Amelie Lanier, 7. Abschnitt
November
2013
24.11.2013

Protokoll 40

Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation 3. & 4.

23. Kapitel: Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation

3. Progressive Produktion einer relativen Übervölkerung oder industriellen Reservearmee

Die Akkumulation des Kapitals, welche ursprünglich nur als seine quantitative Erweiterung erschien, vollzieht sich, wie wir gesehn, … in beständiger Zunahme seines konstanten auf Kosten seines variablen Bestandteils. …. Die kapitalistische Akkumulation produziert … und zwar im Verhältnis zu ihrer Energie und ihrem Umfang, beständig eine relative, d.h. für die mittleren Verwertungsbedürfnisse des Kapitals überschüssige, daher überflüssige oder Zuschuß-Arbeiterbevölkerung.

(S 658, Absatz 1 & 2)

Daß das Kapital Leute überflüssig macht, ist zwar eine notwendige Folge von Rationalisierung und dem Anwachsen des konstanten Kapitalteils, was aus den bisherigen Kapiteln klar hervorgeht. Der Gedanke ist aber in Nationalökonomie und Alltagsbewußtsein gleichermaßen derartig unpopulär, daß eine genaue Untersuchung dessen nötig ist, wie das vor sich geht.

Ein beliebtes Argument derer, die meinen, im Gegenteil, Kapital setze Leute in Arbeit, schaffe also Arbeitsplätze, ist jenes, daß Entlassungen in einem Sektor durch Erweiterung der Produktion in einem anderen, oder überhaupt ganz neue Produktionen ausgeglichen würden. So werden z.B. Statistiken angeführt, denen zufolge die Sockelarbeitslosigkeit geringer gewachsen sei als die „Gesamtakkumulation“ (vermutlich das, was als „Wirtschaftswachstum“ gehandelt wird).

Mit einer derartigen Argumentation wird allerdings erst einmal die Existenz einer Überbevölkerung als Begleiterscheinung des Kapitalismus zur Kenntnis genommen. Sogar, daß sie wächst, wird zugestanden. Es wird nur bestritten, daß sie durch die Tätigkeit des Kapitals erzeugt wird.

Ein weiterer Faktor bei der Entwicklung der relativen Überbevölkerung ist natürlich die Vermehrungsrate und die Mobilität der Bevölkerung. Wenn sich immer weniger Leute überhaupt vermehren, so hat das natürlich auch Auswirkungen, genauso wie Migrationsbewegungen.

Es ist auf jeden Fall wichtig, festzuhalten, daß die Überbevölkerung – weltweit – relativ ist in bezug auf die Bedürfnisse des Kapitals, und nicht absolut, oder relativ zu irgendwelchen natürlichen Ressourcen, Ackerland, oder Wasser, oder sowas.

In allen Sphären ist das Wachstum des variablen Kapitalteils und daher der beschäftigten Arbeiterzahl stets verbunden mit heftigen Fluktuationen und vorübergehender Produktion von Übervölkerung, ob diese nun die auffallendere Form von Repulsion bereits beschäftigter Arbeiter annimmt oder die mehr unscheinbare, aber nicht minder wirksame, erschwerter Absorption der zuschüssigen Arbeiterbevölkerung in ihre gewohnten Abzugskanäle.

(S. 659)

denn

Mit der durch sie selbst produzierten Akkumulation des Kapitals produziert die Arbeiterbevölkerung also in wachsendem Umfang die Mittel ihrer eignen relativen Überzähligmachung.

(S. 660)

Also: Auch wenn mehr Arbeitskräfte eingestellt werden, weil irgendwo eine neue Sparte eröffnet wird und sie am Anfang Arbeitskraftintensiv ist, ist es nur eine Frage der Zeit, wann die Eigentümer des Unternehmens Rationalisierungsmaßnahmen einleiten und Leute auf die Straße setzen – eben weil ihre Arbeit ihnen die Gewinne verschafft hat, um in „Modernisierung“ zu investieren, und die notwendig auftretende Konkurrenz auf den zweiten Platz zu verweisen.
Was die „Abzugskanäle“ betrifft, die nicht mehr befüllt werden, so sei an die in vielen EU-Staaten extrem hohe Jugendarbeitslosigkeit erinnert, die daraus entsteht, daß die nachrückende Generation kaum mehr nachgefragt wird.

Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Populationsgesetz, wie in der Tat jede besondre historische Produktionsweise ihre besondren, historisch gültigen Populationsgesetze hat.

(ebd.)

Diskussion

Was wären denn andere „Populationsgesetze“?

Der europäische Feudalismus zeichnete sich durch Arbeitskräftemangel aus. Deswegen wurden auch immer wieder Siedler angeworben und ihnen Privilegien erteilt, um irgendwelche neu eroberte oder brachliegende Gegenden durch Bearbeitung in die Höhe zu bringen.

Na ja, die Krankheiten waren auch schlechter heilbar und mehr Leute sind gestorben, das trägt zu diesem Mangel bei.

Ja sicher, aber die Tatsache bleibt: Im Verhältnis zu der Arbeit, die zu tun gewesen wäre, waren zu wenig Leute da. Das Problem der „Überbevölkerung“ war unbekannt.
Ausnahmen waren natürlich Hungersnöte durch Mißernten, aber da trat dann wieder der zusätzlich störende Umstand ein, daß viele Leute verhungert oder ausgewandert sind und nachher niemand da war, um die wieder guten Ernten einzubringen. Von den die Bevölkerung dezimierenden Verheerungen des 30jährigen Krieges hat sich Mitteleuropa erst sehr langsam derfangen, und das mag auch ein Grund sein, warum das unzerstörte England in der Entwicklung des Kapitalismus die Nase vorn hatte.

Auch die Bindung der Leibeigenen an die Scholle ist ein Hinweis darauf, daß der Feudalherr diese Leute brauchte, um von den Früchten ihrer Arbeit zu leben.
„Versorgung“ war übrigens nicht der Gesichtspunkt. Dieser Begriff tritt erst im Kapitalismus auf, wo sie einerseits nicht gesichert, andererseits aber erwünscht ist, um immer genügend Arbeitskräfte zur Verfügung zu haben.

Auch der Reale Sozialismus kannte das Problem der Überbevölkerung nicht. Dort herrschte das Ideal, wenn man alle in Arbeit setzt, so kann man den nötigen gesellschaftlichen Reichtum erzeugen, um alle zu versorgen.
In manchen Staaten, wie Albanien oder Rumänien, waren ja auch Verhütung und Abtreibung streng verboten, um die Vermehrung der Bevölkerung zu befördern. Damit soll jetzt nicht gesagt sein, daß das toll ist, aber es weist darauf hin, daß die dort kein Problem des „zuviel“ an Bevölkerung kannten.

Aber konnten die diese Bevölkerung auch wirklich benützen?

„Benützung“ war dort nicht der Hauptzweck, sondern eben „Versorgung“. Auch die, die man nicht benützen konnte, sollten versorgt werden. So wurden auch die Betriebe gezwungen, eine bestimmte Quote an Roma einzustellen, auch wenn das von der Organisation der Produktion her gar nicht notwendig war – damit waren sie als Arbeitskräfte integriert und dadurch versorgt. Fabriken wurden in die Provinz gestellt, um Leute mit Arbeit und damit mit Gehalt zu versorgen. Ob die Produkte dort oder anderswo gebraucht wurden, war nachrangig.

Es ist also die ganze Benützung und Nicht-Benützung der Arbeitskraft ein Ergebnis des Zweckes der Produktion. Es ist einer der Grundwidersprüche des Kapitalismus, daß die Arbeitskraft einerseits die Quelle des Mehrwerts und des Gewinnes ist, also insofern höchst notwendig, auf der anderen Seite aber ständig die Quelle ihrer eigenen Überflüssigmachung, indem sie durch den für den Kapitalisten erzeugten Reichtum diesem die Mittel in die Hand gibt, seine Arbeitskräfte wegzurationalisieren.

