Streifzüge, Heft 38
Oktober
2006

Reform oder Raiffeisen?

Fragen zur Solidarischen Ökonomie

Die Globalisierungskritik, sie bewegt sich doch. Wir erinnern uns: Mit der Tobinsteuer machte sie Furore. Für den Staat, gegen die Konzerne! Hoch das Wirtschaftswachstum, nieder mit der Spekulation! – so lautete ihr Nonplusultra. Ein Kongress zur Solidarischen Ökonomie in Berlin schlägt nun, so scheint es, andere Töne an. Der VSA-Verlag hat dazu vorab einen Reader publiziert. Und auch in der Schweizer Zeitschrift Widerspruch geht es, wie der Titel ihrer jüngsten Nummer proklamiert, um „Alternativen“.

Manch eine mag dabei ein Déjàvu erleben. Alternative Betriebe, Kooperativen und Kommunen gründen – hatten wir das nicht schon mal? Ja, stimmt, hatten wir schon mal. Der Schluss, dass eins die Solidarische Ökonomie vergessen könne, weil es schon in den 1970er Jahren ähnliche Initiativen gab – und die, wir wissen es doch, sind allesamt gescheitert – ist allerdings zu kurz. Denn zumindest zweierlei ist heute anders. Erstens ist die Solidarische Ökonomie um die Erfahrung ihrer Grenzen und des Scheiterns früherer Ansätze reicher, zweitens trifft sie heute auf gänzlich veränderte Umstände. So ist die Solidarische Ökonomie des 21. Jahrhunderts, im Unterschied zu den Alternativbetrieben der 1970er Jahre, selten eine Spielwiese für Leute, die aus freien Stücken einem Normalo-Job den Rücken kehren, sondern ist oft eine Notwendigkeit des Überlebens – nicht nur, aber gerade auch für jene, die „normale“ Jobs kaum mehr kennen.

Hinzu kommt, dass sich auch das diskursive Umfeld gehörig gewandelt hat. Das Denken nach dem Motto Tina – „There is no alternative“ (Margret Thatcher) – knüppelt heute jede Kritik, die mehr und anderes sein will als eine Flaschenpost für bessere Zeiten, nieder. Schon der bloße Gedanke an eine gesellschaftliche Veränderung, die mehr und anderes meint als die Veränderung von Gesetzen, trifft in der Regel auf massive Ignoranz, nötigenfalls auf heftige Gegenwehr. Anders als die sozialen Experimentierstationen und Gemeinschaftslabors, die im Gefolge der 1968er-Bewegung aus dem Boden schossen, hat die Solidarische Ökonomie in Europa heute keinen breiteren Rückhalt, ist nicht Teil einer starken gesellschaftlichen Strömung hin zu neuen Ufern des Zusammenlebens. Nach wie vor ist das Tina-Prinzip ein entscheidendes Hindernis für jede Opposition zum neoliberalen Himmelfahrtskommando. Die Solidarische Ökonomie ist deshalb nichts weniger als der „lebendige Zweifel an der These vom Ende der Geschichte, an dem es ,keine Alternativen‘ mehr gäbe“ (Solidarisches Wirtschaften, S. 19, in: Solidarische Ökonomie, 2006) – Elmar Altvater bringt es auf den Punkt.

Allerdings hat sich die antiliberale Opposition auch selbst einige Steine in den Weg gelegt. Dies gilt nicht zuletzt für ihr Vertrauen auf den Staat, der, mit vernünftigen Argumenten und sozialtechnischen Lösungsvorschlägen konfrontiert, alles zum Guten wenden solle. Anstatt dass die politischen Eliten sich aber aufklären ließen über die neoliberale Verirrung, in die sie geraten sind, fahren sie vielmehr unbeirrt darin fort, öffentliche Güter und Dienste dem Markt zum Fraß vorzuwerfen, halten in der Tat stur daran fest, dem Wettbewerb und der Flexibilität zu opfern, was das Leben bis dato angenehmer machte. Sozialliberale Funktionäre in Parteien und Gewerkschaften garnieren dies eventuell noch mit einem regressiven Geschimpfe gegen den „Kapitalismus“ in Gestalt von „Heuschrecken“ (Franz Müntefering) – das freilich haucht weder dem Sozialstaat von einst neues Leben ein noch schafft es die berühmten Arbeitsplätze. Der Reality-Check ist für die Staatstreuen also hart. Das mag auch erklären, warum Attac, mediales Aushängeschild der Globalisierungskritik, gewisse Ermüdungserscheinungen zeigt. Ulrich Brand, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von Attac in Deutschland, führt die gelegentliche Herbststimmung darauf zurück, dass derzeit „Expertise und politische Ausgefuchstheit (…) gegenüber dem Ausprobieren, der Emphase und dem Erfahrungswissen dominieren“ (Strategien progressiver Kräfte in Europa, S. 173, in: Widerspruch Nr. 50, 2006). Dagegen wäre es vonnöten, die „rebellische Subjektivität“ zu betonen, das „subversive Element in den Bewegungen und die vielen lokalen Praktiken“ stärker zu beachten (S. 172).

Der Papa wird’s nicht richten

Vor diesem Hintergrund markiert der Kongress „Wie wollen wir wirtschaften?“, der von 24. bis 26. November in Berlin stattfindet, möglicherweise eine wichtige qualitative Neuorientierung der globalisierungskritischen Bewegung. Hier scheint sich anzudeuten, dass Teile der Globalisierungskritik sich aus ihrer Staatsfixierung lösen und das Augenmerk auf eine Perspektive legen, die Fragen der gesellschaftlichen Aneignung von Ressourcen (Infrastruktur, Produktionsmittel) und der Entwicklung entsprechender kooperativer Zusammenhänge in den Mittelpunkt stellt. Selbst Elmar Altvater, der gegen John Holloway gewendet lediglich eine „sympathische Naivität“ (Solidarisches Wirtschaften, S. 16, in: Solidarische Ökonomie, 2006) darin erkennt, die Welt verändern zu wollen, ohne die (staatliche) Macht zu ergreifen, betont, dass Basisbewegungen realiter in den meisten Fällen „gezwungen (sind), sich gegen Regierungen zu richten und in ihren Kämpfen Gegenmacht aufzubauen, indem Territorien, Land und Fabriken, Kohlenminen und Erdölfelder besetzt und genossenschaftlich selbstverwaltet werden“ (S. 17f., a. a. O.). Darüber hinaus sei zu reflektieren, „dass der Staat aufgrund der (…) lock-in Effekte [Blockierung von Alternativen durch Privatisierung u. ä., A. E.] ein anderer ist als in den Jahrzehnten von Keynesianismus und Fordismus“ (S. 14, a. a. O.). Zuvorderst müsse man deshalb „bei den Erfahrungen alternativer Vergesellschaftung anknüpfen“ und bedenken, dass „die Staatlichkeit als Folge der Privatisierung mehr und mehr globalisiert“ (a. a. O.) sei, daher auch soziale Bewegungen im Denken und in der Praxis „global ausgreifen“ (a. a. O.) müssten.

