Heft 2-3/2004
März
2004

Psychopathologie des Friedens

Der deutsche Pazifismus gegen die USA

Nachdem alle Ge­schichtsphilosophien sich im letzten Jahr­hundert verraten ha­ben, ist nur der Glau­be an die emotionale Macht der Geschichte übrig geblieben.

Editorial von Ästhetik & Kommunikation.
Ge­schichtsgefühl, Winter 2003

Wir haben uns auf den Weg gemacht, auf unseren deutschen Weg, und wir haben viel geschafft, aber wir haben noch nicht alles erreicht.

Gerhard Schröder,
Wahlkampfauftakt 2002

Georg Simmel sah im Krieg eine „existenzielle Eigentlichkeit“, Max Scheler sprach von der „Existenzialisierung der Nation“. [1] Als 1914 der 1. Weltkrieg aus­brach, wurde er mit einem Jubel begrüßt, der seinesgleichen in der Geschichte such­te: „Überwältigt von stürmi­scher Begeisterung“ sank da­mals der Kunstmaler Adolf Hitler in „die Knie“ und dankte „dem Himmel aus übervollem Herzen“, für die „Erlösung“, die Erfüllung ei­ner „sittlichen Sehnsucht“. [2] Wie der junge Hitler emp­fanden in Deutschland Mil­lionen „diese Tage als ein un­vergleichliches Gemein­schaftsgefühl“. Der Krieg wurde frenetisch begrüßt als „Modernisierer, (...) Umwäl­zer, (...) Revolution und In­spiration“. [3] Es waren keines­wegs die Kriegsziele, die von Anfang an unklar waren, als vielmehr das Ereignis Krieg selbst, das die Massen auf die Straßen Berlins und anderer Großstädte trieb. Der Kriegsausbruch wurde begrüßt als ein tiefempfundenes spiritu­elles Erlebnis, das die Phase bigotter Partei- und Interes­senspolitik im Inneren und die als verlogen empfundene Diplomatie im Äußeren machtvoll beendete. „Ohne den Krieg würde die Welt in Materialismus versumpfen“, [4] hatte Heinrich Graf Moltke schon Ende des 19. Jahrhun­derts verkündet und in den intellektuellen und politi­schen Eliten Deutschlands herrschte das Gefühl vor, langsam aber unaufhaltsam von einem listigen und un­sichtbaren Feinde besiegt zu werden. Dieser hieß Mate­rialismus, seine Waffen wa­ren Liberalismus, Sozialde­mokratie und Judentum, mit denen er die innere Verfasstheit Deutschlands bedrohte, ganz so, wie englischer Frei­handel und französische Re­publik den Deutschen von Außen zu Leibe rückten. So sollte Kaiser Wilhelms ange­strebter „Platz an der Sonne“ nicht alleine die deutsche ko­loniale Einflusssphäre in wär­mere Gefilde verschieben, sondern im Sinne einer ganz spezifisch „deutschen Missi­on“ dem rationalen, kalten und interessegeleiteten Ma­terialismus Gefühl, Vision, Innerlichkeit und authenti­sche Werte entgegensetzen. Nichts anderes empfand der expressionistische Maler Franz Marc, als er stellver­tretend für seine Generation schrieb, „dieser Großkrieg ist ein europäischer Bürgerkrieg, ein Krieg gegen den inneren, unsichtbaren Feind des europäischen Geistes.“ [5] Etwas ganz ähnliches meinte auch Hitler, der sich vom Kriegs­erlebnis erhoffte, dass nicht nur „Deutschlands Feinde im Äußeren zerschmettert wer­den, sondern auch unser innerer Internationalismus zerbricht. Das wäre mehr wert als aller Länderge­winn.“ [6]