Eben deshalb, weil im Kapitalismus gilt: wer nicht arbeitet, also nicht benützt wird, hat auch nichts zum Essen. Deswegen braucht es Eingriffe von außen, also durch den Staat, um die Überflüssigen irgendwie zu erhalten. Das ist natürlich deshalb notwendig, weil ja sonst die Arbeiterklasse für das Kapital nicht mehr zur Verfügung stehen würde, weder physisch, noch vor allem psychisch, also sich nicht weiter für diese Indienstnahme zur Verfügung stellen würde. In diese Abteilung fallen auch Pensionen und Kinderbeihilfe. Also die noch nicht oder nicht mehr Benutzbaren müssen auch irgendwie versorgt werden, um die Klasse als solche willig zu erhalten.

Dort, wo es keinen Sozialstaat gibt, werden die Kinder ja auch als Arbeitskräfte eingesetzt, und das Verbot der Kinderarbeit stempelt sie zu Überflüssigen, die dann überhaupt keine Überlebenschance haben, außer fallweise durch Prostitution.

Wenn aber eine Surplusarbeiterpopulation notwendiges Produkt der Akkumulation oder der Entwicklung des Reichtums auf kapitalistischer Grundlage ist, wird diese Übervölkerung umgekehrt zum Hebel der kapitalistischen Akkumulation, ja zu einer Existenzbedingung der kapitalistischen Produktionsweise. Sie bildet eine disponible industrielle Reservearmee, die dem Kapital ganz so absolut gehört, als ob es sie auf seine eignen Kosten großgezüchtet hätte. Sie schafft für seine wechselnden Verwertungsbedürfnisse das stets bereite exploitable Menschenmaterial, unabhängig von den Schranken der wirklichen Bevölkerungszunahme.

(S 661, 1. Absatz)

Das Kapital bedarf also für seine Akkumulation eines ständig bereiten Arbeitskräftereservoirs, um jederzeit auf dieses zurückgreifen zu können, sobald es neue Akkumulationssphären eröffnet, also neue Produktionen einrichten will. Die Überflüssigen müssen also auf Abruf bereit stehen, um jederzeit wieder in den Produktionsprozeß eingegliedert werden zu können.
Ein wichtiges Moment dieser Reservearmee ist die Mobilität der Arbeiterklasse. Sie muß entweder vor Ort vorhanden sein oder von woanders herbeigeschafft werden können. In diese Rubrik fallen die Gastarbeiter der 60er und 70er Jahre, die angeworben wurden, um die Akkumulation des mitteleuropäischen Kapitals zu bewerkstelligen. Die EU hat sich die Mobilität der Arbeitskraft auf die Fahnen geschrieben. Unter den Bedingungen der Globalisierung ist die industrielle Reservearmee weltweit zugreifbar, und damit wächst auch derjenige Anteil der Bevölkerung, der ihr nicht mehr angehört, weil er gar nicht mehr in den Arbeitsprozeß eingliederbar ist.
Ein zusätzliches Moment der Globalisierung ist natürlich die Mobilität des Kapitals, das seine Produktion inzwischen überall auf der Welt aufziehen kann, sodaß die industrielle Reservearmee ebenso global wird, wie die Überflüssigen in den Heimatländern des Kapitals zunehmen.

Mit der Akkumulation und der sie begleitenden Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit wächst die plötzliche Expansionskraft des Kapitals, nicht nur, weil die Elastizität des funktionierenden Kapitals wächst, und der absolute Reichtum, wovon das Kapital nur einen elastischen Teil bildet, nicht nur, weil der Kredit, unter jedem besondren Reiz, im Umsehn ungewöhnlichen Teil dieses Reichtums der Produktion als Zusatzkapital zur Verfügung stellt. Die technischen Bedingungen des Produktionsprozesses selbst, Maschinerie, Transportmittel usw. ermöglichen, auf größter Stufenleiter, die rascheste Verwandlung von Mehrprodukt in zuschüssige Produktionsmittel.