Deutlich setzt der Kongress ein Signal dafür, der Frage einer wirklichen Veränderung der Alltagsverhältnisse mehr Gewicht zu geben als bisher. Ist es doch sein Ziel, zu diskutieren, „ob Solidarische Ökonomie eine wirksame politische Strategie gegen Armut und Ausgrenzung sein kann, und wie angesichts der neoliberalen Umstrukturierung der Gesellschaft eigene wirtschaftliche Strukturen aufgebaut werden können“ (http://www.solidarische-oekonomie.de, Kongressfolder). Dabei sollen auch die je eigenen, nicht selten schwierigen materiellen Lagen thematisiert werden. Vorbild für diese Fragestellung sind offensichtlich die sozialen Bewegungen Lateinamerikas. Denn anders als im Fall der hiesigen Globalisierungskritik ist politischer Protest im lateinamerikanischen Kontext eng mit dem Aufbau materiell-kooperativer Zusammenhänge verkoppelt. Für eine emanzipative Bewegung ist es in der Tat essenziell, die politische Aktion als eine auf den Staat bezogene mit einer Gegenpraxis zu verknüpfen, die dem „Wunsch, selbstbestimmt zu leben“, dem „Nicht-mehr-Mitmachen“ und der „Suche nach Neuem“ (Widerspruch Nr. 50, S. 173) – wie Ulrich Brand dies formuliert – sichtbaren Ausdruck verleihen kann.

Solidarökonomie, was ist das?

Der Begriff der Solidarischen Ökonomie ist unscharf. Das nimmt nicht weiter Wunder, handelt es sich dabei doch um einen Diskurs, der seine Konturen in erster Linie negativ gewinnt. Im Grunde sind darin alle materiellen Praxen repräsentiert, die den neoliberal-kapitalistischen Imperativen mehr oder weniger widersprechen. Der Kongress-Reader mit dem Titel „Solidarische Ökonomie“ behandelt dementsprechend eine Vielzahl ganz unterschiedlich verfasster ökonomischer Strukturen: Mitteleuropäische Genossenschaften und solidarökonomische Betriebe in Lateinamerika werden ebenso dazu gezählt wie Fair-Trade-Unternehmen, selbstverwaltete Betriebe des sozialistischen Jugoslawien und subsistenzwirtschaftliche Ansätze in Indien. Auch Tauschringe, landwirtschaftliche Direktvermarktung und alternative Wohnprojekte werden darunter subsumiert (Vorwort, S. 7, in: Solidarische Ökonomie, 2006). Die Homepage zum Kongress (http://www.solidarische-oekonomie.de/) listet darüber hinaus noch Unternehmungen mit sozialer Zielsetzung, alternative Finanzierungseinrichtungen, Frauenprojekte, Initiativen für offenen Zugang zu Wissen und „andere Formen wirtschaftlicher Selbsthilfe“ auf. Nach Elmar Altvater gehört auch der „dritte, Non-Profit-Sektor in allen Industrieländern“ in die Reihe der „Ansätze einer alternativen Solidarischen Ökonomie“ (Solidarisches Wirtschaften, S. 18, a. a. O.). Dabei sieht Altvater durchaus die Ambivalenz des „dritten Sektors“. Dieser dehne sich gerade dort aus, wo Arbeitsplätze im „ersten Sektor“, also in der privaten, formellen Ökonomie abgebaut werden und der öffentliche „zweite Sektor“ schrumpft (S. 19, a. a. O.).

Was aber ist nun Solidarität? Altvater fasst den Begriff primär negativ: „Das Prinzip der Solidarität und Fairness ist den Prinzipien von Äquivalenz (und Reziprozität) (…) entgegengerichtet“ (S. 17, a. a. O.). Wir dürfen unter Solidarität demnach eine Beziehung verstehen, die weder auf dem Prinzip äquivalenten, also gleichwertigen Tausches beruht wie auf dem Markt – „Ich gebe dir 5 Euro, du gibst mir Waren im Wert von 5 Euro“ – noch auf dem Prinzip der reziproken Gegengabe, der Wechselseitigkeit des „Ich gebe dir, du gibst mir“ (vgl. E. Altvater, Das Ende des Kapitalismus, 2005, S. 180ff.). Solidarität und Fairness gingen „vom gesellschaftlichen Kollektiv und nicht von Individuen und ihren marktvermittelten Beziehungen aus“ (Solidarisches Wirtschaften, S. 17, in: Solidarische Ökonomie, 2006). Sie könne daher „nur in organisierter Form zur Geltung kommen“ (a. a. O.). „Fair“ nennt Altvater dabei „solidarische Beiträge“, die jeder und jede „nach seinen (bzw. ihren) Möglichkeiten“ leistet (a. a. O.). Dies setze „ein Bewusstsein von Gemeinsamkeit und innerer Verbundenheit in einer Gesellschaft voraus, die in einer gemeinsamen Lebenserfahrung begründet sein kann“ (a. a. O.).