So bestand das Ei­gentümliche am Kriegserleb­nis von 1914 darin, dass es al­len alles bot. Künstler erwar­teten ein großes inneres Er­lebnis, Studenten den Aus­bruch aus spießbürgerlicher Sekurität, Politiker ein Ende der Klassenkonflikte und die Völkischen die Schaffung ei­nes Neuen Reiches. Kein Phantasma, das nicht formu­liert wurde, kein Wunsch, der sich nicht durch den Krieg bestätigt sah. Linke und Rechte, Konservative und Alldeutsche, preußisches Militär und bayrische Bohe­me trafen sich in ihrer Sehnsucht nach der Verwirkli­chung lang gehegter Träume und Visionen, die allesamt von einer derart übergeord­neten Größe waren, dass sie sich als reale politische Kriegsziele nicht eigneten. Sucht man in der Literatur der Zeit nach formulierten Kriegszielen, so wird man schnell feststellen, dass Deutschland nicht weniger als Alles wollte: Den „Platz an der Sonne“ als Vision ei­nes prosperierenden Weltrei­ches, ein deutsch dominier­tes Europa, mehr Lebens­raum im Osten, Gerechtig­keit und vor allen Dingen Einheit. Mit Ausbruch des Krieges schienen alle inneren Gegensätze und unvereinba­ren Interessen versöhnt in dem Gefühl von Einheit, Aufgabe und Sieg; „die deut­sche Einheit, knapp fünfzig Jahre zuvor erreicht, schien jetzt verwirklicht.“ [7] Während letztere durch den Krieg selbst hergestellt worden war, bewegten sich die weiteren Ziele auf einem derart hohen Abstraktionsniveau, dass ei­ne ernsthafte Auseinander­setzung über die Möglich­keiten sie zu erreichen gänz­lich unmöglich schien. Noch als sich Deutschland bereits mitten im Krieg befand wa­ren keinerlei konkrete Kriegs­ziele formuliert worden, im Gegenteil: Die Reichsregie-rung entschied, „jede öffent­liche Diskussion über deut­sche Kriegsziele im Detail“ zu verbieten. [8] Gleichzeitig gelang es ihr nicht, die tatsächlich existierenden wirt­schaftlichen Interessen der deutschen Industrie zu syn­thetisieren und in eine Kriegsführung umzusetzen, die nicht jeden an einer Stel­le erzielten Gewinn wieder durch die verheerenden Ver­luste woanders zunichte machte. „Das stolze Reich glich einer Kutsche mit Pfer­debespannung gleichzeitig vorn und hinten.“ [9] Statt kla­rer Interessen und Ziele ver­fügte man lediglich über „ei­ne Strategie und eine Visi­on“, [10] der Krieg als einigende Kraft durfte nicht von „ma­terialistischen“ Interessen profanisiert werden, sondern musste ein heiliges, spirituel­les Erlebnis bleiben: „Die Musen schweigen, es gilt den aufgezwungenen Kampf um deutsche Kultur, die die Bar­baren vom Osten bedrohen, um deutsche Werte, die der Feind im Westen uns neidet. So entbrennt aufs neue der Furor Teutonicus. Die Be­geisterung der Befreiungs­kämpfe lodert auf, der heilige Krieg bricht aus.“ [11]

