Streifzüge, Heft 1/2002
März
2002

Schmähohne!

Im Zuge der Trennung innerhalb unsrer Redaktion im vergangenen Jahr wurde vorgehalten, wir hätten keine Position zum Antisemismus respective würden ihn nicht ernst genug nehmen. Hier soll gezeigt werden, wie ernst wir den Antisemitismus nehmen, jeden Falls ernst genug, um ihn nicht auf ein irrationales Geschehen zwischen Deutschen und Juden zu reduzieren. Ich beziehe eine Position, die keine Schuld exkulpiert, aber auch nicht eine alleinige Schuld zum Anlass nehmen will, sich gegenüber Tätern zu profilieren und die Opfer neu zu definieren, um den eigenen Ort zu befestigen. Sonst wird in der Tat das, was geschah und geschieht, lediglich einem voluntaristischen Bösen zugerechnet und die Genese dieses Bösen von der bürgerlichen Gesellschaft abgekoppelt. Auf dieser Folie spielt wohl das Bedürfnis, sich in geordneten, unverdächtigen bürgerlichen Verhältnissen bewegen zu können, sich nicht mit deren Aporien und Widersprüchen auseinander setzen zu müssen, also gut zu sein, eine nicht unbeträchtliche Rolle.

Das Jahr neunzehnfünfundvierzig markiert eine Wasserscheide. Ab diesem Zeitpunkt ist es manifest, dass ein Phänomen, das ein Jahrhundert davor noch als Judenfrage diskutiert wurde, seine nun endgültige Form als eliminatorischer Antisemitismus gefunden hatte. Wobei eliminatorischer Antisemitismus ein terminus technicus ist, der oft und gern von den am meisten berufenen KritikerInnen verwandt wird, wenn sie die historische Klarheit ihrer Ansichten ausgießen und zu verstehen geben, wie an derlei Unrat heran zu gehen und die weiße Weste der Nachgeburt zu bewahren sei. Ich begnüge mich damit, den Völkermord an der jüdischen Bevölkerung Europas Völkermord zu nennen und dar zu stellen, wie und warum es von der Judenfrage zum Völkermord gekommen ist; nota bene die Judenfrage eigentlich keine nach den Juden war, sondern eine nach der modernen aufgeklärten Gesellschaft.

So gesehen mag es auch nicht notwendig erscheinen, auf die religiös motivierten Barbarein einzugehen, die die christlichen Geschwister den jüdischen Gemeinden unterstellten, um sie dann selbst auszuführen. Wenn wir mit Antisemitismus zu tun haben und uns einer kritischen Darstellung unterwinden, dann haben wir mit der Moderne zu tun und können die religiöse Vorgeschichte nur streifen. [1] Ebenso werden wir Judenverfolgungen, von denen das Alte Testament berichtet, nur am Rande streifen. Wenn die Perser die Judenverfolgungen mit der Andersartigkeit der jüdischen Bevölkerung, die Ptolemaier aber sie damit begründen, dass die Juden die hellenistischen Gesetze nicht halten wollen, dann interessiert das nur am Rande. In unserer Gesellschaft reflektiert der Antisemitismus nicht das Andersartige, sondern ist Ausfluss des Blicks und der Reaktion der Gesellschaft auf sich selbst.

Wenn das christliche Universum selbst mit der Geburt der modernen Geldwelt konfrontiert wird, haben es nun die Mitglieder einer Gesellschaft plötzlich damit zu tun, dass etwas, was vorher Sünde war, nun zur gesellschaftlichen Tugend geworden ist: die Vermehrung des Gelds. Wo das Kapital, das sich selbst vermehrt, den Hort oder Schatz ablöst, der zum Verzehr ansteht, wird Reichtum von den sinnlichen Genüssen abgespalten. Diese Abspaltung läuft der Tugend der , milte‘ (der Gnade oder Mildtätigkeit, der Pflicht zum Almosen), die von Höfen und Klöstern gefordert wird, zuwider. Nun ist der Reichtum einer, der für sich ist und nicht für andre, und so taucht er auch folgerichtig vergöttlicht (richtiger verteufelt, vergötzt) in der religiösen Kritik als Mammon, der die Welt sich untertan macht, auf. [2]

