Plebiszitäre Herrschaft
Die Schweizer Volkspartei strengt die Ausdehnung der direkten Demokratie an und fördert damit das ideale Instrument für ihre Zielsetzungen.
Die Angriffe der Schweizer Volkspartei (SVP) auf rechtstaatliche Institutionen haben im Oktober eine (erste) Eskalation erfahren. Der „Privatbundesrat der Bourgeoisie“, der Freisinnige Pascal Couchepin, warf seinem Kollegen Christoph Blocher, dem „Führer“ der SVP, vor, eine Gefahr für die Demokratie zu sein. Die „Staatskrise“, wie das Boulevardblatt Blick titelte, beschäftigte die Schweizer Medien den ganzen Oktober. Der Auslöser für das Spektakel war voraussehbar: Blocher weigerte sich das „Ja“ für die „Erleichterte Einbürgerung“ in bundesrätlicher Abordnung gebührlich zu vertreten. [1] Damit widerlegte der Demagoge einmal mehr die Einschätzung der parlamentarischen Linken und eines Großteils der Schweizer Medien, er lasse sich in den Mühlen des bundesrätlichen „Kollegialitätsprinzips“ entschärfen. Blocher verstand es von Anfang an, sich in der Konkordanz einzurichten und von seiner Position aus eine von der SVP forcierte Entwicklung zu sekundieren: die Unterwerfung humanistischer Standards unter den entfesselten „Volkswillen“.
Es ist Programm der SVP, nicht-plebiszitäre Instanzen und Regelungen im Namen eines imaginierten ganzen Volkes anzugreifen. So geraten juristische Institutionen immer wieder ins Schussfeld, wenn sie rechtstaatliche Normen durchsetzen. Im August drohte die Partei „mit einschneidenden Konsequenzen bei der nächsten Wahl des Bundesgerichts“. [2] Vorausgegangen war der offenen Drohung ein Präzedenzfall, in welchem die Veranstalter eines Vortrages zur „Entstehung der SS und der Waffen-SS“ nach der Antirassismusstrafnorm verurteilt worden waren. Dabei hatte das Bundesgericht erstmals den im Gesetz benutzten Begriff der „Öffentlichkeit“ genauer definiert. Verschiedene SVP-ExponentInnen empörten sich darüber, dass sie Ausdrücke wie „runterjuden“ (von Preisen) oder rassistische Stammtischsprüche künftig möglicherweise nicht mehr ungestraft in die Welt posaunen dürften. „Wir brauchen keine Richter, welche den Staat und die Gesetze schützen, sondern Richter, welche für den Bürger und seine Rechte einstehen“, erklärt die Partei auf ihrer Homepage offenherzig. Politikern, die nicht mit der Partei konform gehen, ergeht es nicht besser, sie sind grundsätzlich „blutleer“, „starrköpfig“, „arrogant“ und von „innerem Zerfall“ [3] betroffen. Einer der SVP-Chefideologen, Christoph Mörgeli, wettert, dass die Politiker ihr eigenes Volk verrieten. Nur die Gestaltungsmöglichkeiten durch das Volk könnten die korrupten Machenschaften der „classe politique“ in den Griff kriegen. So fordert die Partei, dass der Bundesrat direkt durchs Volk statt durch das Parlament gewählt werden soll.
Das Volks-Atom
Durchgehend stellt die Partei dem Staat ein natürliches Volk gegenüber, als dessen legitimen Vertreter sie sich begreift. Jene exklusive Gemeinschaft soll weitgehend an Stelle des bürokratischen Apparats treten. Der genuine politische Ausdruck des Volkes wäre nach der SVP ein allem überflüssigen Ballast entledigter Gesamtorganisator, dessen ausgebaute repressive Funktionen allfällige Störungen im Ablauf des gesellschaftlichen Verkehrs befrieden soll. War der (Sozial-)Staat noch Voraussetzung für die sozialpartnerschaftliche Befriedung der Klassengesellschaft, soll sich nun die ihrer materiellen Basis — dem Sozialstaat — entwöhnte Volksgemeinschaft als eine der „selbstverantwortlichen Menschen“ durchsetzen. Die angestrebte Reduktion des Staates auf seine repressive Funktion stellt sich bei näherer Betrachtung als dessen ideologische Ausdehnung in die einzelnen Subjekte heraus. Wenn das Stimmvolk an der Urne seine Urteile über die unproduktiven AsylbewerberInnen abgibt, wenn Volksinitiativen [4] Behinderte in den Produktionsprozess zwingen wollen, wenn „Sozialschmarotzer“ von den BürgerInnen als Wirtschaftsbremsen denunziert werden, so ist dies die Fortsetzung der (krisenmildernden) Aufgaben des Staates durch den Einzelnen. Die Anforderungen des Verwertungsimperativs sollen — vom „gesellschaftlichen Atom“ (Marcuse) verinnerlicht — erfüllt werden.
