorsitzender der traditionsreichen Sozialistischen Partei (PPS) ist.
  • „Ach, diese Spinner!“ wehrt der Ex-Direktor händeringend ab.

Ex-Bürokraten, Ex-Manager, Ex-Karrieristen der gestürzten realsozialistischen ‚Kommune‘, welche jahrzehntelang die illegalen Sozialisten sowie jede andere nicht konzessionierte Linke aufs schärfste bekämpften, sind heute für den Kapitalismus mit menschlichem Antlitz während die Sozialisten — endlich wieder legal — zu ihren alten Parolen und Werten stehen.

Links von der PPS gibt es, von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen, kleine Grüppchen, die darauf hoffen, nach tapferer Zettelaktion, Wandmalerei und mündlicher Agitation in der Stunde, in der die Geduld der Pol/inn/en reißt, endlich auf den Plan treten zu können. Klein sei heute ihr Einfluß, gibt Wlodzimiert Bratkowski von der „Gruppe der Arbeiterselbstverwaltung“ zu, doch dies könne sich ändern. Auch diese ganz Linken sind stark im Glauben ...

Volk der Händler und Teilzeitemigranten

Die meisten Pol/inn/en sind an den sich wöchentlich ändernden politischen Allianzen inner- und außerhalb des Sejm nur mäßig interessiert. Die für das Frühjahr geplanten Parlamentswahlen werden sie ebenso unbeeindruckt lassen wie das aktuell stattfindende Präsidentschafts-Hickhack. Sie sind schlicht mit dem Überleben beschäftigt.

Das Straßenbild von Warschau ist von sitzenden, fahrenden und sonstigen fliegenden Händlern geprägt. Viele, vor allem junge Leute versuchen, sich ihren kärglichen Lohn mit dem Verkauf einer Stange West-Zigaretten oder billig reproduzierter Videos und Musikcasetten aufzubessern. Wiener Kaffee, Schokolade aus polnischen Genossenschaften, Matchboxauto-Imitationen, Windeln und Klopapier, große Teile des „Aldi“- und „Billa“-Angebotes werden an jeder Strassenecke feilgehalten.

Fast die Hälfte der diesjährigen Hochschulabsolventen hat — krisenbedingt — keine Arbeit gefunden, und so stehen hinter den als Verkaufsfläche dienenden Campingtischen nicht selten Historiker/innen, Philolog/inn/en oder andere Doktoren, die sich — noch — den Fangarmen der jeweiligen Bezirksmafia entziehen können. In Görlitz an der Oder sind diese jungen Straßenhändler bereits von den ansässigen Geschäftsleuten, die meist erst vor ein paar Monaten ihre Lokale privatisiert haben, vertrieben worden. Heftige Auseinandersetzungen um die seit Sommer mit DM einkaufenden ostdeutschen Kunden führen entlang der Oder/Neiße-Grenze immer häufiger zu Polizeieinsätzen.

Eine andere Möglichkeit, dem inflationsbedingten Elend der Niedrigstlöhne zü entgehen, ist die Arbeitssuche im Ausland. Nicht nur am Bau und bei der Weinlese verdingen sich Tausende im Tag- und Stundenlohn, auch Ärzte, Architekten und hochqualifizierte Techniker nehmen Urlaub vom Zloty-Arbeitsplatz, um ihr Devisenkonto zu füllen. „Unsere ganze zahntechnische Abteilung ist im Sommer vorigen Jahres in die BRD gefahren, um dort vier Wochen lang für eine private deutsche Klinik zu schuften. Die Zahnärzte waren bis in den Herbst hinein überall ausgeflogen“, erzählt uns ein Mediziner, der selbst die Teilzeitemigration betreibt. „In den vier Wochen Auslandsarbeit kann man sich fast ein ganzes polnisches Jahresgehalt dazuverdienen.“

Händler ...
Bettler
Walesa

Die Gewinner

Die Ein- und Ausfuhr von Devisen ist ebenso legalisiert wie der private Import und Export von Waren. Und dort, im großangelegten Handel — sowohl innerhalb Polens als auch mit dem Ausland —, sind die Verdienstmöglichkeiten wahrlich sensationell.