Die erste Kritik am Geld erscheint also von Anfang an immer mit dem Unterton, dass wer von Geld spricht, Sünde sagen muss. Reichtum tritt nur im Zusammenhang mit Todsünden auf, mit Neid, Geiz, Habgier, Stolz; jedenfalls ist er nicht christlich kompatibel. Es ist nun leicht, in dieser Ursprungsgeschichte der Moderne die Kritik am Geld mit der jüdischen Bevölkerung in Verbindung zu bringen. Denn sie waren in der feudalen Gesellschaft für das Geldwesen zuständig, wenigstens wird das von ihnen behauptet. In jedem Fall verkörperten die jüdischen Gemeinden eine Weltläufigkeit, die noch aus der Antike zu stammen scheint; sie schienen sich auf Bahnen zu bewegen, die allen anderen verschlossen waren, und diese Bahnen waren nur wieder ihnen offen, da ihnen die Räume der christlich geordneten Welt verschlossen waren, hatten sie doch den falschen Glauben.

Aber dass es die jüdische Bevölkerung sein muss, an der sich die unreflektierte Abwehr der Geldwirtschaft entzündet, ist zunächst einmal noch gar nicht ausgemacht. Wo der christliche Frühkapitalismus mit Fernhandel, doppelter Buchhaltung und Bankwesen sich jenseits der gewohnten territorialen und rechtlichen Gegebenheiten entfaltete und die feudalen und städtebürgerlichen Grenzen überschritt, war die Gleichsetzung von Geld und Heimatlosigkeit auch schon gegeben. Widerstand dagegen verwandelte sich in den plebejischen Traditionen zum Heldentum, unabhängig davon, was die Motive für die Taten von Volkshelden gewesen sein mögen.

Jedenfalls wird in dieser Form von Widerstand (oder dessen Verklärung) eines deutlich: hier handelt es sich nicht um die Auseinandersetzung mit etwas, das von außen in eine hermetische Gesellschaft, wie die feudale es war, hineingetragen wurde, sondern um eine Auseinandersetzung mit etwas, das aus der Gesellschaft selbst erwuchs, zwar die bislang gültige Ordnung umstieß, dieses Umstoßen aber zur nun bewegenden Kraft aller Geselligkeit machte. Dass in Hinkunft nichts mehr sicher sein, dass diese Aufgabe der Sicherheit eines zyklischen, geschlossenen Weltgefüges nun die Kraft der Ruhe ablösen sollte, erklärt die mythische Kraft der Sagen von den edlen Räubern, die den Reichen nahmen um den Armen zu geben. Hier spreche ich noch gar nicht von der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals, wie sie Marx (oder Foucault mit all ihren sozialen Architekturen) beschreibt. Hier spreche ich nur von einem ersten Ausblick auf die Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus, der schon alle Aporien bereit hält; so wird im Fernhandel der Preis durch den Gebrauchswert bestimmt, was zwar aussieht, als hätte die Kapitalbewegung noch nicht zu sich gefunden, andrerseits aber schon eine Entwicklung vorweg nimmt, deren Zeugen wir heute sind. [3] Ebenso ist eine Zirkulationssphäre, die sich souverän über die bestehenden territorialen und legistischen Schranken hinweg setzt, sonderbar vertraut.