Die Zustimmung zur Funktionalität des Einzelnen für das Ganze, die Identifikation mit der abstrakten Allgemeinheit, setzt die Existenz völlig konformistischer Menschen voraus, denen der Begriff des Individuums nicht mehr gerecht wird. Der Sozialisierungsmodus, der sich über Nachbarschaftshorde, Fernsehen und Schule in Kraft setzt und die Familie in ihre Schranken verweist, scheint kollektiv. Was zugespitzt die schlechte Aufhebung der Familie genannt werden könnte, droht Abweichungen und die konflikthaft entwickelte Persönlichkeit, die das innerhalb der Familie sozialisierte Subjekt noch aufweisen konnte, zusehends zu zerstören. [5] Der direkte Zugriff der Gesellschaft auf das einzelne Individuum ist dessen Todesurteil. Max Horkheimer dazu: „Es [das Individuum; Anm. T.S.] entspricht fortgesetzt dem, was es um sich herum wahrnimmt, nicht nur bewusst, sondern mit seinem ganzen Sein, indem es mit den Zügen und Verhaltensweisen wetteifert, die durch all die Kollektive repräsentiert werden, in die es verstrickt ist — seine Spielgruppe, seine Klassenkameraden, seine Sportsriege und all die anderen Gruppen, die (...) eine strikte Konformität erzwingen, eine radikalere Unterwerfung durch völlige Assimilation, als irgendein Vater oder Lehrer im neunzehnten Jahrhundert fordern konnte.“ [6] Gehen die ApologetInnen basisdemokratischer Nachbarschaftskollektive von autonomen Individuen aus, so weiß die SVP, auf welchen realen Volks-Atomen sich ihre Perspektive der direkten Demokratie begründet.
Gesunder Menschenverstand
Jene Atome, permanent mobilisiert gegen alle Arten von „Volksschädlingen“, AbweichlerInnen und die Usurpatoren der Staatsmacht, bilden das von der SVP vertretene Volk. Das „klassenübergreifende Volksinteresse“, das die Partei zu vertreten vorgibt, impliziert immer die Exklusivität, die sich — insbesondere in der Krise — gegen „die Anderen“ richten muss. Das ständig mitschwingende und oftmals auch explizit ausgesprochene Versprechen, mit denen „da oben“ und „da unten“ mal richtig aufzuräumen, steckt die Grenzen des eigenen Kollektivs ab und definiert jene Anderen.
Die SVP vermag in ihren Kampagnen noch dem Letzten ein Objekt zu bieten, an welchem er den Betrug an sich selbst rächen kann, welcher mit der Einpassung ins Kollektiv einhergeht. Was die Verliererin bei „Superstars“ durchlebt, die abrupt feststellt, dass das kapitalistische Glücksversprechen von Erfolg, Reichtum und erfülltem Leben immer nur für die Anderen zur Wahrheit wird, erleidet der Eingeordnete tausendfach. Die eigenen Wünsche werden der Funktionalität untergeordnet. Die Parteipropaganda appelliert an dabei unterdrückte Impulse, welchen die ausgeliefert werden sollen, die den Wahnsinn nicht mehr mitmachen können oder dürfen. Der „gesunde Menschenverstand“, der so gerne angeführt wird, ist die Negation des (autonomen) Denkens zugunsten des Reflexes jener Eingepassten. Letztlich ist die mit Inbrunst vorgetragene Rede gegen die Schmarotzer nichts anderes als der Aufruf zum Pogrom, welches in den bestehenden politischen Strukturen noch auf die Urnenabstimmung herunter gebrochen wird. Die Propaganda der SVP funktioniert nicht obwohl sie der Zivilisation ins Gesicht schlägt, sondern genau weil sie es tut.
