Streifzüge, Heft 45
März
2009

Rebellen gegen die Zukunft

Für eine Kritik der industriellen Vernunft

Das Buch von Kirkpatric Sale über die Bewegung der Ludditen (Rebels Against the Future. The Luddites and Their War on the Industrial Revolution,1996) bietet eine gute Gelegenheit, über Themen nachzudenken, die gerade heute auf der Tagesordnung stehen: die Arbeit, das Industriesystem und unsere Beziehung zur Technologie beispielsweise.

Der Text ist auch insofern brennend aktuell, als hinter dem Vorhaben, die sich in Zentralengland um 1800 entwickelnde Bewegung der Ludditen nicht in der üblichen Banalität aufzufassen, der Anspruch steht, eine radikale Kritik des kapitalistischen Industriesystems wiederaufzunehmen, die heute dringender und wichtiger denn je ist.

Entstanden in den Anfängen der und in Gegnerschaft zur ersten industriellen Revolution verbreitete sich die Ludditenbewegung zunächst in Nottinghamshire, dem Land der Sage von Robin Hood (auch Ned Ludd selbst, die Leitfigur der Bewegung, war kaum mehr als eine Legende), und griff bald auf die benachbarten Grafschaften im Herzen des alten Britannien über. Diese traditionsreiche Region mit ihren sehr alten und kohärenten Gemeinschaften hat als erste die zerstörerische Wirkung der kapitalistischen Modernisierung zu spüren bekommen. Die auf dem Weberhandwerk beruhende Wirtschaft wurde in wenigen Jahren umgewälzt. Mechanische Webstühle nahmen den Betrieb auf, die Prototypen jener technologisch fortgeschrittenen Industrie, die nur zu bald in der ganzen Welt auf tragische Weise bekannt werden sollte.

Die Konsequenzen dieses schnellen und gewaltsam erzwungenen Wandels waren für die lokale Bevölkerung dramatisch und können als Paradigma für die Erfahrungen genommen werden, die nach den Engländern weltweit Menschen als kapitalistische Modernisierung leidvoll betroffen haben:

  • Arbeitslosigkeit und wachsende wie dauerhafte materielle und moralische Verelendung,
  • Traditionsbruch mit dem Ende der herkömmlichen sozialen Sicherheiten,
  • exponentielles Bevölkerungswachstum,
  • schwerwiegende Umweltzerstörung,
  • Landflucht in unlebbare Städte,
  • intensive Ausbeutung der neuen „hands“, vor allem der Frauen und Kinder.

Um sich eine Vorstellung von den Auswirkungen der industriellen Mechanisierung der Arbeit zu machen, braucht man nur daran denken, dass binnen eines Jahrzehnts die frühere Leistung von 200 Arbeitern von einem einzelnen Menschen erbracht wurde.

Das alles führte zum Aufstand der Ludditen, der jedoch bald in Blut erstickt wurde – vom englischen Staat, der sich stets durch seinen Eifer auszeichnete, den industriellen Kapitalismus und seine Propheten zu schützen. Zum Beweis, wie sehr der Luddismus die entstehende Unternehmerklasse geängstigt hatte, wurde ihm nach seiner Niederwerfung eine Spezialbehandlung zuteil. Nicht nur die Bewegung sollte besiegt werden, sondern auch noch ihr Andenken – indem ihre Taten lächerlich gemacht und ihre Bedeutung heruntergespielt wurde.

Dazu musste, wie man heute sagen würde, wirksame „Medienarbeit“ geleistet werden: Ein Propagandaapparat setzte sich also in Bewegung mit ausgesuchten Informationsexperten und Medienprofis, alle vereint in dem heißen Bemühen, ein despektierliches und entstelltes Bild des Luddismus zu schaffen. Auch die klassische Linke, durchaus die progressive, tat mit und trug vor allem unter der Industriearbeiterschaft entscheidend zur Verbreitung der Vorstellung bei, dass die Ludditenbewegung nichts als eine engstirnige, rückständige Gruppe verzweifelter „Maschinenstürmer“ gewesen ist, Leute, die unfähig waren, das Positive am Neuen zu erkennen und die Veränderungen gutzuheißen, die dieser Fortschritt für alle früher oder später notwendigerweise in der Form von wachsendem Wohlstand bringen würde.
Kritik noch aktuell

Dieses Bild der Ludditen als einer Bewegung von der Vergangenheit verhafteten Obskuranten, die überwunden werden musste, ist bis in unsere Tage wirksam geblieben. Allerdings nicht in dem Ausmaß, wie es sich die siegreichen Kapitalisten jener Epoche wohl gewünscht haben. Nach Kirkpatric hat der Luddismus nämlich unter den Leuten bis heute immer wieder Interesse, Attraktivität, ja Faszination erregt, was klar macht, wie sehr die Kritik dieser ersten „Rebellen gegen die Zukunft“ zugetroffen hat.

Welches sind nun die Punkte, die diese Kritik immer noch aktuell machen?

