Streifzüge, Heft 55
Oktober
2012

Reduzierter Versuch über Lust und Liebe

Dieser Versuch umkreist die These, dass die heute selbstverständlich erscheinende Verbindung von Lust und Liebe sich historisch entwickelt hat; ferner: dass sich mit der lustvollen Liebe die Vorstellungen von der Liebe selbst verändert haben, insbesondere in der Ausformung des romantischen Liebesideals.

Eva Illouz spricht von der „Verdinglichung der romantischen Liebe“ (Der Konsum der Romantik. Liebe und die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus, Frankfurt am Main 2003, S. 28): „Romantik“ wird an Waren gebunden und die Waren selbst werden „romantischer“. Ihre These, die in den letzten Jahren durch diverse Publikationen bekannter wurde, ist an sich nicht neu: Schon Marcuse hat in Grundzügen in „Triebstruktur und Gesellschaft“ und „Der eindimensionale Mensch“ skizziert, was dann etwa Wolfgang Fritz Haug als „Kritik der Warenästhetik“ ausführte und heute als kritische Theorie der Popkultur zu fassen ist: dass Verdinglichung und Versinnlichung in der fortgeschrittenen Warentauschgesellschaft parallele Prozesse sind. Die bereits von Walter Benjamin diagnostizierte „Ästhetisierung der Politik“ zeigt sich in der postbürgerlichen Gesellschaft, in der die Waren selbst zur Kultur werden, als Gleichzeitigkeit von Kommodifizierung der Emotionen und Emotionalisierung der Waren.

Allerdings verändert sich dabei ebenso der gesellschaftliche Charakter der Emotionen wie auch der der Waren, und dies mitunter in einem Maße, dass, wie im Fall der „Liebe“, sowohl von einer Transformation dieses Gefühlskomplexes gesprochen werden kann, eigentlich aber auch überhaupt erst von der Erfindung der Liebe (einschließlich ihrer retro- wie prospektiven Illusionen und Imaginationen sowie Phantasmagorien, Phantasmen oder einfach nur Phantasien).

Hier geht es um den Versuch, Illouz’ These, dass Kapitalismus und Gefühle gegenseitig sowie miteinander verkoppelt sind, zu radikalisieren:

  1. „Liebe“ ist kein getrennt zu betrachtendes Epiphänomen, das gleichsam vom Kapitalismus okkupiert wird; nicht die „romantische Liebe“ wird verdinglicht, sondern die Menschen, die als verdinglichte in ihrem zu „Beziehungen“ (vgl. dazu Bernd Guggenberger, Wenn Liebe zur Beziehung wird, in: Ders., Sein oder Design. Im Supermarkt der Lebenswelten, Hamburg 1998, S. 103ff) verdinglichten Miteinander überhaupt erst Ideologeme wie das der romantischen Liebe hervorbringen.
  2. Die romantische Liebe ist eine Erfindung wie die Romantik selbst. Als Ideologie reproduziert sie sich in Bildern, genauer: einer Unmenge von jedoch ewiggleichen Bildern. Der Terminus „Bilder“ wird hier einmal im Sinne der situationistischen Kritik des Spektakels, zum anderen im Sinne der von Walter Benjamin entworfenen kritischen Theorie des dialektischen Bildes und Traums verwendet.
  3. Zum Bild der Liebe als romantischer gehört die Vorstellung ihrer Abgeschiedenheit von allen sozialen Bindungen. Als Ideal verlangt die romantische Liebe eine Art solipsistische Redundanz: Wo die Liebe ist, soll nichts anderes sein. Das Ideal kapriziert sich auf eine Einsamkeit, mit der die Liebenden sich der Sehnsucht hingeben, eben gerade nicht zu vereinsamen. – Als Nähe und Geborgenheit verspricht die romantische Liebe derart für das Privatleben genau das als Intimität, was in der verwalteten Welt der Normalfall sozialer Isolation und Deprivation ist.
  4. Die Bilder der romantischen Liebe – und das sind heute allesamt technische, durch Apparate, also Fernsehen und Film vermittelte Bilder – funktionieren wie optische Täuschungen: Sie suggerieren, in Bezug auf die Liebe die Menschen so zu zeigen, wie sie wirklich sind. Man hofft vielleicht, Tipps für das eigene Liebesleben zu bekommen, glaubt sich oder andere irgendwie wiederzuerkennen. Tatsächlich zeigen sie von der Liebe, ihren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten gar nichts. Allerdings ist jedes Bild der Liebe so inszeniert, dass man sich tendenziell in es verlieben könnte. Damit rutscht der Fetischcharakter der Waren in das Unbewusste, das Unbewusste selbst aber in die Bilder erzeugenden Apparate.
  5. Die Liebe steht keineswegs im Widerspruch zum Kapitalismus; als Emotion ergänzt sie das rationalistische Kalkül. Sie wird nachgerade zu einem Element der Kontrolle, eine Leidenschaft, die verspricht, sogar die Ökonomie zu bändigen; sie befriedet Klassenkämpfe, nivelliert Hierarchien, besänftigt Autoritäten, sorgt für ein gutes Betriebsklima. Das gelingt, indem die Liebe auf ein verhandelbares beziehungsweise kommunizierbares Maß an Lust und Unlust eingeschränkt wird.
  6. Verdinglichte Menschen können durchaus Gesellschaft machen: Sie können zur Arbeit gehen, Häuser und Straßen bauen, Familien gründen, Kinder erziehen, in den Urlaub fahren, einkaufen gehen, Blumen pflanzen, Kriege führen, Politik machen etc. Sie können auch lieben; mehr noch: die Liebesfähigkeit wird ihnen umstandslos zugesprochen. Ja, im Vergleich zu anderen Tätigkeiten scheint „zu lieben“ (oder „sich zu verlieben“) sogar recht einfach zu sein; und das, obwohl die Liebe immer wieder scheitert. – Wie alle Waren wird auch die Liebe „für das verdinglichte Bewusstsein zu den wahren Repräsentanten seines gesellschaftlichen Lebens“. (Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein, Darmstadt und Neuwied 1988, S. 185)

