FORVM, No. 13
Januar
1955

Rashomon

Die Original-Geschichte des japanischen Meisterfilms

Der japanische Spielfilm „Rashomon“ wurde bereits 1951 auf der Biennale in Venedig mit dem Grand Prix ausgezeichnet und hat seither überall, wo er gezeigt wurde, Preise und Ehren eingeheimst. Jetzt, mit der üblichen Verspätung, kommt er endlich nach Wien — die „Sascha“ bringt ihn anfangs Februar ins Künstlerhaus. Wir veröffentlichen nachstehend den deutschen Erstdruck der Kurzgeschichte, die dem Film zugrunde liegt. Die Übersetzung stammt von Joseph Kalmer (London).

Die Aussage eines Holzfällers

Jawohl Herr. Ja. Ich war es, der den Körper fand. Wie gewöhnlich ging ich heute früh meine Tagesleistung an Zederbäumen fällen, und da fand ich die Leiche. Die genaue Stelle? Etwa vierhundertfünfzig Schritte von der Jamaschina-Chaussee. Es ist ein abgelegener Hain — Bambus und Zedern. Der Körper lag flach auf dem Rücken, in einen blaßblauen seidenen Kimono gehüllt, mit einem zerknitterten Kopfputz, wie man ihn in Tokio trägt. Die Brust war von einem einzigen Schwerthieb zerrissen. Die Bambusblätter rundherum auf der Erde waren mit blutigen Blüten befleckt. Nein, das Blut floß nicht mehr. Die Wunde war schon verschorft, glaube ich, und eine Schmeißfliege hatte sich daran so festgesogen, daß sie’s kaum merkte, als ich herankam.

Ob ich ein Schwert oder ähnliches gesehen hätte?

Nein, nichts, Herr. Ich fand nur einen Strick, neben dem Stamm einer Zeder in der Nähe. Doch, außer dem Strick fand ich einen Kamm. Das war alles. Offenbar hatte er sich seiner Haut gewehrt, ehe er ermordet wurde; das Gras und die Bambusblätter auf dem Boden waren nämlich alle zertreten.

„War ein Pferd in der Nähe?“

Nein, Herr. Auch ein Mensch fände es schwer genug, in den Hain hineinzukommen; wie erst ein Pferd.

Die Aussage eines wandernden buddhistischen Priesters

Wann? Kein Zweifel, es war gestern um Mittag, Herr. Der unglückliche Mann war unterwegs von Jamaschina nach Sekijama, in Begleitung einer Frau zu Pferde, seiner Ehefrau, wie ich inzwischen erfahren habe. Der Schleier, den sie um den Kopf trug, verdeckte ihr Gesicht. Ich sah nur die Farbe ihres Gewandes: ein fliederfarbenes Kleid. Sie ritt einen Rotfuchs mit einer dichten Mähne. Die Größe der Frau? Oh, etwa vier Fuß fünf Zoll. Als Priester Buddhas schere ich mich um solche Einzelheiten recht wenig. Ja, der Mann war mit einem Schwert und auch mit Bogen und Pfeilen bewaffnet. Und ich erinnere mich, daß er ungefähr zwanzig Pfeile im Köcher hatte. Ich hätte kaum erwartet, daß er ein solches Ende nehmen werde. Wahrlich, das menschliche Leben ist vergänglich wie das Aufleuchten eines Blitzes. Meine Worte reichen nicht aus, mein Mitleid auszudrücken.

Die Aussage eines Häschers

Der Mann, den ich verhaftete? Es handelt sich um den berüchtigten Räuber Tadschomaru. Als ich ihn festnahm, war er von seinem Pferd gefallen. Er lag auf der Brücke in Awatagutschi und stöhnte. Wann sich das abspielte? Gestern, in den ersten Abendstunden. Hinzufügen möchte ich, daß ich schon unlängst versucht habe, ihn festzunehmen, aber unglücklicherweise entkam er. Er trug einen dunkelblauen Seidenkimono und ein großes einschneidiges Schwert. Und wie Sie sehen, hatte er sich irgendwo einen Bogen und Pfeile beigebogen. Sie meinen, der Bogen und die Pfeile sähen denen ähnlich, die dem toten Mann gehörten? Dann muß Tadschomaru der Mörder sein. Der Bogen mit Lederstreifen umwunden, der Köcher schwarz lackiert, die siebzehn Pfeile mit Falkenfedern — das alles war in seinem Besitz, denke ich. Ja, Herr, das Pferd ist, wie Sie sagen, ein Rotfuchs mit einer dichten Mähne. Ein Stückchen hinter der Steinernen Brücke fand ich das Pferd, an der Straße weidend; die langen Zügel baumelten herab. Sicherlich war es ein Werk der Vorsehung, daß ihn das Pferd abgeworfen hatte. Von allen Räubern, die die Umgebung von Kyoto unsicher machen, tat dieser Tadschomaru den Frauen das schlimmste Leid an. Wenn er diesen Mann ermordet hat, dann ist nicht auszudenken, was er mit der Frau des Mannes getan haben mag. Mögen Euer Gnaden auch dies untersuchen.