(S 661, 1. Absatz)

Der absolute Reichtum, von dem das Kapital nur einen elastischen Teil bildet, wächst – das heißt, nicht aller Reichtum unserer Gesellschaft ist Kapital, sondern wird rein konsumtiv genutzt, steht aber dennoch als mögliche Quelle des Verwertungsprozesses des Kapitals zur Verfügung. Man hat eine Wohnung, braucht aber eine neue Badewanne. Usw. Das heißt, das nicht kapitalistisch genutzte Eigentum ist ständige Quelle der Bereicherung für das Kapital. Was hat das aber mit der Reservearmee zu tun?
Die „Expansionskraft“ des Kapitals wächst mit der Konsumptionsfähigkeit der Gesellschaft, d.h. der zahlungsfähigen Nachfrage. Ohne Markt kein Absatz, ohne Absatz keine Produktion, und daher keine Anwendung von Arbeitskraft. Das heißt, wenn die Konsumtionsfähigkeit einer Bevölkerung schrumpft – Griechenland, Portugal, Ungarn – so wächst die Überbevölkerung, die immer mehr die Fähigkeit verliert, als industrielle Reservearmee zu fungieren.

„Weil der Kredit, unter jedem besondren Reiz, im Umsehn ungewöhnlichen Teil dieses Reichtums der Produktion als Zusatzkapital zur Verfügung stellt“ – mit Kredit kann natürlich mangelnde Zahlungsfähigkeit ersetzt und vorhandene gesteigert werden – aber all dieser Kredit muß sich letztlich in der Verwertungsfähigkeit des solchermaßen expandierenden Kapitals beweisen, und wird auch an dieser scheitern. Was ebenfalls die Anzahl der Überflüssigen vermehrt.

Die ganze Bewegungsform der modernen Industrie erwächst also aus der beständigen Verwandlung eines Teils der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände. Die Oberflächlichkeit der politischen Ökonomie zeigt sich u.a. darin, daß sie die Expansion und Kontraktion des Kredits, das bloße Symptom der Wechselperioden des industriellen Zyklus, zu deren Ursache macht.

(S 662, 1. Absatz)

Hier betreten wir das Feld der Krisentheorie. Der Expansion des Kapitals folgt eine Phase der Kontraktion. Arbeitskräfte werden erst benötigt, eingestellt, benützt, und irgendwann stockt der Absatz, weil der Markt aufgrund der gestiegenen Produktion ohne gleichermaßen stattfindendem Wachstum der Zahlungsfähigkeit stockt. Waren bleiben liegen. Der Reproduktions- und Akkumulationsprozeß des Kapitals vollzieht sich in Zyklen, und als Resultat dieser Zyklen wächst und schrumpft die relative Überbevölkerung.
Der Kredit wird hier als Folge der Akkumulation besprochen, und dieser Teil des Kreditwesens, der die Produktion bedient, ist in der Tat eine Folge der bestehenden oder stockenden Kapitalakkumulation im produktiven Sektor, der heute als „Realwirtschaft“ besprochen wird. Heute wird beklagt, daß Klein- und Mittelbetriebe zuwenig Kredit erhalten. Das wird in den Medien als Ursache ihrer Probleme angesehen. Aber das ist eine Folge der Kalkulationen des Finanzkapitals, daß in diesem Sektor nichts zu holen ist, weil aufgrund der Kontraktion der Märkte der Absatz dieser Betriebe unsicher ist.

Das Zitat auf den Seiten 662-663 ist eigentlich ein Plädoyer für die heute bestehende, aber damals noch unbekannte Arbeitslosenversicherung: Man darf die Überflüssigen nicht emigrieren lassen, weil man könnte sie beim Anspringen des nächsten konjunkturellen Zyklus noch brauchen.
In der EU heute ist diese Überlegung teilweise obsolet, weil man ja auf das überreichlich vorhandene Arbeitskräftereservoir der gesamten EU zurückgreifen kann, wie ja die „Skandale“ um spanische Amazon-Leiharbeiter oder rumänische Arbeiter in der Fleischindustrie deutlich kenntlich machen. Das alles hat auch Auswirkungen auf die Arbeitslosen, wie Hartz IV zeigt und wo noch ein breites Einsparungspotential sichtbar wird …

Sogar Malthus warnt vor Verhütung, weil das die industrielle Reservearmee gefährden könnte:

Weise Gewohnheiten in bezug auf die Ehe, wenn zu einer gewissen Höhe getrieben unter der Arbeiterklasse eines Landes … würden … schädlich sein

(S. 663, 3. Absatz)

Damit leitet er das bis heute gültige Lamento ein, daß die Leute sich nicht genügend vermehren – „Sterben die Österreicher aus?!“ – mit dem – gerade angesichts einer überreichlich vorhandenen industriellen Reservearmee die Sorge ausgesprochen wird, es könnten einmal zuwenig billige und willige Arbeiter da sein, und man müßte womöglich auf dubioses Menschenmaterial von anderswo zugreifen. (Inder statt Kinder?)