Wenn nun Geld als ein Medium in die Welt kam, das im Stande war, die gesamte soziale Kommunikation neu zu gestalten, wenn diese neue Art der Kommunikation nur zögerlich und oft abwehrend angenommen wurde, liegt es dann nicht nahe, dass in der alten Welt außerhalb stehende Menschengruppe mit diesem neuen an die Welt heran getragenen Medium identifiziert wird? So weit scheint die Erklärung stimmig zu sein bis auf den Umstand, dass Fugger und Welser gerade keine Juden waren. Es dürfte also das Geld selbst gewesen sein, das kritisiert und aus dieser Welt wieder geworfen werden sollte; wer damit identifiziert wurde, ob zu Recht oder nicht, scheint zunächst von zweitrangiger Bedeutung zu sein. Es hätte jeden treffen können, und dass die Gestalten von Klaus Störtebeker bis zum Hauptmann Grasl (vielleicht erringt auch Ulrike Meinhof noch ihren Platz in diesem Olymp) solche Popularität genießen, hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass es gegen die Pfeffersäcke (oder Ölfässer) geht.

Als wesentlichste Folgerung aus dieser Einführung ergibt sich nun, dass ein Phänomen wie der Antisemitismus einerseits nur in der bürger lichen Geselligkeit auftreten kann, nur sie die Ingredienzen für dieses Gebräu jeder Zeit mischen konnte; es muss aber nicht unbedingt die jüdischen Bevölkerungen treffen. Im mittel-und westeuropäischen Raum aber war sie als eine Bevölkerung vorhanden, die sich anbot als Ziel des plebejischen Widerstands, während für die Christen durch die Reformation und den Fall des Zinsverbots der gesellschaftliche Reichtum neu definiert worden war und auch, wie sich eins zu diesem Reichtum gottgefällig zu verhalten hätte, dass dieser Reichtum eben Zeichen der Gnade Gottes und daher verantwortlich zu nutzen im Sinne sozialer Wohlfahrt und durch persönlichen Konsum wenig anzugreifen war (schließlich handelte es sich ja um zu kreditierendes Kapital). Die jüdische Bevölkerung aber kam nicht in den Genuss der Reformation, die ja nichts anderes darstellte als die Neuorientierung der christlichen Gemeinschaften in Gesellschaften, die über den bisher gültigen feudalen Status hinaus schritten. [4]

Um diese erste Beschreibung zusammen zu fassen: Antisemitismus, soweit er als Hervorbringung der bürgerlichen Geselligkeit zu sehen ist, fußt nicht auf der Reaktion auf etwas Andersartiges, nicht auf der Konfrontation mit dem Fremden; die Basis und der Ausgangspunkt von Antisemitismus ist die Verstörtheit eines plebejischen Widerstands oder Aufbegehrens gegen die Zumutungen einer Geld- und Zeitwirtschaft, die sich nicht mehr an natürlichen Tages-, Jahres-, Arbeits- und Mußezeiten, Zeiten für Ernte und Aussaat orientiert und statt dessen den Menschen mechanisierte und institutionalisierte Rhythmen anbietet. So werden die Leute, dessen ungewohnt, in einer ihnen unbegreiflichen Art ermüdet, wie sie in einer ihnen unbegreiflichen Art verarmen, weil ihnen der Zugriff auf Güter durch Rechts- und Eigentumstitel verwehrt ist, die Privilegien durch Verträge ersetzt sind.

Ermüdung und Verarmung werden aber konkret, sinnlich wahrnehmbar erfahren, wobei ihnen keine Person gegenüber steht, die eine Beschwerde entgegen nimmt oder als für diese Zustände verantwortlich verklagt werden kann. So richtet sich der Zorn gegen eine Ungerechtigkeit, die real aber abstrakt ist, erlebt aber nicht dingfest gemacht wird, und diese Aussichtslosigkeit [5] findet schließlich ihr Ventil in den am meisten hervor stechenden Personen, denen auf Grund ihres unfassbaren Reichtums die unlautersten Motive unterstellt werden können. Sind es heute die Spekulanten, denen womöglich noch Verschwörungen gegen die Welt anphantasiert werden, waren es in der Frühzeit des Kapitalismus die Pfeffersäcke. Ab diesem Zeitpunkt konnten auch die Juden zum Sündenbock und Blitzableiter werden.

