Streifzüge, Heft 58
Juni
2013

Selbstbehauptung als Subjekt

Auf den Märkten der kapitalistischen Ökonomie kaufen und verkaufen die Individuen selbstständig und bewähren sich dabei als mehr oder minder geschickt – nicht zuletzt in der Vermarktung ihres Eigentums bzw. ihrer Arbeitskraft. Mit dem bürgerlichen Recht macht den Individuen die Forderung schwer zu schaffen, ihre Position in der Welt sich als Resultat ihres freien Willens, ihres Einsatzes sowie ihrer Fähigkeiten und Energien zurechnen lassen zu müssen. Moral und Psychologie kultivieren diese Subjektform. Sie fokussieren und fixieren sich auf das Vermögen bzw. Unvermögen des jeweiligen Individuums, ichstark „sein“ Leben „führen“ zu können. Durch die Subjektform handeln sich die Betroffenen die Einheit von Selbstbestimmung, Selbstverantwortung und Selbstbeschuldigung ein. Aus der das Individuum überfordernden Fremd- und Selbsterwartung, ein starkes Subjekt zu sein, resultieren Scham- und Schuldgefühle. Sie gilt es abzuwehren. Bestimmte Varianten zwischenmenschlicher Beziehungen erlauben es, jene Persönlichkeitsanteile, die dem Subjektideal entsprechen, und jene, die von ihm abweichen, verschiedenen Personen zuzuordnen. Das intrapsychische Geschehen zwischen Subjekt und Individuum wird intersubjektiv gewendet. Für die im Folgenden grob skizzierten vier Individualitätsformen ist jeweils eine bestimmte zwischenmenschliche Konstellation charakteristisch. Typisiert werden bestimmte Weisen des Erlebens, der Erfahrungsverarbeitung und des Handelns. Konkrete Personen gehen in ihnen meist nicht auf.

Subjekt sein durch Überlegenheit

Eine erste Individualitätsform beinhaltet eine Subjektivität, die sich dadurch behauptet, dass sie sich von anderen positiv abhebt. Der Differenz zwischen Subjektideal und Realität des Individuums soll so begegnet werden, dass das „defiziente“ Individuum außen ist. Das Empfinden, gegenüber dem Subjektideal nicht zu genügen, bearbeitet Ego, indem er sich auf die Schwächen des anderen konzentriert. Das Gefälle von oben nach unten ist dann charakteristisch.

Eine erste Variante des die eigenen Schwächen an anderen bearbeitenden Typs von Erlebens- und Handlungsweisen ist der helfende Stil. Er hält sich das Problem eigener Hilflosigkeit, Ohnmacht, Anlehnungsbedürfnisse und schwacher Anteile vom Hals, indem er sich als hilfreich, kompetent und fürsorglich für andere erleben kann. Implizit heißt es hier: „Geben ist seliger als nehmen“ und „Ich brauche nichts, ich gebe“.

Der sich beweisende Stil inszeniert die Begegnungen so, dass sie zum Anlass werden, eigene Leistungen, Erfolge und Geltung überall auszustellen und entsprechende Anerkennung einzufordern. Der sich Beweisende steht unter dauerndem Druck, sich nach außen als vollkommener zu inszenieren, als er es faktisch ist. Diese Selbstdarstellung erfordert allerhand Aufwand und Energie. Ego spürt in seinem Sich-beweisen-Wollen nicht das Sich-beweisen-Müssen und versucht den impliziten Selbstzweifel beständig durch die Demonstration des eigenen Gelingens zu entkräften und fixiert sich auf dies ermöglichende Gelegenheiten.

Eine dritte Variante des die Schwächen von Ego am Alter bearbeitenden Typus von Erlebens- und Handlungsweisen ist der aggressiv-entwertende Stil (Schulz von Thun). Vorausgesetzt sind gesellschaftliche Verhältnisse, die Fehler oder mindere Leistung zum Anlass werden lassen für Selektion, für Herabstufung in niedrigere Schultypen, Qualifizierungs- und Bildungsgänge, für Nichtzulassung zu höheren Positionen in den gesellschaftlichen Hierarchien. Die Allgegenwart von Bemusterung und die Angst vor der Zurechnung massiver Fehler bilden den Hintergrund des aggressiv-entwertenden Empfindens und Verhaltens. In ihm ist die Aufmerksamkeit für die Fehler anderer stark ausgeprägt und gewinnt einen übermäßigen Umfang. Eine Vorform bildet das beobachtende Verhalten, das sich handlungsentlastet schlauer dünkt als die Handelnden. Der Krittler achtet beflissen darauf, sich nicht in die eigenen Karten schauen zu lassen. Das aggressiv-entwertende Empfinden lauert auf vermeintliche oder wirkliche Fehler anderer. Die eigene Genugtuung knüpft sich an das strafende Bemerken von solchem „Versagen“ und ans Tadeln und Verhöhnen. In einer Welt von Widersachern sei mit anderen nicht gnädig zu verfahren und sich selbst niemals eine Blöße zu geben. Angriff gilt dann als die beste Verteidigung. Man stellt präventiv seine eigene Stärke, Gewitztheit, Schlauheit und Angriffslust demonstrativ zur Schau – als Abschreckung gegen jeden möglichen Angriff.