Liebe und Lust als soziales Verhältnis

Liebe ist ein gesellschaftliches Verhältnis, Lust auch. Im neunzehnten Jahrhundert wird „Liebe“ als diffuses und differenziertes Gefühl zu einer bestimmten menschlichen, und das heißt dem bürgerlichen Privatleben zugehörigen Emotion kanalisiert: als konstitutives Vermögen moderner – i.e. individueller, der Ideologie nach autonomer und authentischer – Subjektivität. Für die Maske des bürgerlichen Privatlebens hat „Liebe“ dabei eine ähnliche Bedeutung wie „Freiheit“, „Gleichheit“ oder „Gerechtigkeit“ für den Bürger in seiner politischen Charakter-Rolle. Mehr als im allgemeinen gesellschaftlichen Leben ist im Privatleben eine relative Kohärenz und Konsistenz von Leib und Seele, Körper und Geist gefordert. Sie wird durch „Liebe“ paradox gewährleistet und zugleich in ihrer Fragilität immer wieder erschüttert: Erscheint die Zerbrechlichkeit und Verwundbarkeit des Subjekts in seinen Rollen des Außerprivaten als unzumutbar, unanständig, unzurechnungsfähig, wahnsinnig, irrational, asozial, krank etc. (der moderne Politiker kann sich etwa nicht mehr leisten, was dem König noch möglich war: er darf in seinem Amt nicht verrückt werden), dient sie für die Rollen des Privaten nachgerade als Beleg für den Zusammenhalt des Somatischen und Sinnlichen – und wird so zum Beweis für die Liebesfähigkeit selbst: als Leidenschaft beziehungsweise als Passion.

Goethe hat dafür mit den „Leiden des jungen Werthers“ eine Vorlage geschaffen, die später zum romantischen Ideal der Liebe verdichtet wird: Die Liebe wird tragisch und konstituiert damit potenziell das Subjekt als tragisches; nicht nur, weil es womöglich in der Liebe oder mit seiner Liebe scheitert, sondern gerade weil das bürgerliche Subjekt in seiner tragischen Privatexistenz in einem dramatischen Widerspruch zu den Anforderungen des allgemeinen sozialen Verhaltens (in der „Öffentlichkeit“) steht: die bürgerliche Gesellschaft um achtzehnhundert ist alles, nur nicht tragisch. Hingegen ist die Hauptrolle des bürgerlichen Charakters vor allem: tragisch.