Paul Singer, Staatssekretär für Solidarische Ökonomie in Brasilien und häufiger Gewährsmann in der mitteleuropäischen Debatte, gibt in einem Artikel folgende Definition: „Das solidarische Unternehmen lehnt die Trennung zwischen Arbeit und Besitz der Produktionsmittel (…) ab“ (Solidarische Ökonomie in Brasilien heute, S. 1, aus: Jahrbuch Lateinamerika Bd. 25, 2001; Abruf: http://www.solidarische-oekonomie.de/). Nachdem die genannte Trennung laut Paul Singer „anerkanntermaßen die Grundlage des Kapitalismus“ (a. a. O.) ist, hält er die Solidarische Ökonomie nicht für kapitalistisch. Zugleich konzediert er allerdings, dass sie auf jeden Fall noch Teil der kapitalistischen Gesellschaftsformation sei, die weiterhin den „legalen und institutionellen Überbau“ (a. a. O.) bestimme, ja mehr noch, dass die Solidarische Ökonomie „nur gangbar und zu einer wirklichen Alternative zum Kapitalismus (wird), wenn die Mehrheit der Gesellschaft, die kein Eigentum an Kapital hat, ein Bewusstsein davon gewinnt, dass es in ihrem Interesse liegt, die Produktion auf eine Weise zu organisieren, bei der die Produktionsmittel all denen gehören, die sie zur Schaffung des Sozialprodukts benutzen“ (a. a. O.). Besonders betont Singer dabei die Rolle der Arbeit. Das „solidarische Unternehmen besteht grundsätzlich aus Arbeitern, die nur in zweiter Linie auch seine Eigentümer sind“ (a. a. O.). Deshalb, so Singer, „ist ihr Zweck auch nicht die Maximierung des Profits, sondern die Maximierung der Menge und der Qualität der Arbeit“ (a. a. O.). Daraus folge, dass ein solidarökonomischer Betrieb keinen Profit erwirtschafte, da „kein Teil seiner Einnahmen proportional zu den Kapitalquoten verteilt wird“ (a. a. O.). Die Verwaltung des Unternehmens erfolge gemeinschaftlich, entweder mittels Vollversammlungen oder in Delegiertenräten. Um gleiche Entscheidungsrechte zu garantieren, sei auch das Eigentum am Betrieb unter den Arbeiterinnen und Arbeitern gleich verteilt.

Nachfragen zur Theorie

Deutlich wird in diesen Konzeptionen, dass sich die Solidarische Ökonomie im Grunde mit dem Gedanken der betrieblichen Selbstverwaltung deckt, wie er etwa in Jugoslawien zur Staatsideologie erhoben worden ist. Allerdings ist das Konzept breiter gefasst. Das hängt nicht nur damit zusammen, dass Fair-Trade, Direktvermarktung und Tauschkreise erst in den 1990er Jahren eine größere Bedeutung bekamen und die Freie Software-Szene überhaupt erst mit dem Internet das Licht der Welt erblickte, weshalb sie schon allein aus historischen Gründen in der alten Alternativ- und Genossenschaftsbewegung keine Rolle spielen konnten. Die Breite des Konzepts hat wohl auch damit zu tun, dass der Diskurs einerseits inhaltlich offen gehalten werden soll – ganz im Sinne dessen, was Elmar Altvater einen „diskursiven Prozess ,kollektiver Forschung’“ nennt (Das Ende des Kapitalismus, 2005, S. 221), und dass er andererseits eine politische Ausrichtung hin auf eine Alternative zum neoliberalen Kapitalismus erhalten und so „den Begriff ,Solidarische Ökonomie‘ in Deutschland besetzen“ soll (http://www.solidarische-oekonomie.de/) – und zwar von Seiten der linken Globalisierungskritik.

Dieses Anliegen mag fürs Erste darüber hinwegtrösten, dass diese Konzeption erheblichen Klärungsbedarf mit sich bringt. Denn theoretisch befindet sich die Debatte insgesamt mehr oder weniger auf dem Stand der 1970er Jahre. Zwar verweist schon allein der Diskurs der Solidarischen Ökonomie darauf, dass einige der realen Bedingungen und tatsächlichen Erfordernisse emanzipativer Praxis mittlerweile wahrgenommen werden. Doch wenn es um das gesellschaftliche Strukturwissen geht, um die Frage also, wie jene Produktionsweise zu verstehen ist, von der wir uns emanzipieren wollen, so zeigen sich rasch einige Defizite. Unweigerlich wirken diese aber auf das Verständnis der Solidarökonomie selbst zurück, darauf also, wie wir ihre Potenziale und Grenzen begreifen, ihre Perspektiven und Gefahren einschätzen.

Deutlich illustriert dies der Beitrag von Gabriele Herter, „Die ,unsichtbare Hand‘ in der Selbstverwaltung“ (S. 22ff., in: Solidarische Ökonomie, 2006). Den „Kern einer jeden kooperativen Wirtschaftsordnung, die Vorbild und Grundlage einer Solidarischen Ökonomie sein müsste“ sieht Herter in der Formel „, Labour hires Capital‘ – Die Arbeit macht sich das Kapital zu Diensten“ (S. 22, a. a. O.). „Selbstverwaltete Betriebe und Genossenschaften haben andere Ziele als traditionelle Unternehmen“, meint die Autorin, „sie sehen sie nicht in irgendwelchen Ableitungen vom Prinzip der Profitmaximierung wie der Eingliederung in den Weltmarkt, Erhöhung des Exports, Rentabilität usw.“ (S. 23, a. a. O.). Das Kapital werde „zur Herstellung oder Bereitstellung von gebrauchswertorientierten Produkten in humaner Arbeitsweise“ verwendet (a. a. O.). Gleichzeitig verteidigt Herter den Markt als gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Sie führt ins Treffen, dass der Staat sich „in der Rolle des idealen Organisators der sozialen und gesellschaftlichen Dienstleistungen (…) nicht als besonders effizient erwiesen“ habe (a. a. O.). Den Umkehrschluss, der Markt sei also der bessere Organisator, möchte Herter mit dem Verweis auf Karl Polanyis berühmte Studie „The Great Transformation“ (1944) stützen. Darin beschrieb Polanyi die Durchsetzung der Marktwirtschaft als eine „Entbettung des Marktes aus der Gesellschaft“. Voraussetzung dieser Entbettung war laut Polanyi, dass Arbeitskraft, Boden und Geld die Form von Waren annahmen. Er nennt sie „fiktive Waren“, weil sie von Natur aus keine Waren seien. Herter spitzt dies noch zu: „Sie sind unfähig, als Ware zu fungieren“ (S. 24, a. a. O.). Dieser Annahme gemäß wäre der Markt als solcher zu begrüßen, abzulehnen hingegen lediglich in jener Form, die er im Zuge seiner „Entbettung“ angenommen habe. Weiters meint sie, dass in genossenschaftlichen Strukturen „der Arbeitsmarkt praktisch abgeschafft“ ist (a. a. O.), die Arbeitskraft also keine (fiktive) Ware mehr sei (S. 23, a. a. O.), und behauptet: „Diese theoretischen Überlegungen können anhand jedes kooperativen Dachverbands in der Welt verifiziert werden“ (S. 24, a. a. O.). Als Paradigma der Solidarischen Ökonomie gilt der Autorin offenbar das jugoslawische Selbstverwaltungsmodell. Dieses sei an den Verteilungskämpfen gescheitert, die aus der ungleichzeitigen Entwicklung der Teilrepubliken resultierten, wie Herter resümiert. In letzter Instanz führt sie den Misserfolg des jugoslawischen Marktsozialismus allerdings darauf zurück, dass „die Hochzinspolitik der entwickelten Länder und der überhöhte Dollarkurs“ es unmöglich machten, „die vorhandenen Planungsinstrumente [zum regionalen Ausgleich, A. E. ] sinnvoll einzusetzen“ (S. 27, a. a. O.).