Subjekt sein durch die Dienste anderer

In einer zweiten Individualitätsform orientiert sich der Betroffene daran, dadurch zum Subjekt zu werden, dass er Dienste von anderen verlangen kann. In einer ersten Variante tritt ein ebenso verwöhnter wie anspruchsvoller Gebieter auf, der sich als Liebling des Schicksals dünkt, die Gaben der anderen als selbstverständlich annimmt und sie bei ihrem Ausbleiben einfordert. Das Sich-Abheben von anderen ist hier nicht mehr mit einer wirklichen oder vermeintlichen Leistung für sie verknüpft. Die Existenz als Herr, der egozentrisch andere als seine Diener auf sich bezieht, geht mit einer Schwäche des realen Ichs einher, das sich selbst nicht aktiv an irgend etwas abarbeitet.

In einer zweiten Variante wird Ego subjektiv gewahr, dass er schwach ist. In der komplementärnarzisstischen Variante sucht man „sich ein idealisiertes Selbst bei einem anderen zu entlehnen“ (Willi 1975, 78). Die Entfaltung des eigenen Selbst wird tendenziell zugunsten des eigenen Aufgehens in einem schwärmerisch idealisierten anderen aufgegeben. Sagt das Individuum im narzisstischen Modus: „Ich kann so grandios sein, weil du mich so schwärmerisch verehrst“, so sagt „der Komplementärnarzisst“: „Ich kann dich so schwärmerisch verehren, weil du (für mich) so grandios bist“ (ebd., 80).

In einer dritten Variante dieser zweiten Individualitätsform geht es um jene Dienste von anderen, die dem Betroffenen nun angesichts seines Leidens als angemessen erscheinen. Das Scheitern bei der Ausweitung der eigenen Fähigkeiten wird als Infragestellung des Ichs als Subjekt erlebt. Selbstbehauptung heißt hier, aus Angst vor dieser Infragestellung der Ausweitung des eigenen Radius auszuweichen und ihn gering zu halten. Die implizite „Formel“ der resignierten Lebensführung lautet: „Mein Lebensmodus, mich Schwierigkeiten zu entziehen, gibt mir das Machtgefühl, mich ihnen nicht stellen zu müssen.“ (Rühle-Gerstel 1980, 93f.) Der bedürftig-abhängige Stil erkennt die Forderungen an, die vom Subjektideal ausgehen. Mildernde Umstände werden geltend gemacht. Dem Individuum sei nicht möglich, die Anforderungen an es zu erfüllen. Nötig werde eine Begleitperson für das hilflose Individuum. Es betont ostentativ die eigene Abhängigkeit und Hilfsbedürftigkeit. Beim Adressaten soll ein schlechtes Gewissen entstehen. Das Individuum wird hier dadurch zum Subjekt, dass es nicht nur Zuwendung und Hilfe erschwächelt, sondern darüber hinausgehende eigene Ansprüche durchsetzt. Appellieren lässt sich an die Rücksicht auf die wirkliche oder vermeintliche schlechte Situation des Betroffenen. Allerhand Dienste für ihn gelten ihm als Anzahlung auf die Wiedergutmachung seines schweren Schicksals seitens derjenigen, die es unverdient besser getroffen hätten.