Ideologie, Bild

Das romantische Ideal der Liebe ist Ideologie, mithin im doppelten Sinne: als objektiv notwendig falsches Bewusstsein, aber auch als zugleich subjektive Weltanschauung und subjektive Täuschung (Lüge). Zur romantischen Liebe gehört die Annahme, dass sie eine Art auratischer Gegenstand sei, eine sich in Personen zeigende Emanation eines Geistigen, ein Bindegewebe, das Freundschafts-, Sexual-, Ehe- und ähnliche Beziehungen bedingt, gleichzeitig aber als bedingungslos imaginiert wird. Insofern fungiert das romantische Ideal der Liebe beziehungsweise das Ideal der romantischen Liebe als Illusion unhintergehbarer Selbstgewissheit, wo anderweitig – sei’s durch Religion, sei’s durch Vernunft – diese Selbstgewissheit nicht mehr gewährleistet werden kann.

Zwar lässt sich zeigen, dass das heute als „romantisch“ firmierende Ideal der Liebe oder besser (weil ein vermeintliches Gefühlschaos dazu gehört) im unsortierten Plural: dass die heute als „romantisch“ firmierenden Ideale der Liebe ihre Ursprünge in den Entwürfen von Subjekt- und Rollenmodellen haben (insbesondere in Hinblick auf Erotik, Sexualität und Gender), die zwar mit der Romantik entstehen, aber nicht mit ihr identisch sind oder aus ihr hervorgehen. Denn gleichwohl sind die Ideale der romantischen Liebe gerade in Bezug auf das „Romantische“ rückwärtsgewandte Projektionen, also Vorstellungen und Repräsentationen der erst in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vollends entfalteten Gesellschaft des Spektakels. Die alltagssprachliche Synonymisierung von „romantisch“ mit „schwärmerisch“, die zugleich mit idyllischen Bildern einer lieblichen, unschuldigen wie unberührten Natur und Kerzenschein-Ambiente assoziiert ist, geht am Gehalt der Romantik vorbei. An der thematischen Vielfalt romantischer Literatur, Malerei, Musik etc. zeigt sich, dass „Liebe“ keineswegs die Domäne der Romantik ist (erst recht nicht der Frühromantik um 1800). Die Brechungen, die sich selbst noch in den reaktionären Verwandlungen der Romantik im Verlauf des 19. Jahrhunderts sedimentieren, bleiben in den heute kursierenden Idealen der romantischen Liebe ausgespart. Romantik wird zum Kitsch; die romantische Liebe ist der Kitt, mit dem die Fragmente des Bestehenden zur heilen Welt zusammengeklebt werden.

Die romantische Liebe rangiert auch deshalb als Ideal, weil sie Bild ist. Anders gesagt: Die romantische Liebe ist kein Begriff; und das ist auch entscheidend für das durch sie vermittelte (oder vermeintlich vermittelte) Selbstverständnis: die romantische Liebe begreift sich nicht, lässt sich nicht begreifen und will auch nicht begriffen werden. Auch das gehört zur Begriffslosigkeit dieser Liebe: Die Herausbildung der romantischen Ideale geht schon im neunzehnten Jahrhundert einher mit einer Aussetzung der begrifflichen Systeme der Philosophie; begriffliche Welterklärungen werden durch Weltbilder ersetzt (dazu gehört auch die Bedeutungsverflachung von zum Beispiel „ästhetisch“, das nunmehr bloß noch „schön“ meint).

Die romantischen Ideale der Liebe entstehen aus der Massenkultur heraus, entfalten ihre phantastischen Bilder in den mit zahlreichen Illustrationen versehenen Trivialromanen, Bilderbüchern und illustrierten Zeitschriften. Eingerahmt ist das von der fortschreitenden Entwicklung der kapitalistischen Industrie, deren Waren nun zunehmend ihren spezifischen, nämlich urbanen Charakter bekommen, um ebenso auf den urbanen Märkten angeboten werden zu können. Was sich vollends erst in der modernen Konsumgesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts durchsetzt, hat hier, etwa im Paris als „Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts“ (Benjamin) seinen Ursprung: Die Waren werden emotionalisiert, wie auch die Emotionen kommodifiziert werden.

Dies betrifft indes nicht nur die Waren hinsichtlich ihrer Gebrauchswerteigenschaften; vielmehr bedeutet die Emotionalisierung als Kommodifizierung eine scheinbare Verlebendigung der Warendinge in ihren Tauschwerteigenschaften (während der Gebrauchswert der Waren gerade dadurch einer Mortifikation unterworfen wird; der Gebrauch wird in der Konsumtion liquidiert, übrig bleibt der „Wert“, der eine substanzielle Gebrauchsqualität an sich darzustellen scheint. Dies Prinzip setzt sich zunächst bei Luxusartikeln oder in der Kunst durch, aber auch in der Prostitution).

