FORVM, No. 202/I
Oktober
1970

Schüler sollen Lehrer prüfen

Lehrerbewußtsein und Schülerbewegung in Österreich

I.

Lehrer sind verpflichtet, zur Weitergabe der herrschenden Ideen, das heißt, sie müssen die von der herrschenden bürgerlichen Klasse anerkannten und zur Verteidigung ihrer privilegierten Stellung formulierten Werte des ideologischen Überbaus an die Schüler weitergeben, um die Vorherrschaft der Bourgeoisie über das Proletariat zu rechtfertigen und zu festigen.

Die Schule soll daneben als Veranstaltung des Staates unmittelbar Kapitalverwertungsinteressen wahren; sie soll für die Herstellung qualifizierter Arbeitskräfte sorgen, nach Maßgabe ihrer erforderten Stellung im Produktionsprozeß.

Je spezialisierter die Unterrichtsinhalte und -methoden auf die benötigte Qualifikation der Arbeitskraft abgestimmt sind, desto besser kann diese Arbeitskraft ihre Aufgaben erfüllen und desto billiger kommt sie.

In Österreich gibt es eine gewisse technologische Rückständigkeit der industriellen Produktion. Daher ergibt sich noch nicht die Notwendigkeit zur qualitativen und quantitativen Systematisierung des Angebots an Bildungswilligen oder zur Gesamtreorganisation des Bildungswesens, zumindest nicht in einem Ausmaße, wie dies in der BRD der Fall ist.

Dort geht man zum Beispiel daran, Abiturienten von den teuren Hochschulen auf Fachhochschulen oder die geplanten rein industriell finanzierten Stiftungsuniversitäten abzudrängen (Numerus clausus), um ein bestimmtes Quantum an produktiven wissenschaftlich ausgebildeten Arbeitern billig an die Industrie abstoßen zu können.

Oder es werden Institute für Bildungsökonomie (zum Beispiel Heidelberg) aufgebaut, die den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und den Bildungsinstitutionen exakt untersuchen und die bisher bis zu einem gewissen Grad vernachlässigten langfristigen Planungen vorbereiten. Die gesamte Hochschulreform in Westdeutschland macht deutlich, daß in Zukunft Wissenschaft offen unter den Bedingungen des Kapitals betrieben werden muß.

Gleichzeitig wird durch Beibehaltung gewisser übernommener Strukturen der Student getäuscht, er könne noch wählen, in wessen Dienst er seine wissenschaftliche Praxis stellen wird.

Auch in Österreich besteht ein Widerspruch zwischen der Mittelschulausbildung und gewissen Bedürfnissen der Gesellschaft in der Konsumsphäre. Dieser Widerspruch wird von den Schülern unmittelbar erlebt. Die Schule vertritt und reproduziert ein gutes Stück mehr an Zwang und Herrschaft, als für die Aufrechterhaltung des ideologischen Überbaus der Gesellschaft noch notwendig ist.

In den nicht technokratisch reformierten Unterrichtsplänen besteht ein relativ großer Spielraum für die individuellen Entscheidungen der Lehrer. Es besteht eine starke emotionale Beziehung zwischen ihnen und den Schülern. Ein wesentlicher Bestandtell eines reformierten Lehrprogramms wird später die Erkenntnis sein, daß intrinsische Motivationen, das heißt Motivationen, die im Gelernten selbst enthalten sind, wesentlich mehr Anreiz zum Lernen bieten als extrinische, das heißt äußerliche Motivationen, die besonders durch Beziehungen zum Lehrer gegeben sind. Dieser versucht den Unterricht zu lenken mit Strafen, Belohnungen, oft aber auch mit völlig dysfunktionalen Bemerkungen, die sich höchstens aus seiner persönlichen Frustration ableiten lassen.

