MOZ, Nummer 49
Februar
1990
Ungarn, DDR:

Revolution der Wendehälse

„Weh tut es nur beim ersten Mal“, soll ein hoher ungarischer Funktionär in Anspielung auf den Begriff „Wendehals“ zu seinem Kollegen gemeint haben, als er binnen Monatsfrist zum drittenmal die politische Meinung ändern mußte.

Eine goldene Regel läßt sich mit Sicherheit aufstellen: Ohne Wendehälse keine Revolution. Vor dem historischen Augenblick des Umsturzes versichert sich die Revolutionspartei der Unterstützung mindestens eines Teils des alten Apparats, um für die Zeiten nach der Machtübernahme über die notwendigsten Kenntnisse verfügen zu können. Dem Angebot entspricht eine Nachfrage.

Teile der machtverlustigen Elite gehen auf die Seite der Sieger über. Dabei handeln sie selten aus Überzeugung, vielmehr spielen Angst, Machtgier und Geldsucht eine Rolle. Die zur Macht gewordene Revolution fragt jedoch nicht nach der Motivation, sie bedient sich ihrer Wendehälse. Dem Polizeiminister der Französischen Revolution, Fouchet, war es gelungen, sich jahrzehntelang an der Macht zu halten und dabei das erste moderne Spitzelnetz Europas auszubauen. Unter seinen Opfern befand sich eine Vielzahl seiner ehemaligen Arbeitgeber. Der Menschewik Wischinskij, zunächst ein Gegner der Sowjetmacht, hat sich in den dreißiger Jahren als Oberster Staatsanwalt der UdSSR hervorgetan: als Hauptankläger bei den Stalinschen Schauprozessen beantragte er massenweise Todesurteile gegen waschechte Bolschewikis, berühmte Repräsentanten der Leninschen Garde.

Károly Grósz
Bild: Contrast / Eric Bouvet

„Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“

Die neue Geschichte Osteuropas kennt zahllose Beispiele von schnellen und überraschenden Frontwechseln. Die sich am Ende der vierziger Jahre etablierenden Einparteiendiktaturen erwiesen sich in ihrer sogenannten „Kaderpolitik“ als nicht besonders wählerisch. „Den Sozialismus müssen wir mit dem Menschenmaterial aufbauen, das wir besitzen“, hieß der Leninsche Slogan. So wurde beim Aufbau des neuen Apparats nicht nach Überzeugung, sondern nach Gesinnung gefragt — Opportunisten waren von Anfang an bevorzugt. Offiziell hieß es ohnehin: die ganze Bevölkerung stehe hinter der Partei, was die 99,8% Ja-Stimmen bei den jeweiligen Wahlen eindeutig demonstrierten.

Daß dem gar nicht so ist, erfuhren die ungarischen Kommunisten als erste. In den Tagen des Oktoberaufstandes brach ihre Millionenpartei in wenigen Stunden zusammen. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Panzer und der Etablierung des Kádár-Systems stellte sich eine gewisse Ernüchterung ein. Ein zynischer Altkommunist meinte damals: Eigentlich sollte man den Intellektuellen, die an der Vorbereitung des Umsturzes maßgebend beteiligt waren, verzeihen und sie in die Partei wiederaufnehmen. „Lassen wir die Leute ihre Masken wieder anziehen“, sagte er.

Teilweise folgte die KP diesem weisen Rat. Es kamen die Jahre der Auflockerung. „Wer nicht gegen uns ist, ist mit uns“, verkündete Kádár im Frühjahr 1962 — ein direkter Aufruf zum Vergessen des Oktobers 1956.

Damit ist es ihm gelungen, die ganze politische Klasse und den Großteil der Künstler und Wissenschaftler auf seine Seite zu ziehen. Jeder dachte sich das seine — in Ungarn gab es dreißig Jahre lang einen politischen Maskenball.

Im Jahre 1968 wurde eine Wirtschaftsreform verkündet, vier Jahre später wurde sie auf sowjetischen Druck hin abgeblasen. 1978 verstärkten sich erneut die Reformbewegungen, danach gab es mehrere Aufs und Abs, in den Jahren 1988/89 setzten sich radikale Reformgruppen durch. Die dazugehörenden Gesetze wurden von der jeweiligen Mehrheit der Nationalversammlung fast ohne Gegenstimmen angenommen. Von der streng zentralisierten Planwirtschaft bis zur freiesten Marktwirtschaft fanden diese Leute alles gut, wenn es nur von oben angeordnet wurde. Oder, anders benannt: ein Parlament als Wendehals.

Für und gegen Nagymaros

In den letzten zwei Jahren stimmten die Landesväter zweimal über das Projekt des Wasserkraftwerkes Nagymaros-Gabcikovo ab. Dieselbe Mehrheit bejahte das Projekt und lehnte es ab. Und dies nicht mehr zu Zeiten der Diktatur, sondern im demokratischen parlamentarischen Rahmen.