Das demokratische Prinzip
Heute erledigen die „gesellschaftlichen Atome“ schon Großteils an der Urne, was der Partei vorschwebt. So erklärt diese dann auch: „das System der direkten Demokratie darf dem Bürger (...) keine Schranken zur Revision des Verfassungsrechts setzen.“ [7] Tatsächlich sieht das Instrument der Volksinitiative vor, dass per Abstimmung die Verfassung der Schweiz geändert werden kann. Was in der repräsentativen Demokratie die Wirkung haben kann, menschenrechtliche Standards wenigstens bis zu ihrer endgültigen Dysfunktionalität für die kapitalistische Akkumulation aufrechtzuerhalten, existiert in der Schweiz als beliebig transformierbar. Oder wie es die SVP ausdrückt: „Jede Abstimmung und jede Wahl an der Urne ist quasi das letzte Wort des Volkes und muss unwidersprochen respektiert werden.“ [8] Diesen Begriff der Demokratie teilen bisher nur die wenigsten Parteien und Politiker außerhalb der SVP. Die gebetsmühlenartige Betonung der verschiedenen Säulen des schweizerischen Rechtsstaates vermögen aber nicht darüber hinwegzutäuschen, dass das Prinzip der Mehrheit in der kapitalisierten Gesellschaft keine anderen Götter neben sich duldet. So vermögen die dutzendweise auf den Plan gerufenen StaatsrechtlerInnen und EthikprofessorInnen den Begriff der (direkten) Demokratie nicht immanent zu kritisieren, da sie auf einer Grundlage argumentieren, die humanitäre Werte a priori setzt.
Die Einwände des Strafrechtsprofessoren Stefan Trechsler, die von Blocher geforderte Einführung einer unbeschränkten „Beugehaft“ für „ausreiseunwillige“ MigrantInnen verstoße gegen die Menschenrechte, mag heute plausibel erscheinen. Sie sind aber letzten Endes nichts weiter als das Beharren auf der vertraglichen Fixierung des kapitalistischen Gesellschaftsverkehrs in seiner liberalen Phase. Das Recht auf Leben, auf Eigentum (auch und gerade über den eigenen Körper), auf (die doppelte) Freiheit existieren faktisch nur als Vertrag, welchen der Staat schützt und damit in seine Gewalt nimmt. Es ist aber genau die Intention der SVP jene Standards als transformierbare zu begreifen, wie es die politische Struktur der Schweiz auch tatsächlich vorsieht. Der Generalsekretär der SVP erläutert dann auch richtigerweise: „das schweizerische Verfassungsrecht [kennt] kein Bekenntnis zu einer präpositiven Geltung der Grundrechte, wie es etwa im Deutschen Grundgesetz zum Ausdruck kommt: Die Freiheitsrechte bilden in der schweizerischen Bundesverfassung den positivrechtlichen Niederschlag einer freiheitlichen Staatsauffassung.“ [9]
Nun ist es den dem Wissenschaftsbetrieb subsumierten unmöglich, jenem Staatsverständnis zu widersprechen, dem die Mehrheit des Stimmvolkes zustimmt, ohne ihr Metier ins als metaphysisch Verdammte zu überführen. Definiert sich doch moderne Wissenschaft auch und gerade darüber, dass sie gegen moralische Ansprüche immun ist. Einspruch im Namen der Vernunft bleibt ihr äußerlich weil unter ihr die Vernunft zur bloß formalen gerinnt. Ihr „Gebrauch, der über die behelfsmäßige, technische Zusammenfassung faktischer Daten hinausgeht, ist als eine letzte Spur des Aberglaubens getilgt.“ [10] Vernunft ist bloßes „Organ der Kalkulation des Plans, gegen Ziele ist sie neutral“ [11] und damit indifferent gegenüber jedwelchen humanistischen Standards. Das Mehrheitsprinzip schafft Tatsachen, welchen sich die einzige streng wissenschaftliche Form der Rechtswissenschaft — ihre positivistische Variante — unterzuordnen hat. „Das Mehrheitsprinzip ist in der Form allgemeiner Urteile über alles und jedes, wie sie durch alle Arten von Abstimmungen und modernen Techniken der Kommunikation wirksam werden, zur souveränen Macht geworden, der das Denken sich beugen muss. Es ist ein neuer Gott, nicht in dem Sinne, in dem die Herolde der großen Revolution es begriffen, nämlich als Widerstandskraft gegen die bestehende Ungerechtigkeit, sondern als eine Kraft, allem zu widerstehen, das nicht konform geht.“ [12] Was Horkheimer hier konstatiert gilt letztlich für alle Einwände, die sich der gesellschaftlichen Entwicklung entgegenstellen, insbesondere aber für jene, die von den auf Wissenschaftlichkeit Beharrenden erhoben werden.