Furor Teutonicus

So undeutlich die Werte und Ziele blieben, so sehr sah man sie bedroht und nahm damit die mögliche Nieder­lage zugleich vorweg. Der Furor Teutonicus war zwar Erlösung, zugleich aber auch „aufgezwungen“, ein „Be­freiungskampf“ gegen die existentielle Bedrohung von Außen und Selbstzweck zu­gleich, „das rückhaldose Einsetzen des ganzen Menschen, das nicht dingt, nicht wägt, nicht schwankt, sondern durchhält bis zuletzt, und mag der Erdball darüber in Trümmern fallen.“ [12] Unter anderem daraus resultierte auch jene unheimliche Kom­promisslosigkeit, die nur Sieg oder heroischen Untergang kannte, eine Programmatik, die der deutsche Generalstab getreu in die Tat umsetzte. Als General Ludendorf noch bei den letzten Offensiven 1918 gefragt wurde, was ge­schehe, sollten diese schei­tern, antwortete er lapidar: „Dann muß Deutschland eben untergehen.“ [13] Denn Deutschland war nicht in den Krieg gezogen, um konkrete Ziele zu erreichen oder Pro­bleme zu lösen — der Krieg selbst sollte vielmehr alle Pro­bleme lösen. So war das Ver­hältnis der Deutschen zum Krieg ein durch und durch existentielles im Sinne Sim­mels und nicht jenes instrumentelle, das es Franzosen, Briten und später Amerika­nern ermöglichte, ihre Inter­essen mit den sozialen und politischen Ziele zu ver­knüpfen, für die sie kämpf­ten und nach der sie ihre Propaganda ausrichteten. Nichts wurde vehementer ab­gelehnt als die Idee, man füh­re Krieg um bestimmter Zie­le willen. Der deutsche „hei­lige Krieg“ war sich selbst Zweck genug, kämpfte er doch gegen jene unehrlichen Krämer und Händler, die den Furor Teutonicus als dys­funktional ablehnten und Krieg nur um „bestimmter Interessen willen“ führten, wobei Kosten und Nutzen genau abgewägt würden. In der Selbstwahrnehmung wa­ren die Deutschen ein „hel­disches Kriegervolk“, dem der Krieg „als die größte sitt­liche Macht erscheint, deren sich die Vorsehung bedient, um die Menschen auf Erden vor Verlotterung und Fäulnis zu bewahren. (...) Händler und Held: sie bilden die bei­den großen Gegensätze, bil­den gleichsam die beiden Po­le menschlicher Orientierun­gen auf Erden.“ [14] Während der Händler lediglich auf sein Kalkül bedacht ist, zeichnen Treue, Pflichterfüllung und Vaterlandshebe die Qualitä­ten des Helden aus. „In Ehre zu fallen ist für einen Streiter solcher Art kein Schrecknis“, heißt es daran anknüpfend in einem Nazitext über das bib­lische Gleichnis von David und Goliath. Unehrenhaft und schlimmer als der Tod ist das Kalkül, das sich über die Ehre des Krieges hinweg­setzt, indem es einfach nur gewinnen will: „Den starken Philister aus sicherer Entfer­nung meuchlings mit der Schleuder fällen.“ [15] So steht der Händler dem Kriege wie dem Leben gegenüber, denn er verfolgt materielle Ziele, die das „heilige“ Geschehen des Krieges und des Lebens dem Diktat des „eitlen Güterkrams“ unterwerfen. So waren es ganz folgerichtig auch nicht die Überheblichkeit und Inkompetenz der Heeresführung, die den Deutschen die (ersehnte und) absehbare Niederlage berei­teten, sondern der Verrat in der Heimat.
