ZOOM 2/1998
Mai
1998
Helmut Türk:

Österreich im Spannungsfeld von Neutralität und kollektiver Sicherheit

Die Neutralitätspflichten waren über Jahrzehnte in der Völkerrechtswissenschaft unbestritten: Der Neutrale hat sich jeglicher militärischer Un­terstützung der Kriegspartei­en zu enthalten, Handelsbe­schränkungen auf alle Kriegs­parteien gleichmäßig anzu­wenden, weiters militärische Handlungen der Kriegspar­teien (z.B. Durchmarsch von Truppen, Überflüge durch Mi­litärflugzeuge) auf seinem Staatsgebiet zu verhindern. Der dauernd neutrale Staat hat darüber hinaus bereits in Friedenszeiten alles zu unter­lassen, was ihn in zukünftigen Kriegen daran hindern könn­te, seine Neutralitätspflichten einzuhalten. Insbesondere darf er keinen militärischen Bünd­nissen beitreten. Auch die dar­aus resultierenden Schlußfolgerungen waren klar: Ein Bei­tritt zur EU wurde (u.a. we­gen der möglichen Verpflich­tung zur Teilnahme an Wirt­schaftssanktionen gegen Krieg­führende, später auch wegen der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik) für un­zulässig gehalten. Selbst die Mitgliedschaft bei den Ver­einten Nationen galt als neutralitätsrechtlich bedenklich: Türk gibt ausführlich die seinerzeitige Doktrin wieder, wonach die ständigen Sicher­heitsratsmitglieder im Hin­blick auf die von ihnen aner­kannte österreichische Neu­tralität die Verpflichtung über­nommen hätten, Österreich nicht zu neutralitätswidrigen Handlungen heranzuziehen. (38 ff) Bei sämtlichen Sanktionsbeschlüssen der Vereinten Nationen (bis hin zur Kuwait­-Krise 1990) berief sich Öster­reich auf diesen Standpunkt. Er wurde erst 1992 (anläßlich der Sanktionsbeschlüsse ge­gen Libyen) stillschweigend fallengelassen.

Ebenso klar war, daß es Völkerrechts- und verfas­sungskonforme Wege gab und gibt, den Status der dauern­den Neutralität abzuändern bzw. zu beenden. Die Gegner der österreichischen Neutra­lität bevorzugen freilich einen anderen Weg: Die Neutralität wurde Schritt für Schritt aus­gehöhlt. Dabei wurde jeweils im vorhinein betont, daß gar keine neutralitätsrechtlich re­levante Fragestellung vorläge. Österreich werde als „neutra­ler Staat“ der EU beitreten. Die Durchfuhr von Kriegs­material im Golfkonflikt sei neutralitätsrechtlich irrelevant, weif es sich um gar keinen „Krieg“ handle etc. Im nach­hinein wurde die Entwicklung regelmäßig anders gesehen: Es habe sich „eine eingeschränk­tere Betrachtung der Neutra­lität durchgesetzt“. Die Neu­tralität wurde durch die ge­nannten Maßnahmen „im we­sentlichen auf ihren rechtli­chen Kem reduziert“. (18) Zyniker/innen gehen schon seit längerem davon aus, daß sich auch noch ein österreichischer Völkerrechtler finden werde, der die Vereinbarkeit der Neutralität mit einer Mitgliedschaft bei der NATO postulieren werde. Genau diesen Nach­weis versucht Türk im vorlie­genden Werk zu erbringen. Zwar räumt Türk ein, es sei „zweifellos richtig, daß das traditionelle Neutralitätsver­ständnis keinen Beitritt eines dauernd neutralen Staates zur NATO und schon gar nicht zur WEU erlauben würde. Ein solches hätte aber an sich auch keinen Beitritt zu den Vereinten Nationen und si­cherlich noch viel weniger zur Europäischen Union zugelas­sen“. (73) Wenn der Trick schon mehrmals geklappt hat, warum sollte man es nicht noch einmal probieren?