Die Aussage einer alten Frau

Ja, Herr, es ist die Leiche des Mannes, der meine Tochter ehelichte. Er stanımt nicht aus Kyoto. Er war Samurai in Kokufu im Kreis der Stadt Wakasa. Sein Name war Kanasawa no Takehiko und er war sechsundzwanzig Jahre alt. Er war von sanftem Charakter und hat wohl niemals etwas getan, um andere zu reizen. Meine Tochter heißt Masago und ist neunzehn Jahre alt. Sie ist ein lebhaftes, der Unterhaltung nicht abgeneigtes Geschöpf; aber ich bin sicher, daß sie außer Takehiko niemals einen anderen Mann gekannt hat. Sie hat ein kleines, ovales, dunkelhäutiges Gesicht mit einem Muttermal am linken Augenwinkel.

Gestern machte sich Takehiko mit meiner Tochter auf den Weg nach Wakasa. Welch ein Unglück, daß alles ein so trauriges Ende nehmen sollte! Was ist aus meiner Tochter geworden? Ich habe mich damit abgefunden, meinen Schwiegersohn als verloren aufgeben zu müssen, aber die Sorge um das Schicksal meiner Tochter macht mich krank. Ich hasse diesen Räuber Tadschomaru oder was immer sein Name sein mag. Nicht nur mein Schwiegersohn, auch meine Tochter ... (Ihre Worte ersticken in Tränen.)

Tadschomarus Geständnis

Ich tötete ihn, aber nicht sie. Wo sie hinging? Ich weiß es nicht. Keine Marter kann mich veranlassen, zu gestehen, was ich nicht weiß. Da alles nun so weit gekommen ist, werde ich nichts verheimlichen.

Ich begegnete dem Paar gestern kurz nach Mittag. Da gab es gerade einen Windstoß, der ihren herabhängenden Schleier hob, so daß ich ihr Gesicht erhaschte. Es war meinem Blick gleich wieder verborgen. Das mag ein Grund gewesen sein: sie sah aus wie ein Boddhisatva. In diesem Augenblick entschloß ich mich, sie zu gewinnen, auch wenn ich ihren Mann töten müßte. Für mich ist Töten keine Sache von großer Bedeutung. Nimmt man eine Frau gefangen, dann muß ihr Mann auf jeden Fall getötet werden. Zum Töten bediene ich mich des Schwertes, das ich an meiner Seite trage. Bin ich der einzige, der Menschen tötet? Sie freilich, Sie brauchen sich Ihres Schwertes nicht zu bedienen. Sie töten Menschen mit Ihrer Macht, Ihrem Gelde. Manchmal töten Sie sie unter dem Vorwand, es zu ihrem Wohle zu tun. Sie erfreuen sich der besten Gesundheit, und doch haben Sie sie getötet. Es ist schwer zu sagen, wer der größere Sünder ist, Sie oder ich. (Ein ironisches Lächeln.)

Aber es wäre schön, eine Frau gefangenzunehmen, ohne ihren Mann zu töten. So entschloß ich mich denn, sie gefangenzunehmen und mein Bestes zu tun, ihn nicht zu töten. Auf der Jamaschina-Chaussee wäre das unmöglich gewesen. Es gelang mir, das Paar in die Berge zu locken. Ich wurde ihr Reisegefährte und erzählte ihnen, daß es in den Bergen dort drüben einen alten Grabhügel gäbe und daß ich ihn geöffnet und darin viele Spiegel und Schwerter gefunden hätte. Ich erzählte ihnen, ich hätte die Dinge in einem Hain hinter dem Berg vergraben und würde sie billig verkaufen. Da sehen Sie es: ist Habsucht nicht furchtbar? Noch ehe er zu Ende gehört hatte, erregte ihn mein Bericht schon so, daß sie beide mir mit dem Pferde in die Berge folgten. Als wir zum Hain kamen, sagte ich ihnen, die Schätze seien darin vergraben, und forderte sie auf, sich zu überzeugen. Der Mann erhob keinen Einwand; er war von Habsucht verblendet. Die Frau sagte, sie würde auf dem Pferd warten; es sei das für sie Schickliche. Alles geschah, wie ich es wünschte. Ich ging mit ihm in den Hain und ließ sie allein zurück.