Ressentiment und Interesse Vieles erinnerte im deutschen Friedensfrühling 2003 an das Augusterlebnis von einst: Nicht nur die maßlose Über­heblichkeit, mit der sich die politische Führung entgegen der Ratschläge ihres Perso­nals und vieler Verbündeter zum Vorreiter einer „gerech­ten“ Lösung des Irakkonflikts erklärte und jene Achse zwischen Paris und Moskau ausrief, der schon bei der er­sten Pressekonferenz anzuse­hen war, dass sie eine zweite nicht erleben wird, sondern vor allem das durch und durch existentielle Verhältnis der Deutschen zum Krieg, das sich in der Vorstellung ei­nes Friedens äußerte, der um seiner selbst willen zu fordern war. Der Erfolg der Schröderschen Politik, die sich in dem weithin unerwarteten Sieg der Regierungskoalition bei den Bundestagswahlen niederschlug, gründete nicht zuletzt darin, dass auch im Kriegserlebnis 2003 alle nur denkbaren Wünsche und Vi­sionen Ausdruck fanden, de­ren Erfüllung ernstzuneh­mender Weise weder von ei­nem Krieg noch von der Ab­wendung desselben im Irak zu erwarten war. Vom CSU-Politiker Peter Gauweiler zur DKP, von den deutschen Heilpraktikern e.V. zu Horst Mahler wurde im Irakkrieg ein Konflikt gesehen, bei dem es um christliche Werte, kul­turellen Dialog, weltweite Gerechtigkeit, nationale Selbstbestimmung, soziale Umverteilung, Multi- versus Unilateralismus, die Völker­gemeinschaft und die globale Weltordnung ging. Nichts beschäftigte die Friedensbe­wegung zugleich derart, wie der faktenreich geführte Nachweis des Nahe­liegendsten: dass Krieg In­teressen folgt. Kein Vorwurf gegen die USA und ihren „War on Terror“ ist so ende­misch und zugleich überflüs­sig, wie der, nicht die Sorge um das Wohlbefinden der Afghanen und Irakis moti­viere ihr Handeln, sondern ureigenes Interesse. Dass dies nicht anders als rein ökono­misch begründet sein kann, markiert den entscheidenden Unterschied zum Sendungsbewusstsein der unter dem Banner der menschen­rechtsorientierten Außenpo­litik angetretenen deutschen Bundesregierung. Ölpipelines wurden bereits um halbe Kontinente verlegt, um das amerikanische Interesse am Kosovo zu beweisen, im Irak, wo der Rohstoff direkt unter der Erde liegt, schien jede weitere Erklärung überflüs­sig. Der Öldurst der Super­macht fällt zusammen mit dem Wunsch die „Weltherr­schaft“ zu erreichen oder doch mindestens „die Neu­aufteilung der Welt“. [16] Der Rohstoff Öl lieferte einen ver­dinglichten Grund für alle empfundenen Zumutungen und abstrakt formulierten Drohungen durch die „Globalisierung“ und den Welt­markt. Das naheliegende wird seitdem zum Skandal: Nicht der drohende Krieg selbst, sondern die Tatsache, dass die USA und ihr engster Alliierter Großbritannien ihn erklärtermaßen führten, um klar umrissene politische Zie­le zu erreichen, wobei die Ka­tegorie des Eigeninteresses immer im Vordergrund stand. „Wir versuchen kei­neswegs im Irak eine libera­le westliche Demokratie zu installieren, weil wir evange­listische liberale Demokraten sind“, erklärte Steven den Beste im Wall Street Journal vom 24.7.2003 die amerika­nische Politik. „Wir wollen den Irak aus reinem Eigenin­teresse reformieren. Wir müs­sen Reformen in der arabischen und muslimischen Welt fördern, weil dies lang­fristig die einzige Möglichkeit ist, sie davon abzuhalten, uns zu töten.“ Selbst wenn eini­ge der berüchtigten Neokon­servativen weniger pragma­tisch den „War on Terror“ als amerikanische Mission legi­timierten, dem Nahen Osten Freiheit, Demokratie und Marktwirtschaft zu bringen, so überwog in den USA doch jener Pragmatismus, der die „Eigeninteressen“ nie aus den Augen verliert. Ist es doch die Möglichkeit der Durchsetzung eigener Inter­essen der Individuen als Un­ternehmer auf dem Markt, die von den NeoCons in klas­sisch liberaler Tradition als Voraussetzung der Freiheit aller definiert wird.