Türk stützt seine Auffas­sung zum einen darauf, daß sich die NATO immer mehr zu einer regionalen Organisa­tion kollektiver Sicherheit (wie etwa die Organisation Ameri­kanischer Staaten oder die OSZE) entwickle. Durch Er­klärungen oder Dokumente der NATO läßt sich diese Ent­wicklung freilich nicht bele­gen. Auch Türk räumt ein, daß „die Bestimmung des Art 5 des NATO-Vertrages (also die Beistandsverpflichtung - Anm. F.E.) über die gemein­same Verteidigung nach wie vor ein zentraler und unver­zichtbarer Bestandteil der Or­ganisation“ bleibt. (65)

Österreich - so argumen­tiert Türk weiter - würde durch den NATO-Vertrag (anders als innerhalb der WEU) keine automatische Verpflichtung zur Anwendung von Waffengewalt auferlegt werden, sodaß kein echter Wi­derspruch zum rechtlichen Kern der österreichischen Neutralität zu bestehen „scheint“. (65) Überdies sei zweifelhaft, ob „der eher un­wahrscheinliche Fall einer An­wendung von Art 5 überhaupt jemals eintreten sollte“. (66) Türk zieht an dieser Stelle al­lerdings nicht die naheliegende

Schlußfolgerung, daß die NA­TO diesen — offensichtlich ob­solet gewordenen — Artikel streichen sollte. Türk kommt vielmehr zusammenfassend zu folgenden Schlüssen: „Öster­reich müßte im Fall eines Bei­tritts zur NATO unter Auf­rechterhaltung der dauernden Neutralität keine Verpflich­tungen übernehmen, die de­ren rechtlichen Kern vorher­sehbar berühren würden und könnte sich an praktisch allen zu erwartenden NATO-Akti- vitäten beteiligen (...) den äußerst unwahrscheinlichen Fällen eines möglichen Kon­flikts zwischen Beistands­pflicht und Neutralität würde der Ermessenspielraum der Mitgliedschaft hinsichtlich der bei einem bewaffneten Angriff konkret zu ergreifenden Ge­genmaßnahmen aller Voraus­sicht nach deren Bewahrung erlauben. Sollte es dennoch zu einer Pflichtkollision kommen, so müßte wohl von einem Vorgang der Verpflichtungen aus dem NATO-Vertrag aus­gegangen werden.“ (14) Wen­det man den Gedanken Türks auf andere Lebensbereiche an, so kommt man zu überra­schenden Ergebnissen: Gele- gendiches Schweinsbratenes­sen läßt etwa den Status als Vegetarier unberührt. Ledig­lich im Kollisionsfall müßte klargestellt werden, daß der Schweinsbraten eben besser schmeckt und daher gegessen wird.

Während man Türk im­merhin zugestehen muß, daß er sich um eine rechtliche Argumentation bemüht, ver­zichtet Köck in seinem Vor­wort auf rechtliches Beiwerk und bedient sich einer Spra­che, die man sonst nur von Ju­risten kennt, die totalitären Ideologien anhängen: „Dau­ernde Neutralität als realer Status eines Staates“ erscheint Köck als „geradezu hand­greifliches Symptom einer bis ans Mark kranken internatio­nalen Gemeinschaft“. (6) Es könne keine Zweifel geben, „daß ein Staat in der Lage Österreichs gehalten ist, sei­nen Sonderstatus der dauern­den Neutralität (...) so rasch wie möglich abzulegen und durch einen Beitritt zur NA­TO seinen Beitrag zur regio­nalen kollektiven Sicherheit zu leisten. Jede andere Vorgangs­weise würde einen Verstoß ge­gen die internationale Solida­rität darstellen. Und zu dieser Solidarität ist jeder Staat recht­lich (?) verpflichtet; sie zu üben oder zu unterlassen, ist keineswegs eine bloße Frage politischen Ermessens“. (7)

An den Schluß seines Vor­wortes stellt Köck ein Zitat mit ungewöhnlicher Quellenangabe: „Die Stimme der Ver­nunft mag zwar — wie auf ei­ner Stelle im Wiener Sigmund Freud-Park zu lesen ist — lei­se sein; wir wollen aber die Hoffnung nicht aufgeben, daß sie sich schließlich doch Gehör verschafft.“ Üblicher­weise wird dieses Zitat ver­wendet, wenn die „Stimme der Vernunft“ mit einem po­litischen Mainstream konfli- giert; diese Konstellation dürf­te allerdings beim vorliegen­den Werk nicht gegeben sein.

Helmut Türk: Österreich im Spannungsfeld von Neutralität und kollektiver Sicherheit. Mit einem Vorwort von Heribert Franz. Köck M.C.L. Verlag Österreich, Juristische Schriftenreihe Band 109, Wien 1997, 132 S. öS 298,—

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