In ihrem Beitrag verstrickt Herter sich in einige Widersprüche. So würden Genossenschaften wie die baskische Mondragon, die laut Elmar Altvater „außerordentlich wettbewerbsfähig auf dem Weltmarkt operieren“ (Solidarisches Wirtschaften, S. 18, a. a. O.), Herters „theoretische Überlegungen“ nach ihren eigenen Kriterien falsifizieren. Noch krasser gilt dies für den Fall von Fair Trade – per se ein Weltmarkt-Akteur. Aber auch Beispiele wie die brasilianische Landlosenbewegung MST widersprechen der Behauptung, Genossenschaften würden sich nicht auf den Weltmarkt hin orientieren – im Gegenteil. So geißeln zwar die Führungsetagen des MST die globale Wirtschaftspolitik, „die Produktionsgenossenschaften der Bewegung jedoch (versuchen), ihre Produkte auf dem Weltmarkt zu platzieren“ (I. Salzer, Der MST und sein alternatives Projekt, S. 78, JEP XXI/2, 2005).

Jugoslawien revisited

Besonders deutlich widerlegt der jugoslawische Selbstverwaltungssozialismus die Konzeption von Herter. Das lassen schon die offiziellen Äußerungen der Staatsführung erkennen. So wurde etwa Ende der 1960er Jahre ein Wirtschaftsprogramm mit dem vielsagenden Namen „Rentabilnost“ auf den Weg gebracht mit dem Ziel, den Export anzukurbeln (E. Lohoff, Der dritte Weg in den Bürgerkrieg, 1996, S. 86). Dass die jugoslawische Arbeitskraft ihren Warencharakter verloren hatte, wie die Position von Herter impliziert, könnte allenfalls für das jugoslawische Territorium gelten. Denn seit Mitte der 1960er Jahre gab es eine bedeutende Arbeitsmigration auf die Arbeitsmärkte des Auslands, was jene Freisetzung von Arbeitskräften kompensierte (E. Lohoff, S. 87, a. a. O.), die es Herter zufolge in einer genossenschaftlich strukturierten Wirtschaft gar nicht geben dürfte: „Selbst wo rationalisiert, modernisiert und fusioniert wird (…), werden Arbeitsplätze erhalten bzw. neue geschaffen“ (G. Herter, S. 24, in: Solidarische Ökonomie, 2006). Dass die jugoslawische Selbstverwaltung nicht bereits in den 1970er Jahren implodierte, ist wohl nicht auf den „Erfolg“ des Modells als solchem, sondern auf die Stützung der wenig bis nicht rentablen selbstverwalteten Betriebe durch Kredite zurückzuführen. Wichtige Stabilitätsfaktoren waren daneben die bedeutende Subsistenzwirtschaft sowie die Einnahmen aus dem Tourismus. Jugoslawien war Teil des Weltmarkts und für seine selbstverwalteten Betriebe galten Rentabilitätskriterien. Eine wachsende Produktion von abstraktem Wert war erklärtes Ziel der Politik und objektive Vorgabe für die Unternehmen (die Gebrauchswertorientierung blieb dagegen sekundär, weil geldabhängig). Dafür waren Investitionen nötig, die sich aus dem Profit der selbstverwalteten Betriebe speisten oder mittels Kredit finanziert wurden, das heißt mit Ansprüchen auf zukünftige Profite verbunden waren.

Schon 1950 hatte Tito angekündigt, das staatliche Eigentum an Produktionsmitteln gehe von nun an „in eine höhere Form des sozialistischen Eigentums über“ (zit. nach E. Lohoff, S. 69, a. a. O.). Als ersten Schritt durften die Betriebe ab 1952 einen Teil des erwirtschafteten „Mehrwerts“ behalten. Aus diesem Fonds mussten sie von nun ab sowohl die Löhne bestreiten als auch soziale und kulturelle Einrichtungen unterhalten. 1953 schließlich erklärte die Regierung die bis dahin kostenlosen Rohstoffe zu kostenpflichtigen Gütern, d. h. zu Waren, und die zuvor staatseigenen Maschinen zu Betriebsbesitz. Weil die selbstverwalteten Betriebe dazu tendierten, das kurzfristige Einkommen der Beschäftigten zu erhöhen anstatt langfristig zu investieren, verwaltete der Staat weiterhin einen erheblichen Teil des „Mehrwerts“. Ideologisch hatte in Jugoslawien die kapitalistische Produktionsweise zwar das Zeitliche gesegnet, strukturell waren die Selbstverwaltungsbetriebe jedoch ebenso kapitalistisch wie die nationalstaatlich verfasste Gesellschaft, in der sie existierten.