Materialistische Kritik
Die skizzierte Entwicklung ist nicht eine, die nun plötzlich an humanistischen Werten rüttelt — auch wenn Ethiker dies beispielsweise im Gentechbereich glauben machen könnten. Die Degradierung des Menschen zur Ware war der kapitalistischen Gesellschaft von Anbeginn eingeschrieben und zerstört nicht erst mit ihrer Zuspitzung zur Entsorgung von nicht verwertbarem Leben einen idyllischen Zustand. Die Menschenrechte selber sind Ausdruck dieser Gesellschaftsformation und gehören kritisiert, doch wenn selbst diese Standards angegriffen werden, zeigt sich das barbarische Potential, das in der kapitalistischen Zivilisation gegen sie selbst angelegt ist. Die Grenze des „ethisch Vertretbaren“ verschiebt sich mit der Verschiebung der konkreten gesellschaftlichen Praxis und der Machtverhältnisse. Diese Entwicklung können (und wollen) Ethikinstitute nicht fundamental kritisieren, weil sie keinen Begriff von der gesellschaftlichen Totalität haben und so das Bestehende vom Bestehenden aus verteidigen.
Eine Kritik, die autoritäre Herrschaft in ihrer demokratischen Form wirklich erfassen will, kann nur eine sein, die einen Begriff der rückschrittlichen Tendenzen in dieser Gesellschaft entwickelt. Sie muss das Ganze zum Gegenstand haben: Das „gesellschaftliche Atom“, welches als Stimmbürger weder die öffentlich auftretenden Experten noch linke Politiker auch nur mit einem Wort kritisch erwähnen, insbesondere aber die gesellschaftlichen Bedingungen, die den Menschen erst so zurichten.
[1] Die Schweizer Exekutive — der Bundesrat — funktioniert nach dem Konkordanzprinzip. Das heißt, die Entscheidungen müssen als Einheitsbeschluss nach außen vertreten werden. Blocher sei dieser Verpflichtung bei der Abstimmung zur „erleichterten Einbürgerung junger Ausländerinnen und Ausländer der zweiten Generation“ nur ungenügend nachgekommen, lautete der Vorwurf, der die Diskussion auslöste.
[2] Zitiert nach: NZZ am Sonntag, 10.10.2004.
[3] Alle Zitate in diesem Artikel — falls nicht anders angegeben — aus der „Schweizerzeit-Schriftenreihe“ herausgegeben von SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer.
[4] Mit einer Volksinitiative können Stimmberechtigte eine Abstimmung über eine Teilrevision der Bundesverfassung anstrengen. Damit die Abstimmung zu Stande kommt, müssen innerhalb von 18 Monaten 100.000 Unterschriften von StimmbürgerInnen gesammelt werden.
[5] Herbert Marcuse entwickelte unter anderem in „Triebstruktur und Gesellschaft“ eine auf der Psychoanalyse fußende Theorie zur Konstitution des konformistischen, entindividuierten Subjekts: des „gesellschaftlichen Atoms“.
[6] Max Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt am Main 1997, S. 134.
[7] Gregor A. Rutz, Generalsekretär SVP. Editorial des SVP Pressedienstes Nr. 28.
[8] Communique der SVP Luzern. „Stellungnahme der SVP des Kantons Luzern zum Bundesgerichtsentscheid über Einbürgerungen an der Urne“.
[9] Gregor A. Rutz: Editorial des SVP Pressedienstes Nr. 28.
[10] Max Horkheimer. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. S. 30.
[11] Max Horkheimer. Theodor W. Adorno. Dialektik der Aufklärung. Frankfurt am Main 1998, S. 95.
[12] Max Horkheimer. Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. S. 38.