Sie entbehrten während der Entstehungszeit der bürgerlichen Gesellschaft des religiösen Schutzes; ihre Integration in die bürgerliche Geselligkeit war von Anfang an Gegenstand des Diskurses der Aufklärung und Inhalt der Versprechen einer Gesellschaft, die nur der Vernunft verpflichtet und in ihrem Bestand von ihr garantiert war. Nach dem kurzen Frühling der Toleranz in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aber war klar geworden, welche Gestalt die egalitären Versprechungen annehmen würden: Gleichheit gab es nur vor dem Gesetz, dem Recht, dem Geld, dem Vertrag, der Konkurrenz, der Nation, jeden Falls nicht vor Moral und Geist. Diese Gleichheit konnte nur wirksam sein durch die Freiheit von allen ständischen Bindungen, als Freiheit (oder Freiwilligkeit) sich diesen Bedingungen zu unterwerfen und sie als die Bedingungen der eigenen Existenz zu verinnerlichen. Dies forderte natürlich mit aller Vehemenz, dass alte herkömmliche Zusammenhalte aufzugeben sein, und was als Judenfrage diskutiert wurde, rührte an das definitorische Selbstverständnis nicht nur der jüdischen Bevölkerung sondern der gesamten Gesellschaft. Definierte sie sich entlang einer religiösen Toleranz, so waren die jüdischen Mitglieder eben bloß Mitglieder dieser Gesellschaft, in der der Schutz und die Ausübung diverser Kulte garantiert waren. Definierte aber die Religion Forderungen an die Gesellschaft, die sie anhielt, nicht nur die Religionsfreiheit zu garantieren, sondern der Gesellschaft selbst das Gewand ihrer religiösen Tradition anzulegen, so standen die abstrakten Freiheiten und Gleichheiten der Gesellschaft selbst zur Disposition.

0Die Judenfrage des 19. und frühen 20. Jahrhunderts suchte also – auch innerhalb der jüdischen Gemeinden – auf verschiedene Weise Antwort auf die Frage, was denn nun jüdisch sei und was nicht. Durch die Taufe selbst war die Frage nicht beantwortet, da die christliche Umwelt dann eben von getauften Juden sprach. Die Abstammung konnte diese Frage auch nicht klären, da das jüdische Gesetz die Abstammung von der Mutter kennt (das Kind ist jüdisch, auch wenn es der Vater nicht ist), was im Gegensatz zur patriarchalen Umwelt steht. Es schien, als sollte die Frage nach der jüdischen Identität auf eine merkwürdige Weise offen bleiben, und statt dessen die Identität durch die enge Verbindung mit der bürgerlichen Gesellschaft befestigt werden. Dieser Ausweg erscheint frappierend modern und zeigt Anklänge an das, was Verfassungspatriotismus genannt wird, wo sich nationaler Patriotismus an der Geschichte und der Globalisierung blamiert.

Der Ausweg war aber nur gangbar, solange er abstrakt blieb. An seinen Konkretisierungen zeigte sich sofort die Gefahr des Antisemitismus. Zum Einen lieferte die Zuwanderung verarmter und vertriebener jüdischer Gemeinden aus dem Osten Europas [6] ein Zerrbild all dessen, was die moderne Gesellschaft (auch die jüdische Integration) an Rückständigem verspottet und verachtet; gleichzeitig entstand ein ethnografisch- kolonialer Blick (auch der jüdischen Intelligenz von Herzl bis Gebirtig) auf diese Gemeinden, der einher ging mit einem sich entwickelnden nationalen Selbstbewusstsein, dass sich in jiddischer Literatur und Kunst ausdrückte und im Zionismus seinen für die damalige Zeit durchaus üblichen Ausdruck einer nachholenden modernisierenden Nationswerdung mit Landnahme und künstlicher Herstellung einer Schriftsprache fand.