Da dem Lehrer in Fragen der Didaktik derzeit große Freiheit gelassen wird, kann seine meist völlig unwissenschaftliche Sicht pädagogischer Probleme voll zum Tragen kommen. Der Lehrer läßt seinen eigenen emotionalen Bedürfnissen, zum Unterschied zu jenen Bedürfnissen, die er im Schüler produziert, freien Lauf. Er hat folglich starken Anteil am hohen Verschleiß bereits mobilisierter Bildungsreserven. 60 Prozent der in der ersten Klasse Eingetretenen verlassen die österreichische Mittelschule noch vor der Matura. Über das Gesellschaftsbild des Gymnasiallehrers gibt eine Untersuchung von Gerwin Schefer bei 384 Lehrern Aufschluß. Unter anderem hat Schefer folgendes festgestellt:

  1. In der Berufsprestigeordnung der Gymnasiallehrer rangieren Berufe aus den Bereichen Technik, Wirtschaft und Politik am unteren Ende der Prestigeskala, während traditionsreiche akademische bzw. freie Berufe, besonders in den Bereichen Medizin und Jurisprudenz, hoch eingestuft werden.
  2. Das soziale Selbstbewußtsein der Gymnasiallehrer ist durch Statusunsicherheit und durch das Gefühl gekennzeichnet, gesellschaftlich nicht voll anerkannt und nicht hoch genug eingeschätzt zu werden.
  3. In den Wertvorstellungen der Gymnasiallehrer dominieren christliche, liberale und bildungshumanistische Werte. Gymnasiallehrer vertreten das neuhumanistische Bildungsideal der „inneren Werte“ häufiger als das Ideal einer auf Realitätsbewältigung und Rationalismus ausgerichteten Bildung.
  4. Dem gymnasialen Bildungsideal entspricht ein dichotomisches Gesellschaftsbild, das gekennzeichnet ist durch den Gegensatz von „Elite“ und „Masse“. Elite wird dabei nicht als Funktions- und Leistungselite verstanden, sondern als eine durch Bildung privilegierte Wertelite. Dies ist wahrscheinlich die einzige Möglichkeit für den Gymnasiallehrer, sich selbst der Elite zurechnen zu können.
  5. Auf dem Hintergrund dieser Wert- und Gesellschaftsvorstellungen wird von den Gymnasiallehrern das dreigliedrige Schulsystem bejaht und durch eine entsprechende Dreiteilung der Arbeitswelt in ausführende, vermittelnde und leitende Positionen sowie durch eine statische Theorie entsprechender Begabungen gerechtfertigt.
  6. Die Schule ist für die Gymnasiallehrer ein vorwiegend apolitischer Raum. Dies entspricht ihrem eigenen, tendenziell unpolitischen Bewußtsein.
  7. Ein Vergleich dieser Ergebnisse mit früheren Untersuchungsergebnissen und Äußerungen von Lehrerverbänden zeigt, daß die wichtigsten Bewußtseinsinhalte der Gymnasiallehrer in den letzten Jahrzehnten relativ konstant geblieben sind. Bildungspolitische Einstellungen, die bereits vor mehr als 50 Jahren formuliert wurden, sind offenbar immer wieder weitergegeben worden, so daß sie auch heute noch wirksam sind und das Verhalten der Gymnasiallehrer bestimmen.

Dies kann nicht überraschen, wenn man sich klarmacht, daß der Lehrer im Laufe seiner Erziehung und Ausbildung von der Schule über die Universität wieder in die Schule zurückkehrt, daß er also während seiner gesamten Ausbildung und Berufstätigkeit im schulisch-akademischen Bereich bleibt, ohne andere Gesellschaftsbereiche genauer kennenzulernen.

Für den Schüler akkumulieren sich im Lehrer ein großer Teil der Widersprüche zwischen dem in der Schule erlebten „rigiden Funktionalismus“ (L. Hack), der die Lebensbewältigung des aufsteigenden Bürgertums gekennzeichnet hat, und den in ihren Anpassungszwängen scheinbar toleranteren Sozialisationsagenturen, die Unmittelbarkeit und Spontaneität dem passiven Konsumenten identifikationsreif überreichen.

Die Schule und der für sie repräsentative Lehrer sind um Distanz von der Außenwelt bemüht. Alle Fächer, die relevant wären, gesellschaftliche Hintergründe aufzuzeigen, bieten, trotz großer stofflicher Fülle, kaum irgendwelche Bezugspunkte zum gesellschaftlichen Dasein der Schüler. Nicht nur der Gegenstand, sondern auch die Methodik, unter der erkannt wird, liegen zurück, und so bleiben die Möglichkeiten (in technokratischen Reformen eingeplant), „das Lernen zu lernen“, ungenützt.

Es gelingt Lehrern, entweder das Bezugssystem, nach dem sich die Schüler in der Freizeit orientieren, zu ignorieren und zu eliminieren, oder mit oberflächlichen Klischees alles als Modeerscheinung abzutun, was einer tieferen Analyse bedarf.