Es ist kein Zufall, sondern paradigmatisch für die deut­sche Geschichte, dass sich das Ressentiment hierzulan­de am leichtesten gegen die Kategorie des angloamerikanischen Interesses mobilisie­ren lässt, und dementspre­chend ein instrumentelles Verhältnis zu Krieg und Frie­den auf Unverständnis stößt. Nur unter diesem Aspekt ist auch zu verstehen, was vor­dergründig als Widerspruch erscheint: Dass die selbe Re­gierungskoalition, die am Luftkrieg gegen Jugoslawien beteiligt war, um die Kosovo-Albaner vor angeblichen KZ zu retten, angesichts eines Staates, der ungleich viel grausamer gegen seine Bür­ger vorgeht, nunmehr mit der selben Verve für eine Appeasementpolitik eintrat. In beiden Fällen zählte, dass nicht vordergründiges Inter­esse, sondern eine überge­ordnete Mission die Politik motivierte. Eine Mission, die heute, wie schon in der Ge­schichte, undeutlich bleibt und sich praktisch weitge­hend in der heroischen Ge­ste erschöpft, notfalls auch einen hohen Verlust in Kauf zu nehmen, um der Sache treu zu bleiben. Dabei hat die Bundesregierung wie damals vollständig verkannt, dass sie — wiewohl angetreten, die Welt zu erlösen — nicht für die Welt sprechen können und nicht einmal für Europa. Das „alte Europa“, das als Gegenmodell zum Amerika­nismus aufgestellt wurde, be­stand letzdich aus nicht mehr als Deutschland, Österreich und Frankreich, während die Mehrzahl der europäischen Staaten den Irakkrieg entwe­der unterstützten oder sich zumindest neutral verhielten. Tatsächlich wurde im Zuge der Auseinandersetzung zwi­schen dem „alten Europa“ und den USA die Frage nach den Zielen deutscher Irakpolitik völlig sekundär. Was aber die deutsche Bundesre­gierung bezwecken wollte, welche konkrete Lösung sie alternativ zu dem von den USA favorisierten Sturz Sad­dam Husseins durch mi­litärische Mittel anzubieten hatte, blieb vollkommen un­klar, sieht man einmal ab von Zielen, die — ähnlich wie einst — derart allgemein blieben, dass sie als erreichbare Poli­tikziele ausscheiden. Mehr noch hatte man es im Falle des baathistischen Irak mit einem Staat zu tun, der sich weniger als die meisten an­deren zur Zeit eignete, prak­tische Instrumente zur Durchsetzung der überge­ordneten Ziele (Frieden, Ge­rechtigkeit, Entwicklung und Dialog) zu entwickeln. Damit hängt auch das Versagen der Spezialisten zusammen, wie beispielsweise die Planungs­stäbe des Auswärtigen Am­tes, die bis zuletzt daran glaubten, einen Krieg ver­hindern zu können, zugleich aber weder darlegen konn­ten, was dann zu geschehen habe, noch offensichtlich ei­nen Alternativplan entwickelt hatten, wie zu reagieren sei, sollte die deutsche Position sich nicht durchsetzen. So undeutlich wie die selbst ge­steckten Ziele blieben konse­quenterweise auch die Hor­rorszenarien, die einen „Flächenbrand“ in der Regi­on des Nahen Ostens für die Zukunft prognostizierten, das „Ende der multipolaren Weltpolitik“, den Beginn ei­ner Welt, die nach dem Recht des Stärkeren funktioniert etc., oder aber sich in Super­lativen überschlugen, was die zu erwartenden Opferzahlen anbetraf. Dabei kann auch der deutschen Administrati­on kaum entgangen sein, dass die Planungen der Koalitionstruppen eben nicht dar­auf abzielten, den Irak in Schutt und Asche zu legen.
Die deutsche Haltung im Irakkrieg folgte so wenig ei­nem rationalen Kalkül wie das „Augusterlebnis 1914“, weder ökonomisch noch ge­ostrategisch versprach die Außenpolitik der Bundsre­gierung praktischen Gewinn. Gegen die moralische Massenmobilisierung der „Welt­friedensmacht Deutschland“ zeigte sich jedes rationale Ar­gument machtlos. Spätestens im Mai 2002 hätte die Bun­desregierung wissen müssen, dass die USA es mit ihren Kriegsvorbereitungen ernst meinen und keineswegs ge­dachten sich von einem Sturz Saddam Husseins abhalten zu lassen. Seitdem werden deutsche Konservative nicht müde, den Trümmerhaufen zu beweinen, den die rot-grü­ne Regierung außenpolitisch hinterlassen hat.
Will man die Frage be­antworten, warum die Bun­desregierung sich genau so verhalten hat, wo doch nach dem Prinzip zweckrationalen Handelns alles dagegen sprach, so wird man eine Art Psychopathologie des Frie­dens formulieren müssen. Die Suche nach einem ratio­nalen Kalkül hingegen führt in die Sackgasse linker Metaphysik. Wer ernsthaft glaubt, die deutsche Regierung habe die USA kühl kalkuliert in ei­nen aussichtslosen Krieg ge­trieben, um nach der abseh­baren Niederlage der Koali­tionstruppen als lachender Gewinner dazustehen, der verkennt nicht nur die Ge­staltungsmacht und -fähigkeit der Bundesregierung, son­dern verliert auch aus dem Blick, dass es sich bei dem deutschen Friedensfrühling 2003 um ein Massenphäno­men handelte, das auch die Regierenden offenbar nicht unberührt ließ. Die offen­sichtlichste Qualität der Mas­senaufläufe des vergangenen Jahres bestand, wie dies bei Großveranstaltungen dieser Art häufig der Fall ist, darin, für kurze Zeit die realen Ver­hältnisse auf den Kopf zu stellen und den Wahn Wirk­lichkeit werden zu lassen.