Zum Anderen wurde die bedingungslose Integration der sogenannten emanzipierten Juden in das bürgerliche Wesen und den bürgerlichen Betrieb der Vorwand und Anstoß für eine gehässige Polemik, die dem integrierten Judentum vorwarf, sich parasitär in s gemachte Nest zu setzen, schmarotzend keiner eigenen produktiven Ideen fähig zu sein und von der Kraft seiner Umgebung zu leben und diese auszubeuten. [7] Von da zum Vorwurf der Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft war es nur ein kleiner Schritt. Das Besondere am Antisemitismus ist aber, dass hier nicht eine Nation gegen die andere gestellt wird im Kampf um den Platz an der Sonne, die auf den Marktplatz bürgerlicher Konkurrenz scheint; auch haben wir es nicht mit Rassismus zu tun, wie er paternalistisch sich während des Kolonialismus entwickelte und davor zu dessen Legitimation. Der Antisemitismus entsteht, wie oben schon ausgeführt, nicht aus der Konfrontation mit dem von außen heran tretenden Anderen. Er entsteht aus der Konfrontation mit dem Eigenen. Der Antisemitismus, der bürgerliche Antisemitismus, personifiziert an der jüdischen Bevölkerung alles, was an der bürgerlichen Geselligkeit notwendig unbegriffen und unbegreifbar bleibt, und bekämpft es. Moishe Postone stellt in seinem Aufsatz „Nationalsozialismus und Antisemitismus – Ein theoretischer Versuch“ diese Beziehung her: „Betrachtet man die besonderen Charakteristika der Macht, die der moderne Antisemitismus den Juden zuordnet – nämlich Abstraktheit, Unfassbarkeit, Universalität, Mobilität – dann fällt auf, dass es hierbei um Charakteristika der Wertdimension jener gesellschaftlichen Formen handelt, die Marx analysiert hat.“ Er beschreibt dann diese Formen (Kapital- und Warenform), wie sie auf Grund ihres Fetischcharakters durch eine biologistische Ideologie hindurch wahrgenommen werden. Als gesund, natürlich, originär wachsend erscheinen dabei Industriekapital, technologischer Fortschritt, Vollbeschäftigung, etcet. , während Finanz- und zinstragendes Kapital als parasitäre Wucherungen an der Wirtschaft sich im kollektiven Bewusstsein fest setzen. Es entsteht als innere gesellschaftliche Bewegung Zustimmung und Abwehr zugleich. Es soll die eine Seite der Medaille durch die Vernichtung der anderen erhalten werden, und so wird durch Ablehnung die Befestigung des Gleichen erwirkt.

Postone weiter: „Der , antikapitalistische‘ Angriff bleibt jedoch nicht bei der Attacke auf das Abstrakte als Abstraktem stehen. Selbst die abstrakte Seite erscheint vergegenständlicht. Auf der Ebene des Kapitalfetischs wird nicht nur die konkrete Seite naturalisiert und biologisiert, sondern auch die erscheinende abstrakte Seite, die nun in Gestalt des Juden wahrgenommen wird. So wird der Gegensatz von stofflich Konkretem und Abstraktem zum rassischen Gegensatz von Arier und Jude. Der moderne Antisemitismus besteht in der Biologisierung des Kapitalismus – der selbst nur unter der Form des erscheinenden Abstrakten verstanden wird – als internationales Judentum. Meiner Deutung nach wurden die Juden also nicht nur mit dem Geld, das heißt der Zirkulationssphäre, sondern mit dem Kapitalismus überhaupt gleichgesetzt.“ Wo nun dieser Kapitalismus als Alltagsbewusstsein zu sich kommt, wird aber die Identifikation der Juden mit dem Kapitalismus nicht wahrgenommen. Dies hätte für die Antisemiten ja zur Voraussetzung, dass sie auf dem selben hohen Reflexionsniveau wie Postone ihre Ideologie ausbreiten müssten, worauf natürlich zu folgen hätte, dass der antikapitalistische Angriff sich nun nicht gegen das personalisierte Abstrakte zu richten hätte sondern gegen das unfassbar Konkrete der Arbeit selbst. Für das Alltagsbewusstsein mag aber weiterhin gelten, dass für die Ungerechtigkeiten der Welt diejenigen belangt werden, die über das Geld und seine Verteilung verfügen.