  • Kritik des Begriffs Fortschritt: Zunächst gewissermaßen instinktiv, doch dann zunehmend elaboriert bestritten die Ludditen die Berechtigung des Begriffs von einem abstrakten „Fortschritt“, dem sich alle beugen und ihre Existenz und ihr Land opfern müssten.
  • Kritik der abstrakten Arbeit und des Systems der Lohnarbeit: Sie widersetzten sich leidenschaftlich einem Arbeitsregime, das von Rhythmen und Erfordernissen reguliert wurde, die den ihnen vertrauten entgegengesetzt waren, welche noch auf einem nicht objektivierenden Naturverhältnis beruhten, das wir heute als „nachhaltig“ bezeichnen würden, und auf einer „Conviviality“, in der die Arbeit und die ihr gewidmete Zeit zwar angemessene Bedeutung hatten, aber nicht im Leben des Individuums wie auch in dem der Gemeinschaft absolut vorherrschten.
  • Kritik der Privatisierung der Natur: Die Ludditen übten diese in voller Schärfe, angefangen von den berüchtigten enclosures (Einhegungen), die der Commune das Recht zum gemeinschaftlichen Gebrauch der Naturgüter nahmen. Die enclosures waren der entscheidende Übergang nicht nur zur raschen Verelendung der Bevölkerung, sondern auch zur Etablierung jener Aneignung und Privatisierung der Natur, ohne die der Kapitalismus nie hätte entstehen können.

Diesen Kritikpunkten könnten wir noch weitere hinzufügen: die Entfremdung der Individuen, die mit der industriellen Revolution und Gleichschaltung völlig ihre Identität verloren; den im kapitalistischen Sinn verstandenen Reichtum, der sich stark von dem bis dahin noch bekannten unterschied, der sich nicht einfach in Geld, sondern in menschlichen Beziehungen bemaß; die Beschleunigung, die den langsamen und ruhigen Abläufen einer Gesellschaft der geschickten Handarbeit unbekannt war, die sich auf die eigenen Bedürfnisse ausrichtete, ohne dabei auf die Freuden des Lebens zu verzichten. – Alle diese Anklagen sind nicht bloß berechtigt und einer aufmerksamen Lektüre wert, sondern sie sind heute vielfach aktueller als seinerzeit.

Möglichkeiten ganz anderer Art?

In der sich heute entfaltenden kapitalistischen Krise, die in der Epoche der mikroelektronischen Revolution für das System sogar endgültig sein könnte, sind die Kämpfe und Parolen der englischen Ludditen für uns durchaus lehrreich. Heute fragen sich viele, wohin man weitergehen soll, welche Perspektiven der Befreiung möglich sind, wenn der Kapitalismus verfällt. Die meisten, vor allem in der Linken, befürchten Krieg und Zerstörung (als ob wir vom Entstehen des Kapitalismus bis heute so viel anderes gesehen hätten) oder im „besten“ Fall Massenelend und Bandenkriege in einer sich auflösenden Gesellschaft, welche die Verfallserscheinungen nicht mehr kontrollieren kann, die sich nach der Meinung vieler unweigerlich einstellen würden, vor allem wenn der Verfall des Kapitalismus zugleich den Niedergang der Nationalstaaten bedeutet.

Muss das aber unbedingt so ablaufen? Ist dieses Schicksal wie ein göttliches Diktat über uns verhängt oder können sich unerwartete Szenarien auftun, Möglichkeiten ganz anderer Art? Verschließt sich mit dem Verfall der Nationalstaaten wirklich jede Perspektive eines sozialen Lebens oder könnte es im Gegenteil nicht so sein, dass sich eigentlich erst dann die Möglichkeit neuer nicht von Herrschaft bestimmter Gemeinschaftlichkeit eröffnet, die erst da endlich entstehen kann?

Das müssen für jetzt Fragen bleiben, aber Fragen immerhin zum Nachdenken, auch anhand der Erfahrung der Ludditen. Das heißt auch, wir sollten ganz positiv über die Möglichkeit nachdenken, dass wir vielleicht bald eine Welt aufzubauen oder besser wiederaufzubauen haben, ohne dafür bei Null beginnen zu müssen. Ein „Zurück in die Vergangenheit“ ist streng genommen weder erstrebenswert noch wirklich möglich. Es geht vielmehr darum, zu verstehen, welche Art von Beziehung wir zur Technologie haben sollten, ob sie einfach „umorientiert“ werden soll, um einen Ausdruck des Theoretikers der „décroissance“ (Wachstumsrücknahme), Serge Latouche, aufzunehmen, oder ob sie radikal neu durchdacht werden muss, zusammen mit der Produktionsweise und ihren Zielen – damit wir nicht wiederum einen absurden Golem zum Leben erwecken. Vor allem aber geht es darum, von einem selbstbezüglichen System, das auf der verrückten Anhäufung von Wert zum bloßen Zweck immer weiterer Anhäufung beruht, zu einer solidarischen, schlichten und konvivialen Lebensweise überzugehen. Ein Übergang mit Schwierigkeiten, der eine Entgiftung von den Dämpfen des Kapitalismus erfordert, aber nichts Unmögliches. Eine Herausforderung, die wir jedenfalls annehmen sollten, und durchaus mit Vergnügen.

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