Deutscher Pazifismus: Nazis für den Frieden

Deutscher Pazifismus: Nazis für den Frieden

Dass aus Deutschland der Friedenswille „der Welt“ ge­gen das kalte Kalkül weniger Kriegswilliger spricht, dies zumindest wurde zur sinnli­chen Erfahrung der Demonstranten bei Aufmärschen mit mehreren hunderttausend Teilnehmern. Sinnbildlich für diese Verschiebung von Rea­lität steht das Bild eines jun­gen Mädchens, das auf der zentralen Großdemonstrati­on in Berlin das Buch Stupid White Men von Michael Moore mit hochgerecktem Arm vor sich herträgt, wie einst ihre Elterngeneration die Mao-Bibel — ganz so, als müsse sie die „Wahrheiten“ dieses Buches den Massen erst nahe bringen, als wäre das Buch nicht seit andert­halb Jahren ein Bestseller in Deutschland. So forderte die Friedensbewegung von der Regierung in Berlin, sich an einem Krieg nicht zu beteili­gen, den doch die Bundesregierung selbst vehement ablehnte.

Mehr noch als im Falle des Kosovo-Krieges wurde mit dem Irakkrieg offen­sichtlich, dass die Bundesre­gierung in ihren Entschei­dungen eben nicht allein dem Diktat der Profitmaximie­rung folgt. Weder im Kosovo noch mit Saddam Hussein verbanden die Deutschen ein erklärbares ökonomisches Ziel. Anders als Frankreich und Russland hatte die deut­sche Wirtschaft im Irak nichts zu verlieren, was nicht bereits verloren war oder aber durch Kontrakte mit ei­ner neuen irakischen Regie­rung schnell wieder hätte wettgemacht werden können. Zwar ist richtig, dass die deutsche Industrie durch ihren Interessenverband BdI in den vergangenen Jahren wieder rege Kontakte zum Regime Saddam Husseins ge­pflegt und sich für eine Auf­hebung der Sanktionen ge­gen das Zweistromland stark gemacht hat. Mit dem abseh­baren Sturz der Husseinregierung aber sucht auch die deutsche Industrie Anschluss an die neue Regierung des Landes. Längst sind Klagen laut geworden, dass deutsche Unternehmen aus dem Wie­deraufbau des Landes weit­gehend ausgeschlossen seien und bestenfalls die Rolle von Subunternehmern überneh­men können. Für die deutsche Wirtschaft hat sich der Irak als ein gigantisches Ver­lustgeschäft entpuppt. Bereits 1990 wurden die wirtschaft­lichen Verbindungen zum irakischen Baathregime auf­grund der politischen Ent­scheidung der seinerzeitigen Kohlregierung eingefroren. Damals allerdings konnte die Wirtschaft darauf hoffen, das Geschäft nur vorübergehend eingestellt zu haben, während die politische Entscheidung, dies zu tun, der Rationalität folgte, das Bündnis mit den Vereinigten Staaten aufrecht zu erhalten, das — auch wirt­schaftlich — schwerer wog, als die Belieferung eines Staates, der die Grenzen seiner Kre­ditwürdigkeit bereits vor Jah­ren überschritten hatte. Die deutsche Haltung 2003 hin­gegen wählte nicht das klei­nere Übel, sondern forderte die Bereitschaft, für die Durchsetzung einer politi­schen Entscheidung jeden denkbaren Verlust hinzuneh­men.

„Eine Nation wird geboren“

Damit ist ein weiteres zen­trales Motiv der Psychopa­thologie des Friedens bereits benannt: Die unheimliche In­teresselosigkeit, die Deutsch­land im vergangenen Jahr re­präsentierte und die es zur Führungsnation gegen den US-Imperialismus prädestinierte. Es war keineswegs nur Ressentiment gegen die USA und Israel, welche die Men­schen hinter Deutschland vereinigte, es waren ebenso die großen, selbstlosen Ge­fühle, die der „deutsche Weg“, wenn auch nur kurz­fristig, versprach. Am besten wohl traf die linksliberale Frankfurter Rundschau die Stimmung, als sie eine drei­teilige Serie unter dem Titel „Eine Nation wird geboren“ drucken ließ. Drei promi­nente Sozialdemokraten sa­hen in den Friedensdemons­trationen ein „erstes Lebens­zeichen“ einer europäischen „Nation im Werden“, die in Zukunft eine „Weltfriedens­politik“ gegen die USA wer­de durchzusetzen versuchen. Stephan Schlak, Mitheraus­geber von Ästhetik und Kom­munikation, freut sich ein halbes Jahr nach Kriegsende noch immer, dass damals Jür­gen Habermas „seine intel­lektuellen Truppen (...) in die Schlacht gegen den krie­gerischen amerikanischen Re­vanchismus führte“ und da­bei „forsch auf die ‚Straße‘ (zurück)griff und sich zur neuen ‚Macht der Gefühle‘“ bekannte. [17] Im Februar ging es also erneut um nichts we­niger als sich von großen Ge­fühlen übermächtigen zu las­sen in einer Schlacht für Frie­den und „globale Gerechtig­keit“ gegen Eigennutz, Hun­ger, Ausbeutung und für die Lösung der „entscheidenden Zukunftsfragen der Mensch­heit“. [18]

