Streifzüge, Heft 35
Oktober
2005
Rückkopplungen

Pop und das Authentische

Madonna steht auf der Bühne in London und spielt für oder gegen die G8 und Hunger: das größte Konzert der Welt, für oder gegen das im Pop-Universum letzte Problem: Hunger. Wir sind im Hyde Park beim Live-8-Spektakel, 2. Juli 2005. Zu Madonnas Auftritt wird eine junge Frau aus Äthiopien vorgeführt, die als Kind fast verhungert wäre; sie darf etwas in ihrer Sprache sagen. Weil sie kein Englisch versteht, bleibt sie irritiert und peinlich auf der Bühne stehen, während Madonna die Menge – und man sagt jetzt ja Multitude – animiert: „Are you ready for a revolution!“ Das wiederholt sie so lange, bis jeder eingewilligt hat. Dann kommt kurz die Musikshow und schon spielt die nächste Gruppe. Ist das authentisch, was Madonna da macht, oder ist gerade das nicht authentisch?

,Authentisch‘ ist eines der wenigen Fremdwörter, die Eingang in den Popdiskurs gefunden haben. Die Rede ist vom Eigenschaftswort und nicht vom Substantiv ,Authentizität‘, nicht vom Begriff. Scheitern viele am Begriff der Authentizität schon in der Aussprache („Authenzität“, „Authentität“ lauten die üblichen Varianten popistischer Neusprache), so kommt , authentisch‘ hingegen relativ leicht über die Lippen derjenigen, die ihren Geschmack, und das ist meistens der eigene Musikgeschmack in Verbindung mit einem vermeintlich dazu passenden Lebensstil, verteidigen möchten. ,Authentisch‘ soll dabei meinen: ,echt‘, ,glaubwürdig‘, ,ehrlich‘, wenn nicht sogar ,bodenständig‘, ,handgemacht‘, ,gefühlig‘; paradoxerweise soll der Gebrauch des Fremdworts sich jedoch genau von diesen Adjektiven einer Innerlichkeitsästhetik abheben und schon per definitionem Reflexion und Kennerschaft verraten. Musik ist nicht einfach ,echt‘ und ,ehrlich‘, sondern eben ,authentisch‘. Seine popdiskursive Funktion erfüllt das kleine bedeutungsleere Sinnwörtchen ,authentisch‘ negativ, ohne dass damit freilich die dem Poptheoretiker verdächtige Negation, gar die bestimmte Negation der Dialektik gemeint wäre; vielmehr wird mit dem negativen oder negatorischen Gebrauch von ,authentisch‘ das eigene kleine positive Popuniversum affirmiert: es geht nämlich – und das ist vielleicht das zweitwichtigste Fremdwort im Popdiskurs – um Distinktion, darum, sich abzugrenzen und zu denunzieren, was dem eigenen Geschmack nach eben nicht authentisch ist oder, schlimmer noch, nur vorgeblich authentisch ist. Das Unechte, die aufgesetzten Gefühle und die vorgegaukelte Glaubwürdigkeit – das sind die wahren Feinde, um nicht zu sagen: die authentischen Feinde im Pop; das ist der Frontalangriff, durch den angeblich eben der authentische Pop verraten wird. Den Feind zu besiegen heißt ihn ausfindig zu machen; und der Sieg ist die echte Prämie des symbolischen Kapitals: was in der Popwissenschaft nicht ökonomisch, sondern sportlich der Distinktionsgewinn genannt wird.

Der echte Feind des Echten ist wie immer das Geld, in seiner üblen Gestalt der Kommerzialisierung (und die wittert man in jedem Tauschverhältnis, an dem man nicht beteiligt ist, jedenfalls nicht mit eigenem Surplus). In solcher Denunziation des Unechten erfährt man zugleich etwas über die kritische Reichweite des Popdiskurses: Die Gesellschaft als kapitalistische erscheint hier in genau derselben falschen Unmittelbarkeit, in der sich die abstrakte Verwertungslogik ohnehin manifestiert: Im sinnlich-übersinnlichen Ding der Ware, beziehungsweise im Spektakel des Warenverkehrs, kurzum: im Konsum. Grundsätzlich weder zur Abstraktion noch zur Konkretion fähig meint man der Kritik des nicht authentischen Pop eine politisch-ökonomische Dimension zu verleihen, wenn man gegen den Kommerz wettert. Dabei beruft man sich auf den Pop als eine vom Kapitalismus, das heißt von der Ökonomie des Bösen (Geld, Großkonzerne, teure CDs, Kopierschutz) vollkommen freie Sphäre, die eigentlich nach den humanen Kriterien des freien Marktes, künstlerischen Wettbewerbs, alternativer und subversiver Ökonomie und insbesondere durch unabhängige Vertriebsstrukturen geordnet sei – die Produktion kommt hierbei übrigens nicht vor, weder positiv noch negativ; man arbeitet ja auch nicht, sondern „spielt“ (in einer Band, ein Instrument) oder „macht“ (Musik, Kunst, ein Konzert, Mode, man „macht“ am Abend etwas, „macht“ etwas mit Freunden etc. ). Das kulminierte nun neuerlich in der Verteidigung des D. I. Y. -Prinzips, was für „Do it yourself“ steht und vor allem im (neueren) Hardcore stark gemacht wird: als authentische Unabhängigkeit von der großen Industrie und der Kommerzialisierung. Was hier popkulturell höchst sympathisch daherkommt, ist indes vom Standpunkt radikaler Kritik bestenfalls romantischer Antikapitalismus und das heißt: gar kein Antikapitalismus, sondern eine verzweifelte Anpassungsleistung an die Maßgaben neoliberaler Konkurrenzverhältnisse.

Mithin ist schon die Idee oder besser Ideologie eines authentischen Pop, einer authentischen Popmusik, authentischer Musiker und popkultureller Botschaften grundsätzlich unvereinbar, disparat, denn Pop wurde als kritischer Begriff eingeführt, gerade weil er nicht authentisch war, weil er sich der Authentizität verweigerte, die bürgerlich-ästhetische Kategorie des Echten und Ehrlichen verwarf. Das war Mitte der fünfziger Jahre für den Rock ’n‘ Roll so konstitutiv wie für den Soul; und beide vor einem halben Jahrhundert etablierten Leitmelodien der Popkultur spielten bereits mit den Ambivalenzen des Authentischen, wie es bisher nur der Jazz vermochte: Anders als in der alten Hochkultur konnte sich hier niemand durch Weltflucht den Konsequenzen entziehen, die sich praktisch durch die Gewissheit ergaben, dass es „kein richtiges Leben im falschen gibt“ (Adorno).

Dagegen setzt Madonna nun, um darauf zurückzukommen, dass es im prinzipiell richtigen Leben kein falsches geben darf; eine schlechte Metaphysik des guten Willens, die genau darin darauf beharrt, authentisch zu sein als Pop. Hunger taucht hier nicht mehr als Problem des Kapitalismus auf, sowenig wie der Kapitalismus als Problem an sich. Und das ist die Dialektik des Authentischen, dass nämlich dasselbe System, das den Pop mit seinem authentischen Willen zum Guten, auch überhaupt den Hunger hervorgebracht hat, ebenso wie die Großstadtgettos, Slums und das postmoderne Elend, aus dem der Pop seine Philosophie des Authentischen macht.

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