Die größten Wendehälse saßen natürlich an der Spitze der Macht. Kádár wurde von seinen engsten Mitarbeitern gestürzt. Einer von ihnen hieß Károly Grósz — der Name gerät schon heute in Vergessenheit. Grósz erschien im Jahre 1985 auf der politischen Bildfläche und fiel sofort mit der Äußerung auf, er sei stolz auf die fünfziger Jahre — ein eindeutiges Zeichen der Zugehörigkeit zu den erklärten Reformgegnern. Zwei Jahre später meldete er sich wieder, diesmal als Oberster Reformer und hochgeschätzter Verhandlungspartner von BRD-Bundeskanzler Kohl. Nach einigem Zögern bejahte er das Mehrparteiensystem in Ungarn, einen Monat später sprach er jedoch von der Gefahr des weißen Terrors.

Der oberste Zensor und Chefideologe der letzten Kádár-Jahre, János Berecz, erwies sich als noch doppelzüngiger. Im November 1986, als auf dem Kongreß des Schriftstellerverbandes mehrere Autoren über die katastrophale Lage des Landes sprachen, erwiderte ihnen der damals als potentieller Kádár-Nachfolger gehandelte Berecz spöttisch: „Demnach steht eine erniedrigte, zusammengebrochene, vernichtete Nation vor uns ... dann bleibt uns nichts anderes übrig, als den Laden dichtzumachen. Dann gibt es nur einen Ausweg: Das Zentralkomitee der Sozialistischen Arbeiterpartei Ungarns dankt ab ...“

Zwei Jahre später sprach er über die Notwendigkeit eines radikalen Systemwechsels und entschuldigte sich für seine Bücher, in denen er den Oktoberaufstand als Konterrevolution verfemt hatte. Alles zu spät, denn seine ironisch gemeinten Worte von damals erwiesen sich als prophetisch: die USAP mußte tatsächlich „den Laden dichtmachen“, und Berecz ist heute — übrigens zusammen mit Grósz — ein Aussenseiter der politischen Szene des Landes.

Nicht alle Vertreter der alten Garde sind jedoch vom politischen Sturm hinweggefegt worden. Ein Paradoxon der Budapester Erneuerung ist die Tatsache, daß der Innenminister István Horváth, verantwortlich für die Unterdrückung der kritisch-oppositionellen Gruppen, nach wie vor in Amt und Würde bleiber konnte. In eingeweihten Kreisen gilt er sogar als heimlicher Reformer während der Kádár-Zeiten, obwohl bislang keine einzige Tatsache in der Öffentlichkeit bekannt geworden ist, die diese Version belegen könnte. Was für ihn wichtiger ist: Horváth ist ein persönlicher Freund des Spitzenreformers Imre Pozsgay — und in Ungarn zählen gute Bekanntschaften manchmal mehr als politische Prinzipien.

Ungarns typischer Wendehals ist jedoch nicht der Spitzenfunktionär von gestern, der heute das Gegenteil von dem sagt, was er jahrzehntelang verkündete. Es sind auch nicht die Intellektuellen aus dem literarisch-künstlerischen Bereich, Günstlinge der früheren Kulturpolitik. Typisch sind eher die zigtausenden Beamten aus allen Ministerien und Provinzbehörden, Direktoren von Großbetrieben, die nun bereit sind, neue Instruktionen von der neuen Macht zu bekommen. Diese Schichten — die eigentliche Basis des Kádár-Systems waren ideologisch nie sehr geprägt, eher zynisch-gemütlich, sich der Bedeutung ihrer Machtbefugnisse und der dazugehörigen Privilegien bewußt. Gleichzeitig bilden sie die einzige Bevölkerungsgruppe, die über Erfahrungen im Verwalten eines Systems verfügt. Während sich die Volkswut vor allem gegen ein paar pensionierte Provinzpaschas richtet, die nach wie vor ihre hohen Renten und Jagdhütten behalten, kam es in dieser mittleren Funktionärsschicht der sogenannten Fachverwaltung zu keinen wesentlichen Veränderungen.

Parasit und Umweltschützer

Der offizielle Kommunismus in Ungarn war schon seit den 70er-Jahren ein immer lockerer werdendes Tabusystem. Dagegen erscheint seine DDR-Version besonders straff und in allen Details streng geregelt. Die SED-Spitzen gaben sich nach außen als unerschütterliche Verfechter der Idee. Die Wende kam für sie relativ unerwartet. Ihre graue Eminenz hieß Markus Wolf. Der pensionierte Spionagechef begann plötzlich, sich in Belletristik zu üben. In seinem Kolportageroman „Die Trojka“ versuchte er eine mehr als vorsichtige Kritik an der Parteiführung — sicher nicht ohne Rückendeckung seiner früheren Kollegen aus der Staatssicherheit.

Die Wendehälse in der DDR waren sehr stark aufeinander angewiesen. Hermann Kant, der als Vorsitzender des Schriftstellerverbandes persönlich für den Exodus einer Reihe von DDR-Literaten verantwortlich zeichnete, schrieb angesichts der ernsten Situation im Oktober 1989 einen offenen selbstkritischen Brief. Dieser Brief erschien ausgerechnet in dem FDJ-Organ „Junge Welt“, deren Chefredakteur Hans-Dieter Schütt kaum ein Jahr zuvor die Oppositionellen, Ausreisewilligen und Umweltschützer in einen Topf mit „Parasiten“, „Kapitalismusanbetern“ und „Landesverrätern“ geworfen hatte. Nun hieß es aus derselben Feder, es lebe die freie Reise, der demokratische Aufbruch und die öffentliche Umweltpolitik.