Jeder Kapitalist hat das absolute Interesse, ein bestimmtes Arbeitsquantum aus kleinerer, statt ebenso wohlfeil oder selbst wohlfeiler aus größerer Arbeiterzahl auszupressen. In dem letzten Fall wächst die Auslage von konstantem Kapital verhältnismäßig zur Masse der in Fluß gesetzten Arbeit, im ersten Fall viel langsamer. Je größer die Stufenleiter der Produktion, desto entscheidender dies Motiv.

(S. 664, 5. Absatz)

Das ist eine Wiederholung, aber es schadet nicht, wieder daran zu erinnern: Ein Arbeiter an einer Maschine (notfalls im Schichtbetrieb rund um die Uhr) kommt billiger als zwei Arbeiter an zwei Maschinen, weil der Unternehmer sich ja so die zweite Maschine spart. Deswegen wird Überstunden oder Schicht gefahren, statt die Arbeit auf 2 Arbeitsplätze aufzuteilen – weil damit mehr konstantes Kapital eingesetzt werden müßte, um die gleiche Menge Mehrwert zu erzielen.
Das heißt natürlich, wenn einer die Arbeit macht von 2, so wächst die Überbevölkerung.
Und je mehr konstantes Kapital mit einer Arbeitskraft bedient wird, um so wichtiger ist es, diesen Arbeitsplatz „auszulasten“. Deshalb gibt es neben steigender Arbeitslosigkeit auch steigende Überlastung derer, die vom Kapital eingesetzt werden, und deswegen ist die Gewerkschaftsforderung, die Arbeit doch anders zu „verteilen“, so dümmlich-ignorant gegenüber der Realität der Arbeitswelt.

Einerseits macht also, im Fortgang der Akkumulation, größeres variables Kapital mehr Arbeit flüssig, ohne mehr Arbeiter zu werben, andererseits macht variables Kapital von derselben Größe mehr Arbeit mit derselben Masse Arbeitskraft flüssig und endlich mehr niedere Arbeitskräfte durch Verdrängung höherer.

(S. 665, 2. Absatz)

Für die Erzeugung von Überbevölkerung heißt das: Es wird 1. mehr produziert, ohne daß mehr Arbeitskräfte angeworben werden. 2. es werden Vollarbeitskräfte freigestellt und andere eingestellt, die weniger bezahlt bekommen. Da sind wir heute mit den working poor, die von ihrem Gehalt nicht leben können, und den Langzeitarbeitslosen, die keiner will, weil sie zu alt und deshalb zu teuer sind im Verhältnis dazu, was sie leisten.

Das „ökonomische Dogma“ der Nationalökonomie (S. 666/667) bespricht das Verhältnis zwischen Bevölkerungsentwicklung und Kapitalakkumulation als genau umgekehrt und stellt damit das Kapital als Diener der Bevölkerung dar – auch wenn immer vor Wahlen versprochen wird, Arbeitsplätze zu schaffen.
Die Malthus’sche Bevölkerungstheorie (S. 667), wonach sich bei zu hohen Löhnen die Arbeiterklasse kaninchenmäßig vermehrt und dadurch den Arbeitsmarkt überfüllt, ist schon wegen der Länge der industriellen Krisenzyklen und dem vergleichsweise langsamen Wachstum von Kindern völlig absurd – schien aber maßgeblichen Personen so gut in den Kram zu passen, daß sie dennoch geglaubt und verbreitet wurde.

Wenn es ein Verhältnis von Höhe des Arbeitslohns und vermehrtem Andrang gibt, so spartenweise: werden wo – durch vermehrte Expansion des Kapitals – besonders gute Löhne gezahlt, so vermehrt sich der Andrang, siehe IT-Branche, – solange, bis die sich wieder durch Überangebot so verbilligt haben, daß dort auch Durchschnittslöhne gezahlt werden.