Am Rande besteht der Hain nur aus Bambus. Etwa hundertfünfzig Schritte weiter drinnen steht eine schüttere Gruppe von Zedern. Diesen Ort hatte ich zur Durchführung meines Planes ausersehen. Den Weg durch den Hain bahnend, erzählte ich ihm, daß die Schätze unter den Zedern vergraben seien. Nach einer Weile kamen wir zu der Stelle, wo die Zedern in einer Reihe wuchsen; da packte ich ihn von hinten. Als geübter, schwerttragender Krieger war er ziemlich stark, aber er war überrascht worden. Bald hatte ich ihn an die Wurzel einer Zeder gebunden. Wo ich den Strick hernahm? Ich habe, da ich doch ein Räuber bin, immer einen Strick bei mir, denn ich muß darauf gefaßt sein, im Überraschungsfall sofort über eine Mauer klettern zu können. Es war natürlich leicht, ihn am Rufen zu verhindern; ich stopfte ihm Bambusblätter in den Mund.

Als ich mit ihm fertig geworden war, ging ich zu seiner Frau und bat sie, zu ihm zu kommen, es scheine ihm übel geworden zu sein. Auch jetzt ging alles wie am Schnürchen. Ich führte die Frau, die den Schleier abgelegt hatte, an der Hand ins Innere des Haines. Im Augenblick, als sie ihren Gatten erblickte, zog sie einen Dolch. Ich habe niemals eine Frau von so heftigem Charakter gesehen. Wäre ich nicht auf der Hut gewesen, ich hätte einen Stich in die Seite abbekommen. Ich wich aus, aber sie fuhr fort, auf mich loszustechen. Sie hätte mich töten können. Aber ich wäre nicht Tadschomaru, wenn es mir nicht gelungen wäre, ihr den Dolch aus der Hand zu schlagen. Und ohne Waffe ist auch die mutigste Frau wehrlos. Endlich konnte ich meine Begierde nach ihr befriedigen, ohne ihrem Mann das Leben zu nehmen. Denn ich wollte ihn nicht töten.

Gerade als ich aus dem Hain lief, die Frau in Tränen zurücklassend, klammerte sie sich verzweifelt an meinen Arm. Stammelnd verlangte sie, daß entweder ihr Mann oder ich sterbe. Es wäre schlimmer als der Tod, sagte sie, daß zwei Männer um ihre Schande wüßten. Sie keuchte heraus, sie wolle die Frau desjenigen sein, der überlebe. Und da erst erfaßte mich das Verlangen, ihn zu töten. Sie hätten das Gesicht dieser Frau sehen müssen. Besonders ihre brennenden Augen. Als ich ihr so nahe gegenüberstand, wollte ich sie zu meiner Frau machen. Dieser einzige Wunsch erfüllte mich. Es war nicht nur Begierde, wie Sie glauben mögen. Sonst hätte ich mein Schwert nicht mit seinen Blute besudelt.

Ich band ihn los und forderte ihn heraus, die Klinge mit mir zu kreuzen. Der Strick, der am Fuße der Zeder gefunden wurde, ist der, den ich dort fallen ließ. Er zog sein Breitschwert, und schnell wie ein Gedanke sprang er auf mich los, ohne auch nur ein Wort zu sprechen. Sie wissen, wie unser Kampf ausgegangen ist. Beim dreiundzwanzigsten Streich war es zu Ende. Bitte, merken Sie sich das. Ich stehe noch immer unter dem Eindruck dieser Tatsache. Kein Mensch hat mit mir jemals mehr als zwanzigmal die Klinge gekreuzt. (Ein vergnügtes Lächeln.)