So finden wir ein Alltagsbewusstsein vor, das ermüdet, isoliert und unbefriedigt an der Arbeit leidet und sich eine Personnage dazu phantasiert, der Verantwortung für diese Zustände aufgebürdet werden kann. Diese Verantwortung wird dem aufgeladen, das prima vista die Vereinzelung und Abtrennung des konkreten Subjekts von der Gesellschaft durchführt: dem Geld und den damit einher gehenden unbegreiflichen Eigentums- und Reichtumsformen. Wo Eigentum und Reichtum nicht als Verzehr und Genuß erlebbar sind, sondern als Rechtstitel die Bühne betreten, erscheinen sie als Mangel, ja als Raub. Die plebejischen Widerstandsformen dagegen sind mannigfach. Von Wegelagerei und Piraterie [8] über Maschinenstürmerei bis zur geordneten Aktion von proletarischen und kleinbürgerlichen Organisationen finden wir als Feind das Geld definiert, das die Arbeit nicht zu ihrem Recht kommen lassen will. Als Personifizierung finden wir jene, die das Geld vorgeblich bewegen, Juden und neuerdings Spekulanten.

Die Ermüdung und Verarmung werden nicht der Arbeit angelastet, im Gegenteil wird diese als Grundlage der eigenen Existenz gelobt und nicht in Frage gestellt; mehr noch, sie wird revolutionär gegen den Kapitalismus überhaupt gestellt. Auf dieser Ebene bekommt in der Folge der mörderische Angriff auf das Judentum seine antikapitalistische Konnotation und wird zur Klammer, die eine neu gegründete Volksgemeinschaft als Alternative zum Kapitalismus zusammen hält. Dem Alltagsbewusstsein entgeht dabei natürlich diese Dimension. Es entbehrt jeder Abstraktion und sieht nur das Konkrete, das bar jeder Zurichtung ist. Es erkennt sein Leid, und das genügt, um die Schuldigen zu suchen und sei es vergeblich. Konkrete Menschen in ihrer Karikatur langen hin. Da braucht es keine Ideologie und keine Erklärung. Diese persönliche Dimension ist es dann auch, die Mitläufertum ebenso wie den gerechten SS-Mann erklärt, der das jüdische Leid nicht ansehen kann und folgerichtig zum Gerechten wird. Das Kennen der jüdischen NachbarInnen erlaubt die Erretttung genauso wie den Tod. Dem gegenüber aber wird das ideologisch-völkisch-plebejische Bewusstsein durchaus den Angriff auf die Juden mit dem Angriff auf den Kapitalismus gleich setzen und so die Attacke legitimieren. Ansonsten begnügt sich das Alltagsbewusstsein mit der ehrlichen Überzeugung, nichts gegen Juden zu haben. Einige seiner besten Freunde seien Juden. So gesehen wird es auch ambivalent gegenüber den eigenen revolutionären, radikalen, antisemitischen Ansprüchen bleiben, [9] denn „Menschen sind wir ja alle“.

Unter diesem Gesichtspunkt ist Postone insoweit zu präzisieren, dass zwar der Angriff auf die Juden durchaus den Angriff auf den Kapitalismus meint, der Kapitalismus aber noch immer verzerrt gesehen wird, indem der Angriff auf die Arbeit zugunsten des Angriffs auf s Geld hintan gestellt wird. Der Antisemitismus entbehrt also jeder wertkritischen Dimension. [10] So entsteht auch das Stereotyp vom Gegensatz zwischen raffendem und schaffendem Kapital auf der Folie eines selbstreferentiellen Bewusstseins, das sich selbst auf der Ebene, dass wir alle Menschen sind, als antikapitalistisch begreift, aber gleichzeitig Menschen definiert als produktiv und wertschöpfend. Dass wer arbeitet, essen soll, ist diesem Bewusstsein einsichtig. Dass wer nur zur Welt gekommen ist, schon essen soll (wie es einem Säugetier zusteht), ist ihm dann schwerer zu verinnerlichen. Wo also der Mensch dem Menschen nicht als Wolf sondern als Mensch begegnet, können wir diese sympathische Dimension begrüßen, verhehlen aber nicht unsere Kritik am Ressentiment, dass wir alle Menschen sind. Nicht aus der Definition der singulären Erfahrung wollen wir diese Aussage ableiten, sondern aus der Kritik der conditio humana.