II.

In Österreich nehmen die Schüler zu ihren Schulen vor allem schriftlich Stellung. Zentraler Ansatzpunkt für den Versuch, ein Stück gesellschaftliche Realität zu begreifen, ist in den meisten Schülerzeitungen die Auseinandersetzung mit dem Lehrer.

Es geht um die Unfähigkeit des Lehrers, absatzfördernde Bewegungen der Konsum- und Freizeitindustrie oder andere Phänomene, wie den Zerfall der bürgerlichen Familie, mehr oder minder kritiklos gutheißen (technokratische Lösung) oder aber sie in Zusammenhängen kritisch analysieren zu können. Er zwingt die Schüler, oft mit nicht unbeträchtlichem Lustgewinn („Ihr müßt ja nicht studieren, wenn es euch zuviel wird, es gibt ja noch soo viele andere schöne Berufe“), „Lernstoff“ aufzunehmen, was für diese deshalb zur Qual wird, weil das zu Lernende weder für eine spätere Berufspraxis noch für wissenschaftliches Verständnis noch zum gesellschaftlichen Handeln konkreten Bezug hat und damit keine Neugier produziert, die zum Lernen notwendig ist.

Der Mangel der Schüleraktivität schlägt sich in den Schülerzeitungen nieder. Sie bieten überhaupt keine Ansätze zum Handeln.

Sie sind auf einen einbahnigen Informationsweg angewiesen, da sie inhaltlich weder durch aktive Mitarbeit vieler Schüler noch durch die Praxis einer Schüleraktivität korrigiert werden. In den meisten Schülerzeitungen findet sich der Aufruf an die Schüler, „doch einmal mitzuschreiben“. In einer Zeitung fand ich sogar eine Beschimpfung der Schüler, die darauf hinzielte, die Unfähigkeit der Zeitung zur realen Einwirkung auf die Schüler diesen als deren eigenen Verzicht auf Aktivität zu suggerieren.

Meist leiten die Schülerzeitungen aus dem Widerspruch zwischen autoritärer Leistungsschule und den liberalen, viel ambitionierteren Anpassungszwängen der Freizeitmanager kaum eine tiefergehende ökonomische Analyse ab. Sie geraten dadurch in eine leicht integrierbare Position. Forderungen nach der Pille, popiger Kleidung, langen Haaren werden zum Selbstzweck. Man spricht sehr viel von Revolution, ohne sie je zu meinen.

Olivetti wirbt bereits in italienischen Tageszeitungen mit dem „dynamischen“ Image von Che Guevara junge Manager an.

Im „Spiegel“ findet man Inserate über schöne Revolutionäre, die Hosen tragen, und Revolutionäre, die schöne Hosen tragen. Und der Verlag Bärmeier & Nikel ließ die Inseratenkunden seiner (inzwischen eingestellten) deutschen Schülerzeitung „underground“ in einer Aussendung wissen:

Werber, liebet die, die euch vergiften wollen!

Mucken sie kräftig auf, stopft ihnen Blumen, Schallplatten, Schokolade in den Mund. Verdammen Sie die Konsumwelt, verkauft ihnen rosa Mopeds und grasgrüne Sonnenbrillen. Veranstalten sie wieder mal ein Sit-in, überschüttet sie mit Cola-Getränken und Ringelsocken.

In Wien wird versucht werden, in diesem Schuljahr mit Schülergruppen eine bessere Strategie aufzubauen, vor allem durch die Schaffung von Lernkollektiven, die 1969 in der deutschen Schülerbewegung größere Bedeutung gehabt haben.

Auf Grund der defensiven Stellung der Schule ist es recht leicht, den Schülern zunächst darzulegen, daß ihnen das Gelernte nichts nützt, daß sie aber gezwungen sind, ihre Matura zu machen und daß sie dies am besten können, wenn sie sich zu Lerngruppen zusammenschließen, um kollektiv den Stoff zu bewältigen.

Selbst für jene Schüler, die sich am Anfang nicht einmal der geringsten systemimmanenten Widersprüche bewußt sind, besitzen die Lernkollektive eine gewisse Attraktivität, wenn sie erkennen, daß sie sich einen Nachhilfelehrer ersparen, weil ein Student oder gute Schüler im Kollektiv sind, oder wenn sie einem Bedürfnis nach Kontakt zu Mitschülern am Nachmittag nachgeben können.