Diese Vorstellung, Kapitalwachstum und Bevölkerungswachstum könnten irgendwie in ein Gleichgewicht kommen, ähnlich wie Angebot und Nachfrage, ist einfach ignorant gegenüber den Tatsachen:

Die Nachfrage nach Arbeit ist nicht identisch mit Wachstum des Kapitals, die Zufuhr der Arbeit nicht mit dem Wachstum der Arbeiterklasse, so daß zwei voneinander unabhängige Potenzen aufeinander einwirkten.
(S. 669)

Das Gezeter darüber, daß so etwas wie Arbeitervereinigungen, Gewerkschaften hier das „freie Spiel der Marktkräfte“ behindern, ist natürlich dieser Angebot-Nachfrage-Theorie angemessen.
In den meisten osteuropäischen EU-Staaten sind mit solchen Argumenten die alten Gewerkschaften zerschlagen und das Entstehen neuer verhindert worden. Dort galt es, Klassengesellschaft und Arbeiterklasse erst einzurichten.
In den Heimatländern des Kapitals hat man allerdings auch die Nützlichkeit solcher Organisationen für die reibungslose Ausbeutung erkannt.

Die „widrigen Umstände“ in den Kolonien bezeichnen die sich hartnäckig haltende Subsistenzwirtschaft, die das „natürliche“ Entstehen von überflüssiger Bevölkerung und damit das nötige „Angebot“ an Arbeitskräften verhindert.
In Fragen der Subsistenz wäre es heute dem Staat natürlich lieber, die Arbeitslosen täten sich mit einem Gemüsegarten und etwas Kunsthandwerk erhalten, anstatt sich im sozialen Netz aufzuhalten. Dem Kapital hingegen wäre das nicht recht, weil damit die Reservearmee nicht für es zur Verfügung stünde.

Diskussion:

Wie ist das mit den Gewerkschaften? Die wollen heute die einheimische Arbeiterklasse gegen Dumpinglöhne im Ausland schützen. Die einzige Gefahr sind also für sie die Überflüssigen, die als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Deswegen hört man ja vom internationalen Dachverband der Gewerkschaften recht wenig.
Wenn jedoch ein neuer Kollektivvertrag verhandelt wurde, so ist das natürlich die beste aller bestmöglichen Welten und mehr war nicht drin. Denn: das Kapital muß Gewinne machen, „gehts ihm gut, so gehts uns gut!“

4. Verschiedne Existenzformen der relativen Übervölkerung. Das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation

Marx unterscheidet 3 Arten von Überbevölkerung – derer, die noch irgendwie in Arbeit stehen: fließende, latente und stockende.

Die fließende besteht darin, daß sich Leute ständig neue Jobs suchen müssen, weil sie gekündigt werden, sobald sie erwachsen sind oder weil das Kapital rationalisiert, und sie müssen immer wieder Perioden der Nichtarbeit durchstehen und Arbeit suchen, was sie noch zusätzlich zur eigentlichen Lohnarbeit abnutzt. Das verringert ihre Lebenserwartung und deshalb fallen sie als Überzählige nicht so auf. Wer kann, wandert aus.

Gerade bei den Arbeitern der großen Industrie stoßen wir auf die kürzeste Lebensdauer.

(S. 671, 1. Absatz)

Wenngleich sich die allgemeine Lebenserwartung seit Marx Zeiten gewaltig erhöht hat, gilt diese Bemerkung heute immer noch.

Diese fließende Überbevölkerung ist kaum als solche wahrnehmbar, weil die von ihr Betroffenen entweder emigrieren, oder früh Kinder kriegen, früh sterben und sie deshalb gar keine Möglichkeit haben, so richtig überflüssig zu werden und Familie oder Sozialkassen auf der Tasche zu liegen.