Seit etwa einem Jahr gibt es in Polen sogenannte Warenbörsen. Gedacht als Handelsplatz für Wertpapiere, fungieren sie mangels Wertpapiermarkt als Vermittlungsbüros für An- und Verkauf. „Wir vermitteln Waren aller Art“, erzählt Henryk Swierczynski, Chef der niederschlesischen Warenbörse. „Zuerst wenden wir uns an die staatlichen und privaten Produzenten und fragen, was sie anzubieten haben und was sie brauchen. Dann regelt einer meiner Mitarbeiter das Geschäft. Die Provision bleibt uns als Gewinn.“ Im kleinen Büro in der Innenstadt von Walbrzych/Waldenburg tummeln sich sechs Makler und zwei Sekretärinnen um Telexgeräte und Schreibmaschinen. In der Ecke ein Stapel Getränkeflaschen der Marke „Hippo Grapefruitowy“ von einem nicht zustande gekommenen Geschäft.

40 solcher Warenbörsen gibt es zur Zeit in Polen, die Fachzeitschrift „Boss“ schätzt, daß bereits 15% des gesamten Warenvolumens auf diese Weise umgeschlagen werden. Vor allem Lebensmittel finden so ihren Weg vom Produzenten zum Grossisten bzw. zum Einzelhandel.

Was sein riskantestes Geschäft war, wollen wir vom Chef des Unternehmens, Herrn Swierczynski, wissen. Er erzählt uns vom Zucker-Flop. „Anfangs war das noch eine Riesensache. Die Regierung hat versucht, die Ankaufspreise für Zucker künstlich niedrig zu halten. Daraufhin begannen im September 1990 die Bauern zu streiken und Straßenblockaden zu errichten, die von der Polizei z.B. in Mlawa (nördlich von Warschau) gesprengt wurden. Wir spekulierten auf einen hohen Zuckerpreis und kauften viel Zucker. Ein paar Wochen lang hat sich das rentiert. Dann allerdings drohte die Regierung mit der Einfuhr billigen EG-Zuckers, und die Raffinerien senkten ihre Produktionskosten. Jetzt sitzen wir auf dem alten, teuren Zucker.“

Einen zerknirschten Eindruck macht Herr Swierczynski deshalb noch lange nicht. Die meisten anderen Geschäfte werfen dicke Gewinne ab. Und daß es bis heute noch keine gesetzlichen Grundlagen für Warenbörsen gibt, kann ihm nur recht sein. Im Dickicht der ursprünglichen Akkumulation überleben nur die Stärksten. Und zu denen zählt er sich.

Die Verlierer

Außer dem Chef der niederschlesischen Warenbörse kennt Walbrzych/Waldenburg kaum Profiteure des neuen, liberalen Zeitalters. Von den 140.000 Einwohner/inne/n der Industriestadt lebt mehr als die Hälfte vom Kohlebergbau. In drei Gruben wird die sogenannte chemische Kohle gefördert, bis zu einen Kilometer tief unter der Erde. „Die Produktionskosten der hiesigen Kohle liegen viermal höher als ihr Verkaufspreis“, weiß der Vorsitzende der örtlichen Bergbau-Solidarnosc, Zbigniew Senkowski, und gibt sich nicht gerade optimistisch, was die Zukunft der Region anbelangt. „Die Solidarnosc will die Umstrukturierung inklusive Liquidierung des unrentablen und gesundheitsschädlichen Bergbauunternehmens, aber wir fordern soziale Absicherung.“ Wie das passieren soll, ist unklar.

Seit 20. Februar 1990 liegen die Forderungen der Bergbau-Solidarnosc auf dem Tisch des Industrieministers. „Die Regierung ist ratlos, ohne Konzept“, klagt der örtliche Gewerkschaftsfunktionär. „Jetzt hat sie uns eine französische Sanierungskommission geschickt, aber in dem 120seitigen Papier steht nicht viel drinnen.“ Tatsächlich beschränken sich die Vorschläge der Expertengruppe auf Standard-Alternativen wie „Tourismus entwickeln“ oder „Leichtindustrie forcieren“. Daß in Waldenburg nicht nur eine ökologische Bombe — das schlesische Industriegebiet gilt als eine der am schlimmsten verseuchten Gegenden Europas —, sondern auch eine soziale tickt, haben selbst die französischen Sanierer in ihr Konzept geschrieben: „Bei der unvermeidlichen Schließung der Kohlengruben drohen soziale Ausschreitungen und Rowdytum, die auch auf benachbarte Regionen überspringen können.“

Am 20. November, so beschloß die Bergbau-Solidarnosc auf einer landesweiten Sitzung, tritt die Belegschaft sämtlicher Kohlegruben in den Streik. Die Stadt Waldenburg/Walbrzych wird zwar kurzfristig durch das bei Arbeitskämpfen übliche Hissen der rot-weißen polnischen Fahne etwas bunter, die Zukunft für das niederschlesische Bergbaugebiet ist aber schwärzer als der Kohlenstaub, der sich Mitte November mit dem Nieselregen vermischt und die Gehsteige der Wohnbezirke in graue, rutschige Flächen verwandelt.