Die Lernkollektive sind auch für die bereits psychischen Konflikten ausgesetzten oder politisierten Schüler von Bedeutung. Im Kollektiv entgehen diese Schüler dem Leistungsdruck und den damit verbundenen Disziplinierungsmaßnahmen (der Schüler, der im Unterricht Ansprüche anmeldet, kann sofort schlechtere Noten erwarten).

Das Interesse des Lehrers in der Gesamtheit widerspricht nicht dem Interesse der Schüler. Wohl aber widerspricht diesem Gesamtinteresse das derzeitige Verhalten der Schüler. Dieses Verhalten den Schülern erkennbarer zu machen und ihnen zu helfen, Interessen politisch zu artikulieren, wäre Aufgabe der Lernkollektive.

Die Inhalte, die in den Lehrplänen vorgesehen sind oder vom Lehrer verlangt werden, sollen vom Lernkollektiv nicht einfach übernommen, sondern ihrer willkürlichen Trennung in Unterrichtsfächer beraubt und im Zusammenhang kritisch aufgearbeitet werden. Dazu müssen in jedem Lernkollektiv Studenten oder Schüler sein, die vorher an zentralen Arbeitskreisen mitgemacht haben. Es müssen Unterlagen schriftlich vorliegen, zum Beispiel über Deutsch-, oder Geschichtsunterricht, Lehrerausbildung, Lehrbücher, aber auch Parlamentarismuskritik und ökonomisch fundierte Analysen der Wissenschafts- und Bildungspolitik.

Die Mitglieder des Kollektivs verweigern damit nicht die Leistungsforderungen, sondern mindern und unterlaufen sie. Es wird vorkommen, daß ein Lehrer zum Beispiel im Deutschunterricht völlig bloßgestellt werden kann, wenn er ein Werk ahistorisch und methodisch unsauber interpretiert und nun, was er vorgetragen hat, nicht abprüfen kann, weil er selbst geprüft wird.

Die Lernkollektive sind auf Selbsttätigkeit aller Beteiligten angewiesene Basisgruppen an den Schulen. Jedoch muß auf die in Westdeutschland vernachlässigte Koordination und Gesamtformation der Wissensvermittlung und der daraus resultierenden Praxis mehr Wert gelegt werden. Nur so können die am Leistungszwang und Repressionsmechanismus der Schule anknüpfenden Lernkollektive adäquate Ansatzpunkte liefern für eine Verbindung (auch wenn sie sich momentan nur als theoretische anbietet) der Schüler mit Gruppen, die ihre Praxis direkter in der Sphäre der Produktion finden. Nur so können die Lernkollektive gesellschaftsverändernde Wirkung haben.

Schuldemokratie im NF

  • Adolf Kozlik (Wien): Der Herr Doktor Karl. Wie wird der Akademiker? Mai 1965 (Ziffern und Fakten über österr. Schulwesen).
  • Rolf Schmiederer (Marburg): 55 Thesen über Bildung, Nov./Dez. 1968.
  • Günther Nenning (Wien): Thesen zwecks Politisierung der Schüler, Mitte April 1969.
  • Adalbert Krims (Linz): Ohne Schuldemokratie keine Demokratie, Mitte April 1969.
  • Rainer Gansera (Bamberg): Lehrer als Hofhunde, Mitte April 1969.
  • Patrice Buriez (Paris): Ich kann nicht mehr unterrichten. Geständnisse eines revolutionären Professors, Mitte April 1969.
  • Ivan Illich (Guernavaca): Entmythologisierung der Schulpflicht, Oktober 1969.
  • Peter Sager (Klagenfurt): Perverse Schüler, Oktober 1969.
  • Horst Knapp (Wien): Wie sehr die Schule versagt, Oktober 1969.
  • Dvorak/Weinzierl (Wien): Schule als Idiotenschule, Oktober 1969 (mit Literaturangaben).
  • Peter Sager (Klagenfurt): schülersein, Mitte Februar 1970.
  • Höller/Stadler/Weirer (Mürzzuschlag): Lehrer wachen auf, Anfang März 1970.
  • Ernst Jandl (Wien): Deutschunterricht für Deutschlehrer, Anfang März 1970.
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