Diese conditio humana ist aber eben nicht human in einem anthropologischen Sinn sondern umfasst nur die conditio eines kleinen Abschnitts der Menschheitsgeschichte. Wir [11] begreifen daher diese conditio als Aufgabe, die zu einer Definition von Bedingungen des. Menschlichen führen muss, die bislang noch nicht vorgekommen ist und für die es keine Vor bilder gibt. Wir greifen nicht auf die Zeiten zurück, in denen Fehde, Verbannung und Gottesurteile galten, auch wenn sie eine längere Tradition für sich beanspruchen könen als der Code Napoléon. Wir wollen nicht kaiserliche Gerichtsbarkeit, Privilegien und Reichsunmittelbarkeiten für uns in Anspruch nehmen, ebenso wenig wie Verfassungen und Deklarationen von Menschenrechten. Wir stellen uns die Aufgabe so: wenn es den Heutigen und Hiesigen leicht fällt, Antisemiten zu sein, und schwer, meine elaborierten Ableitungen (und die Postones oder Kurz’) zu verstehen, so müssen wir eine Welt erzeugen, in der die Leute verblüfft und verständnislos vor der Tatsache stehen, dass unsere Voreltern leichten Muts Antisemiten waren, und in der uns ebenso leichten Muts ein Aufsatz wie der Postones als Anmerkung auf Volksschulniveau erscheint.

dixi et salvavi animam meam [12]

[1Begnügen wir uns mit der Tatsache, dass in der Antike, zur Zeit der Entstehung und Durchsetzung des Christentums dessen Anhängerinnen und Adepten sich vom Judentum einerseits abstießen, um in die Antike mit ihrer hellenistischen Kultur und ihren modernen religiösen Äußerungen, den Mysterienkulten, Eingang zu finden ohne als konservativ und hinterwäldlerisch verlacht zu werden, andrerseits beharrte aber etwa die christliche Gemeinde Roms noch lange darauf, als jüdische Gemeinde angesehen zu werden, da sie als jüdische Gemeinde gewisse Privilegien besaß und etwa vom verpflichtenden Kaiserkult befreit war. Unter den christlichen Gemeinden selbst waren die Bezüge auf die jüdische Herkunft und das jüdische Gesetz verschieden stark ausgeprägt. Ebenso war oft in den Gemeinden umstritten, ob nun die Römer oder die Juden die Gottesmörder waren, genauso wie es unklar war ob Bekehrte sich vor der Taufe (christlich) auch beschneiden lassen müssten (jüdisch).

[2Das christliche Zinsverbot wurde erst im 16. Jhdt. fallen gelassen.

[3Wo heute der Gebrauchswert als ein Ausweg beschrieben wird, um zu gerechten Transaktionen in der Distributionsphäre zu gelangen, desavouiert sich die Marx’sche Behauptung, „man könne dem Weizen nicht anschmecken, wie er produziert worden sei“, an der Realität; heutzutag kann dem Weizen sehr wohl angeschmeckt werden, unter welchen Umständen er zur Welt kam. So wird auch die Gebrauchswertseite zunehmend zu einer Frage des gesellschaftlichen Prestiges und der sozialen Darstellung der jeweilig eingenommenen Position, was als Dienstleistung ihren warenförmigen Charakter nur noch schlecht verbergen kann.