Der Balcerowicz-Plan

Drei grundlegenden ökonomischen Problemen steht Polen heute gegenüber. Ausgangspunkt aller Umstrukturierungs- und Sanierungsversuche ist eine auf dem Weltmarkt hoffnungslos konkurrenzunfähige Produktionsstruktur, die in Zeiten zollpolitischer Abschottung ein hochsubventioniertes Dasein führte; Bergbau, Schwerindustrie und kleinstparzellierte, privat geführte Landwirtschaft sind die Eckpfeiler dieser nur unter starkem politischem Schutz überlebensfähigen Volkswirtschaft. Nach der Entlassung Polens in das Gravitationsfeld der freien Marktkräfte aus dem Westen steht der Wirtschaft des Landes ein Kollaps bevor.

Ein vordergründig leichter lösbares strukturelles Problem ist die seit Jahrzehnten bestehende Schere zwischen Nachfrage und Angebot. Im realen Sozialismus, von den Pol/inn/en auch ‚Kommune‘ genannt, war die Nachfrage nach Gütern immer stärker als das Angebot, das heißt, vielen Zlotys in den Sparstrümpfen standen wenig Waren in den Regalen gegenüber. Die Aufgabe der sanierenden Ökonomen bestand nun darin, die erhöhte Nachfrage „abzuschöpfen“, sprich: zu verringern. Die Hyperinflation des Vorjahres tat dazu ebenso ihr Teil wie der seit über einem Jahr in Kraft befindliche sogenannte Balcerowicz-Plan des polnischen Finanzministers. Zusammen mit IWF-Hauptkommissär Jeffrey Sachs hat Leszek Balcerowicz de facto einen Lohnstopp verfügt und betreibt gleichzeitig den schrittweisen Abbau der Subventionen. Dreimal sind heuer schon die Preise für Bustickets um je 100% erhöht worden, Lebensmittelpreise werden laufend an die Inflation „angepaßt“, die Energiepreise sind um insgesamt 400% gestiegen; demnächst kommen die kommunalen Mieten dran. Der Erfolg: 35% Reallohneinbußen im ersten Halbjahr 1990. Das Risiko: unkontrollierbare soziale Unruhen.

Die dritte, schier unlösbare wirtschaftspolitische Aufgabe im heutigen Polen ist die Überwindung des Kapitalmangels. Zwar scheint die Budgetsanierung zügig voranzuschreiten, der investitionswillige ausländische „Partner“ will dennoch nicht vorstellig werden.

Kein Geld im Land und ohne Geld ... keine Umstrukturierung. Längst hat sich die polnische Katze in ihren eigenen Schwanz verbissen. Der Ausweg: Jeder versucht, seine Schäfchen ins Trockene, also in den Westen, zu retten. Zurück bleiben eine unbrauchbare Industrie und Landwirtschaft und all die Millionen von Pol/inn/en, die derzeit noch darin tätig sind. Bis zur nächsten Etappe des Balcerowicz-Planes, der eine radikale Privatisierung vorsieht. Doch niemand auf der Welt kauft zur Zeit Bergwerksgruben oder Stahlwerke ...

Was unter Leitung von Finanzminister Leszek Balcerowicz ökonomisch möglich und sozial unmöglich geworden und was im Grunde genommen eine Konzeption des Internationalen Währungsfonds (IWF) ist — läuft eigentlich bereits seit 10 Jahren. Die Missionen des IWF und der Weltbank haben auch während des Kriegsrechtes Polen nicht verlassen. Die Männer von Übersee und aus Westeuropa — darauf eingestellt, die Zinsen aus den kreditierten Milliarden zu sichern — erhofften sogar, daß unter dem strengen Regime einer Militärdiktatur Jaruzelski, als alle Gewerkschaften verboten waren, die Reformziele schneller und effektiver zu erreichen seien. Diese Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Sogar mit Gewalt der politischen Polizei und mittels Militäreinsatz konnte man die sozialen Unruhen — an die sich stets Forderungen nach Freiheit und Demokratie knüpften — nicht niederhalten. Sowohl Messner (1984-88) als auch Rakowski (1988-89) wollten die Marktwirtschaft, doch als Männer der ‚Kommune‘ wagten sie es nicht, die polnischen Arbeitnehmer/innen mit gewaltigen Opfern im ohnedies niedrigen Lebensstandard zu provozieren. Da mahnten die Toten des Jahres 1970, da war die tatsächliche Revolution des Sommers 1980 noch zu frisch in Erinnerung. Was also für die ‚Kommune‘ schier unmöglich war — von den Menschen zu verlangen, den Riemen noch enger zu schnallen —, dürfte der damaligen Opposition heute gegönnt sein, vor allem deshalb, weil sie einen immensen Vertrauensvorschuß in der Bevölkerung genießt.