Als er fiel, senkte ich die blutige Klinge und wandte mich nach der Frau um. Zu meiner größten Überraschung war sie verschwunden. Ich suchte sie zwischen den Zedern. Ich horchte, hörte aber nur einen röchelnden Laut aus der Kehle des sterbenden Mannes. Dann fiel mir ein, daß sie vielleicht gleich nach Beginn unseres Kampfes davongelaufen sei, um Hilfe herbeizuholen. Da sah ich, daß es für mich um Tod oder Leben ging. Ich nahm sein Schwert, Bogen und Pfeile an mich und lief auf die Bergstraße hinaus. Dort fand ich ihr Pferd noch immer friedlich grasend.

Das ist alles, was ich zu gestehen habe. Ich weiß, daß mein Kopf auf jeden Fall verloren ist.

Das Geständnis der Frau im Schimisutempel

Nachdem er mich gezwungen hatte, ihm zu Willen zu sein, lachte der Mann im blauen Seidenkimono spöttisch auf, als sein Blick auf meinen gefesselten Gatten fiel. Wie entsetzt mein Gatte gewesen sein muß! Aber je heftiger er sich wand und wehrte, der Strick schnitt nur um so tiefer ein. Gegen meine Absicht stolperte ich zu ihm hin, oder vielmehr, ich versuchte zu ihm zu laufen; aber der Räuber schlug mich sofort nieder. In dieser Sekunde sah ich in den Augen meines Gatten ein unbeschreibliches Leuchten, etwas Unsagbars — mich schaudert’s noch jetzt. Es öffnete mir sein ganzes Herz, dieses Aufblitzen seiner Augen, das weder Zorn noch Kummer bedeutete — nur ein kaltes Licht des Abscheus. Es traf mich härter als der Schlag des Räubers. Ich schrie auf und fiel ohnmächtig hin.

Nach einiger Zeit erlangte ich das Bewußtsein wieder und sah, daß der Mann im blauen Seidenkimono sich davongemacht hatte. Nur mein Gatte, noch immer an den Stamm der Zeder gebunden, war da. Ich erhob mich schwerfällig von den Bambusblättern und blickte ihm ins Gesicht. Der Ausdruck seiner Augen war wie zuvor: kalte Verachtung und Haß. Was ich selbst empfand — ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Schande, Trauer und Wut. Ich taumelte zu meinem Gatten hin.

„Takedschiro“, sagte ich, ‚‚da alles so gekommen ist, kann ich mit dir nicht leben. Ich bin entschlossen, zu sterben, aber auch du mußt sterben. Du weißt um meine Schande. Mit diesem Wissen kann ich dich nicht am Leben lassen.“ Er hörte nicht auf, mich mit Haß und Verachtung anzusehen. Mein Herz brach dabei. Ich suchte nach seinem Schwert. Aber der Räuber mußte es gestohlen haben. Weder das Schwert noch der Bogen und die Pfeile waren zu finden. Glücklicherweise lag mein Dolch zu meinen Füßen. Ich schwang ihn über dem Kopf und sagte noch einmal: „Gib mir jetzt dein Leben. Ich folge dir sofort.“ Als er diese Worte hörte, bemühte er sich, die Lippen zu bewegen; doch konnte ich, da sein Mund mit Blättern verstopft war, seine Stimme nicht hören. Aber nach einem einzigen Blick auf ihn begriff ich, was er sagen wollte. Mit nichts als Verachtung für mich sagte sein Blick: ‚,Töte mich!“

Ich stach ihm den Dolch durch den fliederfarbenen Kimono in die Brust.

Dann muß ich wieder in Ohnmacht gefallen sein. Als ich wieder aufzublicken imstande war, hatte er schon seinen letzten Atemzug getan — noch immer gefesselt. Die Strahlen der untergehenden Sonne strömten durch die Zedern und Bambusstauden und beschienen sein fahles Gesicht. Mein Schluchzen unterdrückend, löste ich den Strick von seinem toten Körper. Was mit mir seither geschah, weiß ich kaum. Jedenfalls brachte ich die Kraft zu sterben nicht auf. Ich stach mich mit dem Dolch in den Hals, ich warf mich in einen Teich am Fuße des Berges und versuchte auf viele andere Arten, mich zu töten. Unfähig, mein Leben zu beenden, lebe ich in Schande weiter. Ich Unwürdige muß auch von der barmherzigen Göttin der Gnade verlassen worden sein. Ich tötete meinen Gatten. Ich wurde von dem Räuber geschändet. Was kann ich denn tun? Was kann ich ... ich ... (Ihre Stimme geht allmählich in heftiges Schluchzen über.)