Der Markt im Bett

Wenn wir über Solidarische Ökonomien sprechen, so gilt es also, eine Ideologisierung zu vermeiden. Die Selbstwahrnehmungen dieser Projekte sind dabei ebenso zu hinterfragen wie staatsoffizielle Zuschreibungen. Denn es ist durchaus verführerisch, durch bloße Sprachregelungen neue Strukturen zu behaupten, wenn tatsächliche Veränderungen schwierig sind. Und noch verlockender ist es unter Umständen, die Verwirklichung von Zielen durch Proklamationen zu ersetzen. Auch mag die Dringlichkeit, eine „andere Welt“ auf den Weg zu bringen, mitunter dazu verleiten, in die Solidarische Ökonomie zu projizieren, was erst in Ansätzen vorhanden oder überhaupt noch zu entwickeln wäre. Zentral ist dabei die Frage, welche Strukturmerkmale die kapitalistische Produktionsweise auszeichnen. Daraus ergibt sich, was im Gegenzug in einer Solidarischen Ökonomie zumindest partiell zu überwinden ist.

Nun ist bereits klar geworden, dass jene „empirischen Wirtschaften“, die nach Herter zur Solidarischen Ökonomie gehören, vielfach den Kriterien widersprechen, die Herter selbst dafür angibt. Damit aber nicht genug. Weiter noch stellt sich die Frage nach der Art des Zusammenhangs der Genossenschaften bzw. solidarökonomischen Betriebe. Erst dieser Zusammenhang würde nämlich sichern, dass „Wirtschaft“ – einer Formulierung Polanyis nach, die Herter zitiert – „zu einer Einheit wird“, und könnte erklären, auf welche Weise dies geschieht. Die Möglichkeit einer staatlichen Planung schließt Herter – zu Recht – aus. Aber leistet der Markt tatsächlich, was Herter für die Solidarische Ökonomie in Anspruch nimmt? Einerseits redet sie dem Markt das Wort, andererseits aber meint auch die Autorin, es gehe gerade darum, „gegen die ,unsichtbare Hand des Marktes‘ Geschichte (…) mit Bewusstsein zu machen, also in welcher Form und in welchem Ausmaß auch immer zu planen“ (S. 23, a. a. O.). Nun ist es allerdings so, dass der Markt nicht im Widerspruch zur Planung steht, denn Unternehmen planen immer, ob solidarisch oder nicht. Entscheidend ist also gerade das, was Herter für unwesentlich erklärt, nämlich Form und Ausmaß der Planung.

Hier beginnt die eigentliche Problematik. Herter geht, von Polanyi angeregt, davon aus, dass ein intakter oder doch ohne weiteres rekonstruierbarer menschlicher Zusammenhang einen „entbetteten“ Markt wieder zähmen und dienstbar machen könne und müsse. Übersehen wird dabei aber, dass die gegenwärtige Form von gesellschaftlichem Zusammenhang gerade in der Vermittlung der Individuen über den Markt besteht, ja dass erst die Durchsetzung des Marktes als der allgemeinen, ja einzig allgemeinen Vermittlungsweise und Beziehungsform „Gesellschaft“ im modernen Sinn geschaffen hat. Eine Gesellschaft mit einer spezifischen, allein gesamtgesellschaftlich gültigen Handlungsform – Kauf und Verkauf – sowie einer entsprechenden Handlungsrationalität – Streben nach billigem Kauf, teurem Verkauf und nach monetärem Gewinn. Folgerichtig wurde auch die neoliberale Zuspitzung der „Entbettung“ des Marktes von (staatlicher) Politik und (neoliberaler) Zivilgesellschaft durchgesetzt und aktiv unterstützt. Es geht daher nicht „wieder um die Herstellung einer Priorität des Gesellschaftlichen gegenüber der kapitalistischen Marktwirtschaft und der sie dominierenden Handlungslogik“, wie Elmar Altvater dies meint (S. 17, a. a. O.). Die Institutionen und Normensysteme können die grundlegende Logik der „Marktgesellschaft“, wie Karl Polanyi sie nennt, nicht nur nicht außer Kraft setzen, sondern sind dazu da, das Prokrustesbett der Wertvergesellschaftung zu stützen. Die Funktion der bürgerlich-kapitalistischen Institutionen – und hier ist allen voran an den Staat zu denken – besteht gerade darin, die allgemeinen Grundlagen der marktwirtschaftlichen Warenproduktion, also eine spezifische Infrastruktur, Bildung usw., bereit zu stellen, wobei diese Institutionen über die Steuereinnahmen von einer auf den Märkten realisierten Kapitalverwertung abhängen.

Solange Menschen privat, voneinander scheinbar unabhängig, für einen gesellschaftlichen Bedarf produzieren, äußert sich ihr Zusammenhang unwillkürlich in einer von ihnen selbst „entbetteten“ Form, um an Polanyis Wortwahl in einem anderen Sinne anzuschließen, nämlich in Gestalt ihrer Produkte, die damit zu Waren für Märkte werden. Die Ware ist das reale Paradox eines Dings, das gesellschaftliche Eigenschaften hat, als handelte es sich um seine natürlichen Merkmale – das Produkt in Warenform wird zum Träger von abstraktem Wert (dasselbe gilt für Dienstleistungen). Während wir als Marktindividuen primär voneinander isoliert sind und nur durch Kauf und Verkauf in Kontakt treten, ist die Welt der Waren und des Geldes immer schon auf denselben Nenner des Werts gebracht, sind die Wertdinge immer schon in eine umfassende, gespenstische „Beziehung“ zueinander gesetzt. Es ist der Wert, der „die Wirtschaft zu einer Einheit“ formt, um Polanyis Formulierung aufzugreifen, während er die Trennung und Konkurrenz der Menschen voneinander fortschreibt und umgekehrt die Menschen, die sich voneinander abtrennen, ihn im gleichen Zug beständig fortschreiben.