Dies war das Arrangement des „runden Tisches“ im Frühjahr 1989. Die Regierung Rakowski und die offen auftretende illegale Opposition hatten unter der Schirmherrschaft der römisch-katholischen Kirche vereinbart, programmmässig den Lebensstandard zu senken. Zentral hierbei war die Frage der Lohn-Indexierung. Nicht, wie der IWF verlangte, auf 0,6%, aber immerhin auf das Niveau von 0,8 im Verhältnis zu den Preisen, akzeptierte die unabhängige Gewerkschaft Solidarnosc am „runden Tisch“ eine Senkung der Reallöhne um 20 Prozent; ein weltweit einmaliger Vorgang, daß sich die Gewerkschaft selbst zur monetaristischen Sanierung bekennt.

Videomarkt in Warschau
Casino in Breslau: ein österreichisches Joint-Venture

Die sozialen Folgen

Hohe Preise, niedrige Löhne. Überall im europäischen Osten dasselbe Klagelied. Polen ist Spitzenreiter.

Für eine 50-m2 Genossenschaftswohnung muß eine Warschauer Familie nach erfolgter Anzahlung monatlich 700.000 Zloty, das sind umgerechnet 800 öS bzw. 110 DM, auf den Tisch legen — bei einem durchschnittlichen Monatseinkommen von 700.000 Zloty. Da bleibt nicht viel zum Leben. Der von Balcerowicz verfügte Lohnstopp im Staatssektor — mittels einer progressiven Lohnsteuer durchgeführt — bewirkt, daß immer mehr Wohnungen leer stehen, weil sich die wenigsten Polen freie Mieten leisten können.

Auf höchstens 15% schätzt Jozef Popkiewicz, Professor für Ökonomie an der Universität Wroclaw, Ex-PVAP-Mitglied und Ex-Mitglied von Solidarnosc, jenen Teil der Gesellschaft, der sich mittelfristig in der Privatwirtschaft etablieren kann und für den die freie Preisbildung am Markt zu verkraften ist. Alle übrigen sind der seit 1. Jänner 1990 liberalisierten Preispolitik — Heizung, Energie, einzelne Medikamente und kommunale Mieten sind als letzte noch amtlich preisgeregelt — ausgeliefert.

Noch mehr als um die polnische Volkswirtschaft sorgt sich Wirtschaftswissenschaftler Popkiewicz allerdings um seine Familie: „Für meine beiden Kinder sehe ich keine Zukunft. Meine Tochter ist Psychologin und mein Sohn Architekt, aber nicht einmal die Bauwirtschaft hat Aufträge, wegen der Rezession. Die kämpfen beide echt ums Überleben.“

Daß IWF (Internationaler Währungsfonds)-Programm und Balcerowicz-Plan die polnische Wirtschaft kaputt saniert und in eine katastrophale Rezession geführt haben, fürchtet auch Senator Modzelewski: „Die Baumeister der neuen Wirtschaftsordnung haben sich geirrt. Die Unternehmen haben größte Schwierigkeiten, ihre Produkte an die Leute zu bringen. Niemand kann sich etwas leisten. Wie jetzt in dieser Rezession die Nachfrage stimuliert werden kann, ist völlig unklar.“ Die monetaristische Sanierung scheint selbst in ihrer eigenen Logik versagt zu haben. Die überzogene Deflationspolitik hat jedes produktive Wirtschaften, jeden Investitionsanreiz abgewürgt.

Immerwährende Übergangsphase

Noch ist die Talfahrt Polens nicht beendet. Bei aktuell 1,5 Millionen Arbeitslosen steht die eigentliche Privatiserungswelle der 7.000 größten Staatsbetriebe noch bevor. In manchen Städten wie Suwalki oder Ciechanow ist die Arbeitslosigkeit schon heute erdrückend.