Diese Verlebendigung der Ware vollzieht sich über Bilder, die aus dem Tausch selbst generiert werden – scheinbar zwangsläufig, und scheinbar auch zwangsläufig von Anfang an falsch. Jede Ware ist ein Versprechen, aber keines dieser Versprechen kann eingelöst werden. Jede Reklame lügt. Auch die romantische Liebe ist in allen ihren Facetten ein Reklamebild; auch die romantische Liebe ist immer eine Lüge (Žižek sagt: Liebe bedeutet nicht „Ich liebe Dich!“ als exzeptionelle Zärtlichkeit einer Person, einem Ding oder auch der ganzen Welt gegenüber; sondern Liebe bedeutet Ich wähle mir etwas aus – ein gewalttätiger Akt).

Die Lüge wird akzeptiert im Ideologem der tragischen Liebe, also einer Liebe, die immer schon als Unmöglichkeit erscheint und deren Scheitern vorausgesetzt ist (einmal mehr: das wäre nicht möglich für irgendein Ideologem, das im außerprivaten Bereich der Gesellschaft wirkmächtig sein soll. Beispielweise könnte „Gerechtigkeit“ nicht politisch proklamiert werden, wenn sie unmöglich wäre; oder: „Freiheit“ kann für sich ein Trug sein, aber sie kann nicht an sich schon zum Scheitern verurteilt sein …). Darin funktioniert die Liebe in ihren unzähligen, aber doch immer wiederkehrenden, ewig gleichen Bildern – Herzchen, Turteltauben, Rosen etc.; subjektiv funktioniert sie als Lüge durch die Implementierung der Lust.

Liebe wird mit Lust verkoppelt; gleichzeitig werden aber Liebe und Lust auch von den Emotionen entkoppelt. Liebe wie Lust werden, gerade wo sie ineinander verwachsen scheinen, sowohl entsinnlicht als auch – obwohl sie doch auch das Subjekt überhaupt erst verkörpern – aus dem lebendigen Körper herausgelöst, demotionalisiert.

Lust-Maschine, Motor der Erregung

Die psychoanalytische Theorie unterscheidet „zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“: das Lustprinzip und das Realitätsprinzip. Bereits in der „Traumdeutung“ spricht Sigmund Freud vom „Urlustprinzip“. (Sigmund Freud, Die Traumdeutung, Studienausgabe Bd. II, Frankfurt am Main 2000, S. 569)

In diesem Zusammenhang erläutert er: „Wir hatten uns in die Fiktion eines primitiven psychischen Apparats vertieft, dessen Arbeit durch das Bestreben geregelt wird, Anhäufung von Erregung zu vermeiden und sich möglichst erregungslos zu erhalten. Er war darum nach dem Schema eines Reflexapparats gebaut; die Motilität, zunächst der Weg zur inneren Veränderung des Körpers, war die ihm zu Gebote stehende Abfuhrbahn. Wir erörterten dann die psychischen Folgen eines Befriedigungserlebnisses und hätten dabei schon die zweite Annahme einfügen können, dass Anhäufung der Erregung – nach gewissen uns nicht bekümmernden Modalitäten – als Unlust empfunden wird und den Apparat in Tätigkeit versetzt, um das Befriedigungsergebnis, bei dem die Verringerung der Erregung als Lust verspürt wird, wieder herbeizuführen. Eine solche, von der Unlust ausgehende, auf die Lust zielende Strömung im Apparat heißen wir einen Wunsch; wir haben gesagt, nichts anderes als ein Wunsch sei imstande, den Apparat in Bewegung zu bringen, und der Ablauf der Erregung in ihm werde automatisch durch die Wahrnehmungen von Lust und Unlust geregelt. Das erste Wünschen dürfte ein halluzinatorisches Besetzen der Befriedigungserinnerung gewesen sein. Diese Halluzination erwies sich aber, wenn sie nicht bis zur Erschöpfung festgehalten werden sollte, als untüchtig, das Aufhören des Bedürfnisses, also die mit der Befriedigung verbundene Lust, herbeizuführen.“ (A.a.O., S. 568)