Der abstrakte, ökonomische Wert ist etwas anderes als der konkrete Nutzen, ist vom Gebrauchswert einer Ware grundverschieden. Der Wert ist die überlegene Form des Reichtums: Er erhält sich nicht nur, sondern er vermehrt sich in Form des Kapitals; Gebrauchswerte hingegen verschwinden mit dem Konsum. Die Produktion von Gebrauchswerten aber ist abhängig von der Wertproduktion. Die Vermehrung des Werts in Gestalt von Geld, das Profit abwirft, steht folglich mit der Produktion für konkrete Bedürfnisse vielfach im Widerspruch. Anschaulich beschreiben Wolfgang Neef und Frank Becker in ihrem Beitrag „Technik gegen den ökonomischen Strich“ (S. 73ff., a. a. O.), wie sich diese Widersprüche auswirken.

Die Solidarische Ökonomie will sich am Gebrauchswert orientieren und weist die Profitmaximierung – jedenfalls als Ziel an sich – zurück. Solange jedoch solidarwirtschaftliche Betriebe Waren produzieren oder verkaufen, ist das nicht selten ein Spagat. Er wird spätestens dann zur Zerreißprobe, wenn die Konkurrenz zwischen den solidarökonomischen Einheiten objektiv erzwingt, was übliche kapitalistische Unternehmen auch subjektiv wollen; sei es, weil die institutionellen und sozialen Vorkehrungen gegen den harten Trend des abstrakten Werts, sich über die Gebrauchswertorientierung hinwegzusetzen, versagen (was erfahrungsgemäß leicht geschieht); sei es, weil das gesamtwirtschaftliche Wachstum nachlässt oder einbricht.

In einer weitergehenden Perspektive ist deshalb die Frage zweifellos entscheidend, wie sich solidarökonomische Betriebe vernetzen können, wie der gesellschaftliche Stoffwechsel, zumindest einmal innerhalb des „solidarischen Sektors“, zu organisieren ist – ohne den Fehlschlag einer staatlich geplanten Warenproduktion zu wiederholen, aber auch ohne die bekannten Probleme der Marktvermittlung zu reproduzieren.

Es ist sicherlich „ein Mangel der Debatte über alternative Wirtschaftsgestaltung“, wie Elmar Altvater in Hinblick auf Michael Albert und Alex Callinicos betont, „dass in den seltensten Fällen der Versuch gemacht wird, das ,Geldrätsel‘ zu lösen, ja nicht einmal zu sehen, dass es hier ein Rätsel zu knacken gilt – wie Marx bereits den Ökonomen seiner Zeit vorgeworfen hat“ (Solidarisches Wirtschaften, S. 15, a. a. O.). Die Lösung des „Geldrätsels“ kann aber nicht darin münden, „die Notwendigkeit einer Regulation der (globalen) Finanzmärkte ins Zentrum der Kampagnen“ (a. a. O.) zu rücken, wie Altvater das offenbar meint. Vielmehr führen die Passagen des Marxschen „Kapital“, auf die Altvater explizit verweist, hin zur Kritik des Fetischcharakters der Ware, wie er oben sehr gerafft zu skizzieren war. Die Analyse der Ware ist aber nur der Einstieg, um die kapitalistische Produktionsweise im Ganzen kritisch zu durchleuchten. Denn letztlich haben alle ökonomischen Formen der bürgerlichen Gesellschaft – als Formen des Werts – fetischistischen Charakter (Geld, Preis, Lohn, Kapital, Profit, Zins usw. ). Anne-Britt Arps und Raul Zelik ist daher zuzustimmen: „Das Ende marktförmiger Vergesellschaftung ist Grundlage für jedes sozialistische Projekt. Markt und Geld können jedoch nicht einfach abgeschafft werden, sondern müssen durch alternative Formen von Vergesellschaftung ersetzt werden“ (Mit, im und gegen den Staat, S. 124, in: Solidarische Ökonomie, 2006). Dass dies weder mittels Verstaatlichung noch durch einen bloßen „Aufbau von unten“ gelingen kann, wie Arps und Zelik vermerken, macht offenbar die besondere Schwierigkeit einer post-kapitalistischen Agenda aus, für deren Umsetzung die Solidarische Ökonomie zu untersuchen und zu entwickeln ist.

Die Fußangeln der Tradition

Das Projekt einer „anderen Welt“ erfordert auch eine „andere Theorie“. Häufig werden jedoch einfach die überkommenen Vorstellungen der alten Arbeiterbewegung wiederholt, so etwa bei Paul Singer. Seiner Meinung nach ist die „Trennung zwischen Arbeit und Besitz an Produktionsmitteln“ (s. o. ) das entscheidende Merkmal des Kapitalismus. Tatsächlich finden sich aber Ausbeutungsbeziehungen solcher Art z. B. auch im europäischen Feudalismus. Doch kapitalistische Produktionsverhältnisse kennzeichnet nicht die Trennung zwischen Nicht-Produzenten, die z. B. Land besitzen, und Produzentinnen, die dieses Land bewirtschaften und von ihrem Produkt nur soviel behalten dürfen, wie sie selbst zum (Über)Leben brauchen, sondern für den kapitalistischen Charakter einer Produktionsweise ist vielmehr entscheidend, dass die Arbeitsprodukte in der Regel Warenform haben und der Wert bzw. das Geld eine gesellschaftliche Vermittlung herstellen.

Sobald Arbeiter ihren Betrieb einmal besitzen, meint Singer, sei auch der Profit von gestern. Diese Annahme geht in die Irre. Der Profit mag zwar kein subjektives Motiv einer Genossenschaft sein, die Waren produziert und auf den Kauf von Rohstoffen usw. angewiesen ist. Das ändert allerdings nichts daran, dass das Kapital dieses Betriebs zumindest erhalten werden muss. Eine solidarökonomische Genossenschaft, die fortlaufend finanzielle Verluste schreibt, wird nicht überleben können, weil sie den objektiven kapitalistischen Zwängen nicht genügt und den Genossenschafterinnen keinen Gelderwerb ermöglicht. Realiter wird der Solidarbetrieb – Warenproduktion vorausgesetzt – nicht umhin kommen, auch Profit zu machen. Wie anders könnte er sonst Investitionen tätigen?