Als Erich Honecker gestürzt worden war, gab es seitens der ehemaligen Machtelite keine einzige Stimme für ihn — nur der Dissident Stefan Heym plädierte für eine faire Behandlung.

Der Machtwechsel an der SED-Spitze brachte eine Konstellation mit sich, die in Ungarn in dem Maße unvorstellbar gewesen wäre. Egon Krenz wurde zum Nachfolger des gestürzten Generalsekretärs. Mit seiner langjährigen und ziemlich bekannten Rolle als Hardliner, nicht zuletzt durch seine Grußbotschaft an Peking nach der Niederwerfung der dortigen Studentendemonstrationen, erwies sich Krenz sehr bald als Haupthindernis auf dem Weg zu echten Veränderungen. Dabei versuchte er, in einem Monat all das zu tun, was das Gegenteil seines vormaligen politischen Credos war: er ließ die Mauer öffnen, die Opposition legalisieren, Wolf Biermann Konzerte machen. Trotzdem war es ihm nicht gelungen, auch nur einen Hauch von Glaubwürdigkeit zu erhalten. Seine Ernennung zum Nachfolger Honeckers erwies sich als der mit Abstand kapitalste Fehler der SED. Dieser oberste Wendehals schadete sogar seinen relativ weniger kompromittierten Genossen: seine anderthalbmonatige Herrschaft beeinträchtigt bis heute den Kredit von Hans Modrow und Gregor Gysi — ein Musterbeispiel dafür, wie das Fehlen von moralischen Prinzipien in der Politik früher oder später als politischer Fehler zurückschlägt.

Franz Josef Strauß

Der Meistgewendete: Franz Josef Strauß

In Ungarn spricht man heutzutage öfters davon, das Land bräuchte „authentische Persönlichkeiten“, das heißt, Politiker, die sich in der Vergangenheit nicht kompromittiert hätten, deren Worte an ihren Taten gemessen werden können. In der DDR stellt sich diese Forderung noch viel extremer. Die Wende wurde unter dem Druck der Massen von einem Apparat vollzogen, dessen Substanz — abgesehen von der Rotation der Spitze — unverändert blieb. Nun müssen diese Leute über eine „Vertragsgemeinschaft“ mit der Bundesrepublik sprechen, dem westdeutschen Kapital 49% Beteiligung an DDR-Projekten erlauben und sehr bald sogar irgendeine Form der Wiedervereinigung akzeptieren. Dabei handelt es sich keineswegs nur um ökonomische Zwänge, sondern um das Bedürfnis der Machterhaltung. Die paternalistische Rolle der UdSSR übernimmt jetzt die jeweilige BRD-Bundesregierung — sie ist die eigentliche Legitimationsquelle der jetzigen SED-Mannschaft.

Natürlich ist diese Geschichte nicht so neu, wie sie aussieht. Im Jahre 1983 erhielt die DDR einen Milliardenkredit, dessen geheimer Vermittler von ostdeutscher Seite der Staatssekretär Schalk-Golodkowski war, der vor ein paar Wochen seine Gefängniszelle in Moabit-Westberlin verlassen konnte. Seine damaligen Auftraggeber sind nicht so günstig davongekommen — sie sitzen wegen Amtsmißbrauch und Korruption noch unter Hausarrest. Es scheint, als wäre die Tätigkeit eines Honecker oder Mittag etwas ganz Extraordinäres im Rahmen einer ansonsten normalen Regierungspraxis. Als wäre dieser Amtsmißbrauch mehr als die gewöhnliche Machtausübung in einem zentralisierten Staatswesen, als wäre die Korruption eine Abweichung von der normalen Handelstätigkeit des realsozialistischen Staates.

Jenen Milliardenkredit des Jahres 1983 hat von bundesdeutscher Seite Franz Josef Strauß ermöglicht, nachdem er mit Honecker gemütlich über Jagderlebnisse plaudern konnte. Wenige Monate zuvor nannte er den Generalsekretär noch „Mörder“, jahrzehntelang schrieb er die DDR in Anführungszeichen oder nannte sie „sowjetische Besatzungszone“. So gesehen können wir Strauß als den größten Wendehals der deutschen Nachkriegsgeschichte betrachten.

Natürlich ist es unmöglich, Politik nur unter dem Blickwinkel der Moral zu beurteilen. Politik ist Beruf und Kunst gleichzeitig. Andererseits müssen wir verstehen, daß die Normalbevölkerung sowohl in Ungarn wie auch in der DDR die politischen Kehrwendungen der letzten Jahre kaum nachvollziehen kann. In der Reaktion der Staatsbürger dem Meer der Lüge gegenüber, das sie nach wie vor umgibt, wächst der Verdacht, von allen und immer verraten, ausverkauft und hintergangen zu werden.

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