Die latente Überbevölkerung ortet Marx auf dem Land, wo in dem Maße, in dem die Kapitalisierung der Landwirtschaft voranschreitet, immer mehr Landarbeiter überflüssig werden. Die gammeln dort vor sich hin, bringen sich noch mit einem Gemüsegarten und Gelegenheitsarbeiten durch und warten nur drauf, daß sie irgendwo einen Job in der Stadt kriegen.
In diversen Gegenden Osteuropas schaut es durchaus so aus, wie Marx beschriebt. Da ziehen dann regelmäßig Werber durch die Dörfer und versprechen den Leuten Jobs im Goldenen Westen, gegen Provision selbstverständlich. Wenn sie dann vor Ort ankommen, kriegen sie entweder solche Jobs wie bei Versandfirmen oder in der Fleischindustrie, wie sie kürzlich durch die Medien gegangen sind, oder sie landen gleich in Prostitution oder Einbrecher-Banden, mit der Drohung: wenn du nicht … , so besuchen wir deine Verwandten am Dorf!

Die stockende Überbevölkerung ist die, die als solche am ehesten wahrnehmbar ist. Große Familien ohne die Mittel, die richtig zu ernähren und zu kleiden, geschweige denn ausbilden zu lassen, Fachkräfte aus aussterbenden Wirtschaftszweigen, Heimarbeit usw. – die heute prekär Beschäftigten, Jobber oder Teilzeitkräfte.

Dann kommt der Teil die Überflüssigen, der keine Arbeit findet. Dieses stellt sich dar als derjenige Teil der Bevölkerung, der durch die Maschen der obigen drei Kategorien durchgefallen ist:

Der tiefste Niederschlag der relativen Übervölkerung endlich behaust die Sphäre des Pauperismus. Abgesehn von Vagabunden, Verbrechern, Prostituierten, kurz dem eigentlichen Lumpenproletariat, besteht diese Gesellschaftsschichte aus drei Kategorien. Erstens Arbeitsfähige. … Zweitens: Waisen- und Pauperkinder. … Drittens: Verkommene, Verlumpte, Arbeitsunfähige. …

(S. 673, 1. Absatz)

Ein guter Teil derselben – bis auf die Heimkinder – ist gar nicht mehr eingliederbar in den Arbeitsmarkt:

Der Pauperismus bildet das Invalidenhaus der aktiven Arbeiterarmee und das tote Gewicht der industriellen Reservearmee. Seine Produktion ist eingeschlossen in der Produktion der relativen Übervölkerung, seine Notwendigkeit in ihrer Notwendigkeit, mit ihr bildet er eine Existenzbedingung der kapitalistischen Produktion und Entwicklung des Reichtums. Er gehört zu den faux frais der kapitalistischen Produktion, die das Kapital jedoch großenteils von sich selbst ab auf die Schultern der Arbeiterklasse und der kleinen Mittelklasse zu wälzen weiß.

(ebd.)

Auch mit einem entwickelten Sozialstaat ist das heute ähnlich: Die Arbeitslosen-, Kranken- und Pensionsversicherung und wird oder wurde zumindest größtenteils von den Sozialversicherungsbeiträgen der in Arbeit Stehenden bezahlt.

Je größer der gesellschaftliche Reichtum, das funktionierende Kapital, Umfang und Energie seines Wachstums, also auch die absolute Größe des Proletariats und die Produktivkraft seiner Arbeit, desto größer die industrielle Reservearmee. Die disponible Arbeitskraft wird durch dieselben Ursachen entwickelt wie die Expansivkraft des Kapitals. Die verhältnismäßige Größe der industriellen Reservearmee wächst also mit den Potenzen des Reichtums. Je größer aber diese Reservearmee im Verhältnis zur aktiven Arbeiterarmee, desto massenhafter die konsolidierte Übervölkerung, deren Elend im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Arbeitsqual steht. Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus. Dies ist das absolute, allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation.

EINSCHUB:

Eine sehr wichtige Stelle, auch für die Marx-Rezeption. Marx beharrt hier darauf: je mehr konstantes Kapital im Verhältnis zum variablen Kapital eingesetzt wird, je mehr Maschinerie, Technologie und dgl., um so mehr Menschen werden überflüssig, und verelenden deswegen.
Daraus ergaben sich erstens Verelendungstheorien, die annahmen, irgendwann wird das Elend so groß, daß die Menschen rebellieren, eine Revolution machen müssen. Marx und Engels selbst meinten, das Kapital würde so seine eigenen „Totengräber“ produzieren:

Mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.