Freud charakterisiert die Lust und Unlust als eingebunden in einen Apparat. Erregung, Abfuhr, Befriedigung und Erinnerung sind die zentralen Begriffe, nach denen, so Freud, der Wunsch die den psychischen Apparat und damit auch Lust und Unlust in Bewegung setzende Instanz ist (und nicht Lust oder Unlust selbst). Ebenso ist auch hier schon entscheidend, dass die Empfindung der Lust über die Abstellung der Unlust erklärt wird: als Prinzip wirken Lust und Unlust zusammen und nur zusammen. In „Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“ (1911) und „Jenseits des Lustprinzips“ (1920) hat Freud das mit dem Begriffsschema Lustprinzip und Realitätsprinzip expliziert (ein Schema, das übrigens durchaus hohe Analogien zu Marx’ Basis-Überbau-Modell aufweist):

„In der psychoanalytischen Theorie nehmen wir unbedenklich an, dass der Ablauf der seelischen Vorgänge automatisch durch das Lustprinzip reguliert wird, das heißt, wir glauben, dass er jedesmal durch eine unlustvolle Spannung angeregt wird und dann eine solche Richtung einschlägt, dass sein Endergebnis mit einer Herabsetzung dieser Spannung, also mit einer Vermeidung von Unlust oder Erzeugung von Lust zusammenfällt. Wenn wir die von uns studierten seelischen Prozesse mit Rücksicht auf diesen Ablauf betrachten, führen wir den ökonomischen Gesichtspunkt in unsere Arbeit ein.“ (Jenseits des Lustprinzips, in: Studienausgabe Bd. III, a.a.O., S. 217)

Freuds Terminologie ist einem Vokabular entlehnt, dem die allgemeinen geschichtlichen Veränderungen nicht äußerlich bleiben: „Ablauf“, „Vorgang“, „Spannung“, „automatische Regulierung“ sind technologische Metaphern, die ihre Entsprechung in der durch Maschinen gesteuerten Produktion der fordistischen Fabrik und der so genannten Arbeitswissenschaft Frederick Winslow Taylors („One best way“) haben. Sie konvergieren mit der „technologischen Rationalität“ (vgl. Herbert Marcuse, „Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie“, in: Schriften Bd. 3, Springe 2004, S. 286ff) und insofern spiegelt Freuds Entwurf einer Triebökonomie die Realität einer Politischen Ökonomie – zwischen gesellschaftliches Sein und gesellschaftliches Bewusstsein schiebt sich ein individuelles Unbewusstes. Doch Freud geht nicht von der Realität aus, sondern vom „seelischen Apparat“, der bestrebt ist, „die in ihm vorhandene Quantität von Erregung möglichst niedrig oder wenigstens konstant zu erhalten“ (Jenseits des Lustprinzips, a.a.O., S. 218f). Was von diesem Apparat als „unlustvoll empfunden“ wird, nennt Freud „funktionswidrig“ (a.a.O., S. 219). Es geht also zunächst weder um die Frage, wie das „reale Leben“ das „Seelenleben“ konstituiert, noch um die Frage, wie sich der Mensch kraft des psychischen Apparates die Realität aneignet, sondern um die „Abwendung“ und „Entfremdung“ von der Wirklichkeit.

„Es erwächst uns nun die Aufgabe, die Beziehung des Neurotikers und des Menschen überhaupt zur Realität auf ihre Entwicklung zu untersuchen und so die psychologische Bedeutung der realen Außenwelt in das Gefüge unserer Lehren aufzunehmen … Wir haben uns in der auf Psychoanalyse begründeten Psychologie gewöhnt, die unbewussten seelischen Vorgänge zum Ausgange zu nehmen, deren Eigentümlichkeiten uns durch die Analyse bekannt worden sind. Wir halten diese für die älteren, primären, für Überreste aus einer Entwicklungsphase, in welcher sie die einzige Art von seelischen Vorgängen waren. Die oberste Tendenz, welcher diese primären Vorgänge gehorchen, ist leicht zu erkennen; sie wird als das Lust-Unlust-Prinzip (oder kürzer als das Lustprinzip) bezeichnet. Diese Vorgänge streben danach, Lust zu gewinnen; von solchen Akten, welche Unlust erregen können, zieht sich die psychische Tätigkeit zurück (Verdrängung).“ (Freud, Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Geschehens, in: Studienausgabe Bd. III, a.a.O. S. 17f)

Ausgangspunkt ist die Normalität als gestörte Normalität, als Betriebsstörung des seelischen Apparates. Der Neurotiker ist beides: der Kranke (bei dem die Abwehr der Realität bis zur Psychose sich steigern kann), aber auch die pathologische Vorlage des Menschen. Der vom Architekten Louis Sullivan berühmt gemachte Satz „Form follows function“ gilt auch hier. Wir sind im neurotischen Zeitalter.

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