Die Geschichte des Ermordeten, durch ein Medium erzählt

Nachdem er meine Frau geschändet hatte, setzte sich der Räuber neben sie und begann mit Trostworten auf sie einzureden. Ich selbst konnte nicht sprechen. Mein Körper war fest an den Stamm der Zeder gebunden, doch zwinkerte ich ihr wiederholt zu, um ihr begreiflich zu machen, daß sie dem Räuber nicht glauben solle. Meine Frau aber saß niedergeschlagen auf den Bambusblättern und starrte in ihren Schoß. Offensichtlich lauschte sie seinen Worten. Während ich mich vor Eifersucht verzehrte, fuhr der Räuber in seiner gewandten Rede fort und sprach von diesem und jenem. Schließlich machte er seinen kühnen, unverschämten Vorschlag. „Da deine Ehre nun einmal besudelt ist, wirst du dich mit deinem Gatten nicht vertragen; möchtest du also nicht statt dessen meine Frau sein? Ich habe dir ja nur aus Liebe Gewalt angetan.“

Meine Frau hob den Kopf wie in einem Dämmerzustand. Sie hatte noch nie so schön ausgesehen. Und was für eine Antwort gab ihm meine schöne Frau? Ich, der ich jetzt verloren im Weltall umherirre, werde bei der Erinnerung an ihre Antwort von Wut und Eifersucht überkommen. Wahrhaftig, sie sagte: „Dann nimm mich fort von hier, wohin immer du auch gehst.“

Das ist aber nicht ihre ganze Sünde. Wäre das alles, ich fühlte im Dunkel hier keine solchen Qualen. Als sie wie in einem Traum den Hain verließ, ihre Hand in der Hand des Räubers, erbleichte sie plötzlich und sagte, auf mich weisend: „Töte ihn! Ich kann, solange er lebt, nicht deine Frau werden! Töte ihn!“ Sie rief es viele Male, als hätte sie den Verstand verloren. Auch jetzt noch drohen diese Worte, mich kopfüber in den bodenlosen Abgrund der Finsternis zu fegen. Sind so hassenswerte Worte je zuvor aus einem Menschenmund gekommen? „Töte ihn!“ rief sie und klammerte sich an den Arm des Räubers. Er warf ihr nur einen unbarmherzigen Blick zu, sagte weder ja noch nein und schlug sie nieder, daß sie in die Bambusblätter fiel. Dann verschränkte er die Arme, schaute mich an und fragte: „Was hast du mit ihr vor? Wirst du sie töten oder wirst du sie am Leben lassen? Du hast nur zu nicken. Sie töten?“ Nur dieser Worte wegen möchte ich ihm sein Verbrechen verzeihen.

Während ich noch zögerte, lief sie kreischend in den Hain hinein. Der Räuber griff sofort nach ihr, doch konnte er nicht einmal ihren Ärmel erhaschen. Nachdem sie davongelaufen war, nahm er mein Schwert, den Bogen und die Pfeile an sich. Mit einem einzigen Hieb zerschnitt er eine meiner Fesseln. Ich erinnere mich, daß er vor sich hinmurmelte: „Nun bin ich an der Reihe.“ Damit verschwand er aus dem Hain und dann war alles still.

Nein, ich hörte jemanden weinen. Und während ich die übrigen Fesseln löste, lauschte ich aufmerksam und merkte, daß ich selbst es war, der da weinte. (Langes Schweigen.) Ich richtete meinen erschöpften Körper auf. Vor mir lag blinkend der Dolch, den meine Frau hatte fallen lassen. Ich hob ihn auf und stach ihn mir in die Brust. Ein Klumpen Blut ballte sich in meinem Mund zusammen, doch fühlte ich keinen Schmerz. Als meine Brust erkaltete, war alles still. Welche Stille! Kein einziger Vogellaut war am Himmel über diesem Grab im Bergkessel zu hören. Nur ein einsamer Lichtstrahl zauderte auf den Zedern und auf dem Berg. Nach und nach wurde das Licht schwächer. Zedern und Bambus wurden unsichtbar. Wie ich so dalag, war ich von vollkommener Stille umgeben.

Dann kam jemand zu mir gekrochen. Ich bemühte mich zu sehen, wer es war, aber schon hatte sich die Dunkelheit auf mich herabgesenkt. Jemand ... dieser Jemand zog den Dolch mit unsichtbarer Hand sanft aus meiner Brust heraus. Wieder stieg mir Blut in den Mund. Und ein für allemal versank ich in die Finsternis des Raumes.

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