(Komm. Manifest, I. Bourgeois und Proletarier, letzter Absatz)

Diese Verelendung trat aber nicht in der beschriebenen Form ein und das bereitete allen Marx-Anhängern Kopfzerbrechen. Hatte der Meister sich getäuscht? Es entstanden Theorien von der „Arbeiteraristokratie“, vom „Opportunismus“, Gramsci erfand den „Fordismus“ als fiese Verteidigungsstrategie des Kapitals usw. usf.

Der letzte Satz von Marx bei der Formulierung dieses Gesetzes wurde überlesen:

Es wird gleich allen andren Gesetzen in seiner Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört.

(ebd.)

Ein gewisses Rätsel gab uns der Satz „Je größer endlich die Lazarusschichte der Arbeiterklasse und die industrielle Reservearmee, desto größer der offizielle Pauperismus“ auf. Wenn es sich hier nicht um eine Tautologie handelt, so liegt der springende Punkt im Wort „offiziell“: also das, was in früheren Zeiten in den Armenhäusern gelandet ist und heute mit „Obdachlos“ oder „unterhalb der Armutsgrenze“ statistisch erfaßt und damit offiziell eingestanden wird. Die bürgerlichen Erklärungen drücken sich jedoch um den Umstand herum, wo diese Leute eigentlich herkommen.

Es folgen Bebilderungen, wie sich die bisherigen Ökonomen oder sonstigen Denker dazu geäußert haben. Der Spruch des von Marx so sehr gelobten venetianischen Mönches erscheint etwas verwurschtelt:

Die Arbeitsamkeit in einigen erzwingt den Müßiggang in andren. Die Armen und Müßigen sind eine notwendige Frucht der Reichen und Tätigen.

(S. 675, letzter Absatz)

Der Satz gehört umformuliert: „Der Müßiggang in einigen erzwingt die Arbeitsamkeit in andren. Die Reichen und Müßigen sind eine notwendige Frucht der Armen und Tätigen.“ Ansonsten ist es nur das Lamento: „die Armen immer ärmer, die Reichen immer reicher!“ Das festzustellen, bringt jeder fertig.

Der nächste Mann der Kirche ist zwar unsympathisch, hat aber etwas gemerkt: drohendes Elend erzeugt freiwilligen Arbeitseifer, also der stumme Zwang der Verhältnisse erspart Zwangsmaßnahmen. Alle strömen freiwillig zur Lohnarbeit.

Der erstere betrachtet laut Marx Armut und Elend als gottgegeben und verlangt nach mehr Armenpflege, der andere verdammt Sozialgesetze, weil sie die Harmonie stören, nachdem nur viele Arme die Prosperität des Kapitals garantieren können (Bill Gates und Thilo Sarrazin lassen grüßen …)

Das Schlußzitat von Destutt de Tracy faßt die Lage jedenfalls gut zusammen:

Die armen Nationen sind die, wo das Volk gut dran ist, und die reichen Nationen sind die, wo es gewöhnlich arm ist.

(S. 677, letzter Absatz)

Den 5. Abschnitt haben wir uns gespart. Man wird ja heute – gerade um die Weihnachtszeit – mit Nachrichten von Armut und Elend auf der Welt förmlich überschüttet und hat da genug Material zur Bebilderung von Marx’ Gesetz.

Was ist der Witz dieses Kapitels? Daß es im Kapitalismus Elend gibt, läßt sich ja beim besten Willen nicht bestreiten. Aber an seiner Erklärung scheiden sich die Geister. Noch dazu, wo wir doch in einem „Wohlfahrtsstaat leben“, einer „Konsumgesellschaft“, wo der „Lebensstandard“ unglaublich hoch (viel zu hoch für manche Gesellschaftskritiker!) ist.

Leider wird das tatsächlich vorhandene Elend immer nur zum Anlaß genommen, jede Menge Staatsenergie freizusetzen und die oberste Gewalt an seine vermeintlichen „Aufgaben“ zu erinnern. Aber all das gehört zu den „mannigfachen Umständen“, „deren Analyse nicht hierher gehört“ …

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