Wie auch in einem normalen kapitalistischen Betrieb gründen die dafür nötigen monetären Überschüsse letztlich in unbezahlter Arbeitszeit. Profit wird nicht zu Lohn, nur weil wir ihn anders nennen, was Paul Singer letztlich vorschlägt. Genauso wenig ändert es am Kapital, wenn eins eine Identität von Funktionen postuliert, die im kapitalistischen Normalbetrieb auseinanderfallen. Die genossenschaftliche Identität von Kapitaleigner und Arbeiterin führt vielmehr dazu, die Zwänge beider Funktionen quasi in einer Brust zu vereinigen, beide Rollen abwechselnd oder abwägend einzunehmen. Eine extreme Variante dieser strukturellen Spaltung ist die Ich-AG. Die Mitarbeiterbeteiligung an Aktiengesellschaften ist ein weiteres Beispiel. Im Fall des jugoslawischen Marktsozialismus führte die formelle Zusammenfassung von Kapital und Arbeit auf der Ebene des Betriebs dazu, dass sich ihre Trennung auf der Ebene von Staat und Gesellschaft wieder einstellte (E. Lohoff, a. a. O.). Der Staat übernahm anstelle der Betriebsleitung die Funktion des Kapitalisten, die Verwertung sicher zu stellen und damit nicht zuletzt auch die Produktion am Laufen zu halten.

Die Vereinigung von Antagonisten führt nicht zur Versöhnung, sondern erhöht im Regelfall vielmehr die Anforderungen der Selbstdisziplinierung. „Arbeit und Kapital sind miteinander verschmolzen“, schreibt Singer zwar in Hinblick auf die Solidarunternehmen. Doch führt die Personalunion von Kapitalist und Arbeiterin offenbar häufig dazu, den Lohn zu senken und die unbezahlte Arbeit auszuweiten. Das geht z. B. aus den Ergebnissen einer Untersuchung von Kooperativen in Argentinien hervor (F. Habermann, Aus der Not eine andere Welt, S. 131ff., 2004). Auch Margot Geiger schreibt: „In besetzten Betrieben wird meist auch über die Phase der Wiederaufnahme der Produktion hinaus länger, für weniger Geld und ohne die sozialstaatlichen Begünstigungen des Normalarbeitsverhältnisses gearbeitet“ (Betriebsbesetzungen in Argentinien, S. 98, in: Solidarische Ökonomie, 2006).

Keineswegs ist deshalb aber die Erfahrung kleinzureden, dass mit der Besetzung und der Selbstverwaltung von Betrieben generell ein Gefühl der Befreiung einhergeht, endlich ohne Chef arbeiten und Entscheidungen gemeinsam treffen zu können. Die mittlerweile zahlreichen Berichte über die Beispiele in Argentinien stimmen darin überein. Dies bedeutet allerdings nicht, dass solche Betriebe in terms of Wert- und Warenproduktion dauerhaft funktionstüchtig sind, sondern es verweist darauf, dass die damit verbundene Art der direkten Kooperation emotional befreiend und sozio-psychisch unterstützend wirkt.
Strukturen, die es leichter machen

So sehr ethische Motive den Entwurf einer post-kapitalistischen Agenda auch inspirieren und vorantreiben, so entscheidend ist es doch, gesellschaftliche Strukturen aufzubauen, die jene Handlungsweisen fördern und erleichtern. Die dominanten Handlungsregulative müssen den ethischen Orientierungen also entgegenkommen. Gerade der Diskurs der Solidarität birgt ansonsten die Gefahr, zu einer fruchtlosen Moralisierung beizutragen, wonach wir lediglich das Gute wollen müssten, um es in die Welt zu setzen. Der inflationäre Gebrauch des Solidaritätsbegriffs ist eine Folge dieser Schlagseite. Denn die Rede von der Solidarität sagt noch lange nichts über ihren Inhalt aus. Dies illustriert nicht zuletzt die große Zahl der hiesigen Genossenschaften, die sich auf eine solidarische Förderung der Mitglieder beschränken, mit dem Ziel, ihre Stellung am Markt zu verbessern, ihre Konkurrenzfähigkeit zu stärken oder ihren privaten Lebensstandard zu erhöhen.

Damit das, was für einen Betrieb gut ist, auch den Menschen gut tut, benötigt „Solidarische Ökonomie“ eine entsprechende gesellschaftliche Ordnung. Geld und Ware erweisen sich dafür als hinderlich. Mit dem Geld als Repräsentanten eines allgemeinen, abstrakten Reichtums nämlich ist das egoistische Geldinteresse strukturell schon gesetzt. Geld – und nur Geld – erlaubt den Zugriff auf den konkreten Reichtum in Gestalt der Waren. Geld verkörpert somit Reichtum schlechthin. Es liegt in seiner Eigenschaft als Geld selbst begründet, in der Eigenschaft, allgemeines Tauschmittel und selbstständige Wertgestalt zu sein, den Reichtum erstens auf einen unterschiedslosen Nenner zu bringen und zweitens den Zugang zu den Gebrauchswerten dadurch absolut zu monopolisieren. In dieser „Geldnatur“ liegt schon beschlossen, dass es sich gegenüber konkreten Handlungszwecken verselbstständigt, dass Geld zu Kapital mutiert, es den Menschen als Feind gegenübertritt. Sie und ihre Bedürfnisse sind der unerbittlichen Notwendigkeit, Geld haben und Geld einnehmen zu müssen, strikt nachgeordnet.

Eine soziale Bewegung, die gegen diese Verhältnisse ohne Illusionen angehen will, sollte sich darüber im Klaren sein, dass der Widerstand gegen die historische Durchsetzung der Warenökonomie von anderer Qualität war als die Anstrengung, die eine solche Bewegung heute selbst unternehmen muss.

