MOZ, Nummer 49
Februar
1990
Medien in der Sowjetunion:

„Pressefreiheit ist eine Utopie“

Vom Dienst an der Partei zum Dienst an der Öffentlichkeit

Im Gespräch: Alexej Bukalow, stellvertretender Chefredakteur der Moskauer Wochenzeitschrift „Neue Zeit“, Hans-Heinz Fabris, Professor für Kommunikationswissenschaften an der Universität Salzburg, Diskussionsleitung: Hannes Hofbauer.

Hofbauer: Wo liegt der Unterschied zwischen der leninistischen und der bürgerlich-liberalen Medienkonzeption?

Bukalow: Natürlich wuchsen wir alle in einem journalistischen Selbstverständnis auf, das uns zur Unterstützung der jeweiligen politischen Entscheidung, zur Unterstützung der Partei tätig sein ließ. Aber das ist eigentlich keine leninistische Kategorie, weil Lenin sein Medienkonzept ausschließlich für Parteizeitungen entwarf. Erst Stalin hat dann diese „Pflicht der Parteimedien“ zur Pflicht aller Medien im Sowjetstaat uminterpretiert. Damit hat Stalin die Presse diszipliniert.

Fabris: Das Aufbrechen dieser lange Zeit strangulierten Presse ist das Herzstück der sogenannten „Glasnost“. Aber es ist nichts Neues.

Bukalow: Das Wort „Glasnost“ stammt aus den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts und wurde in aufgeschlossenen Adelskreisen gegen die zaristische Bürokratisierung verwendet. Alexander II. hat sich dann von der Glasnost bedroht gefühlt und alle diesbezüglichen öffentlichen Regungen unterbunden.

Hofbauer: Und der Unterschied dieser — traditionsreichen — Glasnost zum liberalen Konzept der „freien Presse“?

Fabris: Das westliche Konzept ist eindeutig individualistisch, das heißt, Individuen haben das Recht, Zeitungen zu publizieren. Demgegenüber scheinen mir Glasnost und freie Meinungsäußerung im Osten sozial begründet zu sein, sie hängen mehr von den sozialen Veränderungen ab.

Bukalow: Es gibt ja noch nicht einmal ein Pressegesetz in der UdSSR, das ist unser Problem. Seit Monaten wird ein Gesetzesvorschlag besprochen und immer wieder neu adaptiert ... aber wir haben noch keine gesetzlichen Grundlagen für die neue Situation der Medien.

Hofbauer: Was sind die umstrittenen Punkte in diesem Gesetzesvorschlag?

Bukalow: Die entscheidende Diskussion dreht sich darum, ob Individuen das Recht eingeräumt werden soll, Zeitungen und Zeitschriften herauszugeben.

Hofbauer: Und wie wird diese Debatte ausgehen?

Bukalow: Da bin ich mir ganz sicher. Wir werden die rechtlichen Grundlagen auch für einzelne Personen schaffen, Zeitungen und Zeitschriften herauszugeben.

Hofbauer: Hat dann das Glasnost-Konzept überhaupt noch ein eigenes Profil oder ist es nur ein Schritt in Richtung liberales Pressewesen, wie wir es im Westen kennen?

Bukalow: Vielleicht ist es dieselbe freie Presse, wie ihr sie im Westen habt.

Fabris: Wirklich freie Presse — das heißt Information, die jede/r geben durfte und jede/r erhalten konnte — gab es nur in kurzen Zeiten historischer Umwälzungen, wie z.B. im Jahre 1848, als es hunderte Zeitungen in den Straßen Wiens gab. Pressefreiheit im wahrsten Sinne des Wortes ist also eine Utopie. Heutzutage stehen wir im Westen vor dem Problem, daß die größten privaten Medienkonzerne machtvolle Besitzer nicht nur der Zeitungen- und Zeitschriftenlandschaft, sondern auch der elektronischen Medien werden. Für uns ist das eine gefährliche Entwicklung.

Hofbauer: Information ist zur Ware verkommen, die man wie Bananen und Benzin verkauft.

Fabris: Information, Unterhaltung, all das ist zur Ware geworden und hat seine Rolle an den Bedarf der Werbewirtschaft angepaßt. Auch in der Sowjetunion wird sich dieses Problem über kurz oder lang stellen, weil auch dort Marktelemente in die Ökonomie verstärkt eingebaut werden.

Bukalow: Leicht möglich, aber vorläufig fürchten wir uns davor absolut nicht. Derzeit ist unser Gegner die Bürokratie, die uns nach wie vor Steine in den Weg legt, wenn wir z.B. die stalinistische Vergangenheit medial aufarbeiten wollen. „Orgonjok“ und „Literaturnaja Gasjeta“ sind diejenigen Zeitschriften, die sich in diesen Fragen am weitesten vorwagen, aber auch meine Zeitschrift, die „Neue Zeit“, vertritt einen radikalen antistalinistischen Kurs.

Fabris: Wie funktioniert überhaupt dieser neue Journalismus, der ja mit alten Journalisten der Breschnew-Ära betrieben werden muß?

Bukalow: Wir müssen uns selbst ändern, weil sich Zensur und Restriktionen in uns selbst festgesetzt haben. Wir sind weitgehend Sklaven der stalinistischen Traditionen. Das müssen wir abschütteln, und es wird uns gelingen.

Hofbauer: Kommen wir nochmals zurück zum leninistischen Medienkonzept, das die Medien — zumindest die kommunistischen Medien — in den Dienst der Partei und der Politik stellt. Wenn ich mir die „Moskau News“ oder auch die „Neue Zeit“ ansehe, hat sich strukturell wenig geändert. Die Zeitschriften stehen nach wie vor im Dienste der Parteipolitik, diesmal halt mit dem Vorzeichen „Perestroika“.

Bukalow: Sie irren sich, wenn Sie sagen, daß sich nichts geändert hat. Die Politik hat sich geändert.

Hofbauer: Und die „Neue Zeit“ fährt als Flaggschiff des Regierungskurses, wie früher auch. Warnungen z.B. vor einer raschen wirtschaftlichen Öffnung kommen nicht vor.

Bukalow: Das stimmt für unsere Zeitschrift, aber es gibt genügend Medien, die gegen die Perestroika Stellung beziehen.

Hofbauer: Welche?

Bukalow: Z.B. die Zeitschrift „Sowjetskaja Rossia“.

Hofbauer: Also gibt es Auseinandersetzung über die zu erwartenden Effekte der Perestroika?

Bukalow: Ja, allerdings in verschiedenen Zeitungen.

Hofbauer: Und Sie persönlich, stehen Sie im Dienste der aktuellen politischen Umwälzungen?

Bukalow: Wir fühlen uns im Dienste der Leser.

Hofbauer: Vor fünf Jahren hätten Sie darauf genau so geantwortet.

Bukalow: Da bin ich mir nicht sicher.

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