[4Es handelt sich um christliche Gemeinden, die sich neu definierten, nicht um die entstehende bürgerliche Gesellschaft selbst; die definierte ihrerseits ihr Verhältnis zur Religion neu. Die christlichen Gemeinden aber integrierten sich entsprechend neuer Fragestellungen: grosso modo kann gesagt werden, dass die katholische Kirche versuchte, sich über Einflussnahme auf das staatliche Segment der Gesellschaft ihre prominente Stellung zu bewahren (e. g. Richelieu, Jesuiten), die protestantischen Kirchen eher auf das Individuum und seine Verantwortung vor Gott und den Menschen abzielten. So gesehen ist es wohl falsch, die katholische Kirche als das unmoderne, feudale, reaktionäre Element der christlichen Religionen zu sehen, die Protestanten hingegen als die, die das moderne bürgerliche Element verkörpern. Eher ist es zutreffend, in der Entwicklung beider Kirchen eine gelungene – christlich-geschmeidige – Anpassung an die neuen Zeiten zu konstatieren und unterschiedlich zu beschreiben (nicht zu bewerten).

[5wie auch Einsichtslosigkeit: das Akzeptieren der neuen Zeit, das Arrangement mit den Umständen bedeutet noch keineswegs, dass damit ein Erkenntnisgewinn über die neuen aktuellen Formen der Vergesellschaftung einher gegangen wäre. Es genügt noch immer, zu glauben, um Berge zu versetzen.

[6Auf den Antisemitismus, wie er in den stark christlichen geprägten rückständigen Gebieten Osteuropas sich ausdrückte, kann hier nicht eingegangen werden. Nur so viel: die Verbindung des Judenfrage mit der Moderne ist hier nicht so stark ausgeprägt, Toleranz erscheint niocht als zentraler gesellschaftlicher Diskurs. Dafür ist dieser Antisemitismus auf Grund der Rückständigkeit der (russischen) Gesellschaft viel rabiater, und es prallen religiöse Orthodoxien auf einander, wobei der Judenhass sich an Barbarein wie Ausschluss von bestimmten Berufen, abergläubischen Gräuelmärchen etcet. entzündet.

[7Wie es etwa Richard Wagner in einer von ihm unter Pseudonym herausgegebenen antisemitischen Hetzschrift Felix Mendelssohn-Bartholdy vorwarf.

[8In der Wegelagerei klingt noch ein letzter Nachhall des feudalen Fehderechts mit. Die Piraterie konnte aber schon, mit königlichen Kaperbriefen ausgestattet, als eine Form der privatisierten, ausgelagerten Kriegsführung betrachtet werden. Wir sehen, dass die Formen des Widerstands, entgegen der Verherrlichung und Romantisierung in der Tradition der Sagen und Volkslieder, auch sehr schnell in der Entwicklung und Modernisierung der kapitalistischen Ordnung ihren Platz finden können.

[9Die Zahl der österreichischen Nazis, die, ihrer fokloristischen Gemütlichkeit folgend, die ihnen befreundeten Juden retteten, ist zwar nicht Legion, aber auch nicht Legende.

[10Im Übrigen verweist auf diesen Umstand auch der Mord an der armenischen Bevölkerung der Türkei. Die Parallelen sind eindeutig: eine Gesellschaft, die sich anschickt, ihre Rückständigkeit in einer als revolutionär begriffenen Anstrengung aufzuheben, ein Regime, das diese Anstrengung verordnet und durchführt, ein Sündenbock für die Rückständigkeit in der Form der armenischen Bevölkerung, ausgestattet mit allen Attributen, die auch den Juden zugeschrieben werden (von der falschen Religion über die Identifizierung mit dem Geld bis hin zur Heimatlosigkeit). Antisemitismus hat eben die unbegriffene Dimension, dass es nicht gegen die Juden geht, sondern gegen die bürgerliche Gesellschaft, deren unsichere Subsistenz, deren unsichtbare Bewegung, deren inhumane Verlaufsform nach einem Verantwortlichen verlangt, der schuld am Unglück ist und dessen Beseitigung die Welt wieder in Ordnung bringt.

[11Dieses „Wir“ bleibt amorph und unbestimmt; es ist ein „Wir“ in statu nascendi.

[12Karl Chemnitz, Schlussbemerkung zur Kritik des Gothaer Programms (ich habe gesprochen und meine Seele gerettet).

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