Immer aber wenn die Deutschen ein kollektives Er­lebnis haben, stoßen sie auf jene „Nibelungen“, die am Ende im Untergang aller münden. Als Berlin sich schon einmal in „Etzels Schloss“ verwandelte, stellte Klaus Mann in der amerika­nischen Armeezeitung Stars and Stripes 1944 fest, dass es in der Nibelungensage um keinen Sieg, „nicht einmal ein heroisches Opfer um einer edlen Sache willen (ging): es ging um den Tod als solchen und als alleiniges Ziel.“ [19] Die Händlernation oder der in­nere Feind steckt, nachdem Etzels Schloss 1945 in Berlin unterging, den Deutschen weit stärker in ihrer Seele als zuvor. Ihren nationalen In­teressen dienten sie vergan­genes Jahr keineswegs. Es war ein weiteres Aufbäumen der Gefühle und des Tragi­schen, das sie auf die Straßen und in die Funda­mentalopposition gegen die USA trieb. Es endete aller­dings nicht als blutiges Welt­spektakel, sondern als Klein­kunst. Reinhard May ist si­cher nur ein müder Wagner-Ersatz. Das aber heißt nicht, dass sie es zur nächsten sich bietenden Gelegenheit nicht wieder versuchen werden.

[1zit. nach Herfried Münkler/Wilfried Storch: SiegFrieden. Po­litik mit einem deutschen Mythos. Frankfurt a. M. 1988, S. 78

[2Adolf Hitler: Mein Kampf. München 1933, S. 173

[3Peter Englund: Menschheit am Nullpunkt. Aus dem Abgrund des 20. Jahrhunderts. Stuttgart 2001, S. 21

[4zit. nach Detlef Bald: Zum Kriegsbild der militärischen Führung im Kaiserreich. In: Jost Dülffer/Karl Holl: Bereit zum Krieg. Kriegsmentalität im wilhelminischen Deutsch­land. Göttingen 1986, S. 150

[5zit. nach Modris Eksteins: Tanz über Gräbern. Die Geburt
der Moderne und der Erste Weltkrieg. Reinbek bei Ham­burg 1990, S. 148

[6zit. nach Joachim C. Fest: Hitler. Frankfurt a. M. - Berlin
1992, S. 106

[7ebd, S. 99

[8Imanuel Geis: Das Deutsche Reich und der Erste Weltkrieg.
München 1978, S. 86

[9ebd., S. 79

[10Eksteins, a. a. O., S. 142 f.

[11zit. nach ebd., S. 147

[12zit. nach: Winfried Baumgart (Hg.): Die Julikrise und der Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Darmstadt 1983, S. 193

[13zit. nach Fest, a. a. O., S. 113

[14Werner Somhart: Händler und Helden. Patriotische Besin­nungen. München — Leipzig 1915, S. 91

[15Ludwig Ferdinand Claus: Semiten der Wüste unter sich. Miterlebnisse eines Rassenforschers. Berlin 1937, S. 57

[16Beschluss zur Friedenspolitik des ver.di-Kongresses 2003, http://www.frieden-und-zukunft. de/netzwerk/verdi/Beschluss-Bundeskongress-10-2003.htm

[17Stephan Schlak: Hans-Ulrich Wehler und das verlorene Carisma. In: Ästhetik & Kommunikation: Geschichtsgefühl, Winter 2003, S. 31

[18Beschluss des ver.di-Kongresses 2003, a. a. O.

[19Klaus Mann: Uber den Rhein zur Walhalla. In: Ders.: Auf verlorenem Posten. Aufsätze, Reden, Kritiken 1942-1949. Reinbek bei Hamburg 1994, S. 203

Eine Nachricht, ein Kommentar?
Vorgeschaltete Moderation

Dieses Forum ist moderiert. Ihr Beitrag erscheint erst nach Freischaltung durch einen Administrator der Website.

Wer sind Sie?
Ihr Beitrag

Um einen Absatz einzufügen, lassen Sie einfach eine Zeile frei.

Hyperlink

(Wenn sich Ihr Beitrag auf einen Artikel im Internet oder auf eine Seite mit Zusatzinformationen bezieht, geben Sie hier bitte den Titel der Seite und ihre Adresse bzw. URL an.)