Jacek Kurons Sozialministerium steht vor unbewältigbaren Problemen. Der Minister selbst befindet sich mehr im Spital als hinter dem Schreibtisch und seine Pressesprecherin Elzbieta Ficowska ist heillos überfordert: „Die Arbeitslosigkeit ist eine Übergangserscheinung“, meint sie und lugt scheu hinter ihren sieben Telephonapparaten hervor. Um gleich darauf hinzuzufügen: „Arbeitslosigkeit gibt es in jedem kapitalistischen Land.“ Immerwährende Übergangsphase also, mit der sich die eben erst geschaffenen Arbeitsbüros überall im Lande konfrontieren müssen. Mindestens 360.000 Zloty (400 öS bzw. 55 DM) gibt es vorderhand für die ersten sechs Monate der Arbeitslosigkeit.

  • Wie lange man Unterstützung bekommt?
  • Insgesamt 18 Monate, nach sechs Monaten nur mehr 50%. „Was danach passiert, wissen wir noch nicht. Wir haben erst vor 11 Monaten mit dem Programm begonnen.“

Fester wird die Stimme der Pressesprecherin erst, als sie vom 20 Mio. Zloty-Kredit (22.000 öS bzw. 3000 DM) zu sprechen beginnt, den Arbeitslose beanspruchen können, wenn sie sich selbständig machen. „Die Arbeitsämter sehen sich das Unternehmenskonzept genau an, bevor sie dem Kredit zustimmen.“ Wieviel solcher Kredite bereits bewilligt worden sind, weiß Frau Ficowska nicht.

Als wir zuguterletzt auf die Probleme der Rentner zu sprechen kommen, wird die Auskunftsbereitschaft sichtbar unwilliger. Wieviele Leute mit der Mindestrente von 440.000 Zloty (500 öS bzw. 70 DM) auskommen müssen, kann oder will uns hier im Sozialministerium niemand sagen.

Riots und Streiks

Von den Unruhen in der Stadt Plock, die tags zuvor im Zuge von Zwangsdelogierungen zu einem Polizeieinsatz gegen Mieter geführt haben, hat die Pressesprecherin von Jacek Kuron noch nichts gehört. Dort, in Plock, 100 Kilometer nordwestlich von Warschau, ist es am 7.11.1990 zu den wahrscheinlich ersten IWF-Unruhen im Lande gekommen.

Die Gemeinden stehen in Folge der neuen Autonomiepolitik ohne Geld da. Der Zloty-Fluß vom Planungsministerium in die Woiwodschaften und Gemeinden ist zum Erliegen gekommen, nun requirieren die einzelnen Körperschaften ihr Eigentum, erhöhen die Mieten für Geschäftslokale und Wohnungen. Die Schwächsten müssen zuerst raus. Und in Plock hat das eben zu Unruhen geführt. Ähnliche Auseinandersetzungen sollen auch schon in der niederschlesischen Bergbauregion stattgefunden haben.

Warnstreiks der Busfahrer, Polizisten und Werftarbeiter haben in der zweiten Novemberwoche ein Bild davon gegeben, was Polen im Winter 1990/91 bevorsteht.

Hoffnung auf ein Wunder

„Der Westen kann sich einen polnischen Unruheherd nicht leisten“, formuliert der Sejm-Abgeordnete Was die einzige Hoffnung, die noch einigermaßen logisch klingt, die Hoffnung auf den Westen.

Daß diese Rechnung so nicht aufgehen muß, zeigen allerdings die ungezählten Unruheherde auf dieser Welt, auch unmittelbar Seite an Seite mit prosperierenden wirtschaftlichen Zentren gelegen.

Zum Beispiel Mexiko. Von diesem Land ist auffällig viel die Rede in Polen. Mexiko, das wissen die Leute hier, ist ein sozial instabiles, peripherisiertes Land, das direkt an die USA grenzt. Solche Argumente bekommen wir häufig zu hören. Immer mehr polnische Intellektuelle warnen vor der Lateinamerikanisierung des Landes. „Der wilde Kapitalismus wird sich zivilisieren, sagen die Zweckoptimisten, aber wir sehen, daß das in der ‚3. Welt‘ seit Jahrzehnten nicht gelingt.“ Der Historiker und Senator Karol Modzelewski war noch guten Glaubens, als er sich vor einem Jahr über die Solidarnosc-Liste ins Parlament wählen ließ. Jetzt sieht er schwarz: „Der Weltmarkt läßt den Armen keine Chance. Wer einmal wie wir unten ist, der bleibt unten.“