Dazu gehört ganz wesentlich, die scheinbar unverrückbare Reichtumsform der bürgerlichen Gesellschaft anzutasten. Denn es hilft letztlich und auf Dauer wenig, nur nach einem anderen Gebrauch von Ware, Geld und Kapital zu verlangen. Auch wenn wir Arbeitskraft, Boden oder Geld mit Karl Polanyi für „fiktive Waren“ halten wollen, so ändert dies nichts an deren Warencharakter. Wie Moishe Postone zutreffend bemerkt, bedeutet die Rede von den „fiktiven Waren“ im Umkehrschluss im Grunde, dass die übrigen Waren „natürlich“ seien (S. 231f., Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft, 2003). Tatsächlich ist die Ware als besondere, gesellschaftlich bedingte Form des Arbeitsprodukts jedoch in keiner Weise natürlich. Eine „natürliche Ware“ gibt es nicht. Gesellschaftlich dominant wird die Warenform historisch erst mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, mit der Produktion für den Verkauf, also der modernen Warenproduktion. Sie muss verschwinden, soll der Kapitalismus überwunden werden.

Wie sollte eine Gesellschaftsordnung denn auch beschaffen sein, in der sich „solidarische Genossenschaften“ zwar über den Markt vermitteln, in der aber weder ein Arbeitsmarkt noch ein Markt für Geld, also ein Kredit- bzw. Kapitalmarkt existieren, wir eine staatliche Wirtschaftsplanung aber ausschließen? Sollen die Produkte nach wie vor Warenform haben, so bleibt auch unklar, wie der Boden seinen Warencharakter verlieren soll. Zustimmend zitiert Gabriele Herter Karl Polanyi, wenn er schreibt: „Märkte sind schlicht isolierte Flecken, die mit der Produktion nicht verbunden sind. Niemals vor dem 19. Jahrhundert wurden sie innerhalb der Gesellschaft bestimmend“ (zit. nach Herter, S. 23f., in: Solidarische Ökonomie, 2006). Soll diese Form des isolierten, vor- und frühmodernen Marktes als Bezugspunkt einer Solidarischen Ökonomie dienen, so wäre allerdings noch zu skizzieren, wie die Produktion auf einer höheren gesellschaftlichen Ebene zu regulieren ist, als sie jene isolierten Lokalwirtschaften der Feudalepoche darstellten, die auf lokalen und regionalen Märkten zusammentrafen, um ihre gelegentlichen Überschüsse zu verkaufen.

Ausblicke

Die Beiträge zur „Solidarischen Ökonomie“ kommen insgesamt zu einem ausgewogenen Urteil. Weder werden die Potenziale jener Projekte und Ansätze, die der Diskurs der Solidarischen Ökonomie versammelt, unterschätzt, noch deren absehbare Grenzen und immanente Herausforderungen kleingeredet. Die theoretische Debatte wird sich weiter befassen müssen: mit dem Verhältnis der Solidarischen Ökonomie zum Staat, dem Verhältnis von Ethik, Handlungsrationalität, Organisations- und Gesellschaftsstruktur, der Einschätzung historischer Erfahrungen mit Selbstverwaltung und Genossenschaften und zu guter Letzt mit der allgemeinen Zielrichtung, in der das Projekt Solidarische Ökonomie sich entwickeln soll. Ist Solidarökonomie bloß ein „Kind der Not“, das ephemere Komplement einer Krisenphase? Ist sie ein Beispiel dafür, wie unter kapitalistischen Bedingungen eine „andere Wirtschaft“ möglich ist? Oder ist Solidarische Ökonomie der erste Schritt auf dem Weg in eine „andere Welt“, in der die Fixierung auf Geldbeziehungen und Warenproduktion zur Disposition zu stellen wäre?

Die fortgesetzte Suche nach Antworten muss dabei mit strategischen Überlegungen einher gehen. So plädieren Irmtraud Schlosser und Bodo Zeuner nach brasilianischem Beispiel für eine engere Kooperation zwischen Solidarökonomie und Gewerkschaft. Zu Recht verweisen sie auf die Gefahr, dass selbstverwaltete Betriebe andernfalls „reformistische Errungenschaften der sozialen Mindestsicherung“ (Gewerkschaften, Genossenschaften und Solidarische Ökonomie, S. 32, in: Solidarische Ökonomie, 2006) untergraben könnten. In der Tat müssen sich Projekte der Solidarischen Ökonomie klar gegen einen „Neoliberalismus von unten“ abgrenzen. Dies kann letztlich nur anhand ihrer gesellschaftlichen Zielsetzung und ihres sozialen Kontextes erfolgen. Gewerkschaften könnten darüber hinaus wichtige Vernetzungsfunktionen übernehmen, was Clarita Müller-Plantenberg in ihrem Beitrag zur „Solidarische(n) Ökonomie in Brasilien“ (S. 112ff., a. a. O.) beschreibt. Es wäre zu diskutieren, ob eine solche Vernetzungsstruktur auch den Rahmen dafür abgeben könnte, den „solidarischen Sektor“ zumindest partiell von den Kapitalbewegungen und Geldbeziehungen der Warenökonomie abzukoppeln. Wolfgang Nitsch schließlich hält unter anderem eine auf die Solidarökonomie bezogene, „aber unabhängige kritisch-solidarische Theorie-, Forschungs- und Bildungsarbeit“, die in „selber solidarisch-ökonomisch zu organisierenden“ Zentren stattfinden solle, für notwendig (Das transformatorische Potenzial der Solidarischen Ökonomie, S. 161f., a. a. O.). Auch dafür könnte Brasilien als Beispiel dienen.

Willi Eberle und Hans Schäppi nennen zwei Voraussetzungen für „eine radikale Linke, welche den Bruch mit dem Kapitalismus anstrebt“ (Über den Keynesianismus hinaus, S. 165, Widerspruch Nr. 50, 2006). Eine solche wäre heute erstens „nur glaubwürdig, wenn sie (…) bereit ist, die sozialistischen Experimente der Vergangenheit schonungslos zu kritisieren“. Darüber hinaus aber müsse sie zweitens „die Entwicklung von konkreten Alternativen, konkreten Utopien zum real existierenden Kapitalismus“ vorantreiben. Denn ohne solche Alternativen könne „niemand von der Notwendigkeit eines Bruchs überzeugt werden“. Das Projekt einer Solidarischen Ökonomie sollte sich auf diese Notwendigkeit hin orientieren.

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