Dem Subjektideal des sich in seiner Schwäche einrichtenden Individuums kam wenigstens bislang insofern Nahrung zu, als ihm die ihm zufließende Hilfe als Ausdruck davon gilt, dass andere ihn der Hilfe für wert befinden bzw. mit ihrer Zuwendung bestätigen, dass der Empfänger nicht aus eigener Schuld es an Subjekttüchtigkeit fehlen lässt. Eine vierte, dramatisch verelendende Variante kann entstehen, wenn das Individuum im bedürftig-abhängigen Modus andauernd lernen muss, dass es von anderen keine Hilfe enthält. Die Kluft zwischen Subjektideal und Faktizität des von Gott und der Welt verlassenen Individuums reduziert es nun auf besondere Weise. Es verzichtet nicht nur lieber auf bestimmte Wünsche, als dass es sie unbefriedigt lässt, sondern zieht sich auf einen Genuss der unentwickeltsten Stufe zurück. Der lässt sich durch Zufuhr von Essen, Trinken und Sonne sowie durch Schlaf erreichen. Schon hier ist die Gemeinsamkeit mit anderen zugunsten einer selbstgenügsamen Konzentration auf die eigene physische Befindlichkeit und auf das, was man sich selbst zuführen kann, verneint. In einer rabiateren Form wird die Dickfelligkeit mittels alkoholischer Abstumpfung erreicht. Das „Leben durch andere“ geht hier über in ein Leben ohne andere, aber durch künstliche Substanzen. Sie sollen das Selbstgefühl wenigstens zeitweise nach oben schnellen und das Individuum sich dadurch als Subjekt erleben lassen, dass sie die Wirklichkeit bereits physiologisch vermittelt ausblenden.

Subjekt sein durch Unbetroffenheit

In einer dritten Individualitätsform bemüht sich der Betroffene, der Differenz zwischen Subjekt und Individuum so zu begegnen, dass von beiden Polen des Konflikts Abstand genommen wird. Darstellungen dieses Typus’ bei Hemingway, Camus, Benn und Beckett macht Wellershoff zum Thema (1963). Der sich distanzierende Stil möchte das Erleben des Gegensatzes zwischen Individuum und Subjekt dadurch minimieren, dass er sich aus Situationen heraushält, die emotional diesen Gegensatz berühren und vergegenwärtigen könnten. Dieser Modus bevorzugt die Sachebene und die rollenmäßige Distanz. Der Sicherheitsabstand wird nicht nur zu den Mitmenschen gepflegt, sondern auch zu sich selbst bzw. zu den Gebieten der eigenen Psyche, in denen problematische Gefühle vermutet werden. Das Unnahbare, das Nichtbeteiligtsein und die Beobachterposition sind dem distanzierten Stil wichtig. Die Maxime lautet dann „Ich bin einer, dem kann keiner“. Es geht darum, den affektiven Bezug zu Mitmenschen, Situationen und Objekten zu vermeiden, um Abhängigkeiten und Enttäuschungen zu entgehen. Entsprechende Motti lauten: „Wer sich mit anderen verbindet, auf Erden niemals Ruhe findet.“ Und: „Wer allein ist, hat es gut, keiner da, der ihm was tut.“ (Wilhelm Busch) Zum distanzierten Modus der Lebensführung passend meint Foucault, dass „die Gefahr, andere zu beherrschen und auf sie eine tyrannische Macht auszuüben, eben nur daher rührt, dass man sich nicht um sich gekümmert hat und zum Sklaven seiner Begierden geworden ist“ (Foucault 1985, 16). Die „kritische Funktion der Philosophie leitet sich bis zu einem gewissen Punkt vom Sokratischen Imperativ ab: ‚Beschäftige dich mit dir selbst‘, was heißt: ‚Begründe dich in Freiheit durch Selbstbemeisterung‘“ (Schlusssatz des Gesprächs „Freiheit und Selbstsorge“, Foucault 1985, 28).

Der distanzierte Modus kultiviert die Gegenposition gegen alles, was nach Betroffenheitskult und zu wenig ausgeprägter Distanz aussieht. Coolness erscheint demgegenüber als Ausdruck von Souveränität. Die Seele soll auf eine niedrigere Betriebstemperatur heruntergefahren werden und dies Unverwundbarkeit ermöglichen. Die Welt zerfalle in vielerlei Perspektiven und Teilwahrheiten. Das Engagement könnte sich leicht als Bestehen auf etwas naiverweise für wahr Gehaltenes herausstellen, das aus einer anderen Perspektive als Partikularismus und fixe Idee erscheint. Man möchte sich nicht für dumm verkaufen lassen und kultiviert Skepsis aus Angst vor dem Irrtum. Die Identifikation gilt insofern als problematisch, als sie ein Tun unangemessen affektiv überbesetzen und zu einem Sich-Versteigen und Sich-Verrennen sowie zur Verschrobenheit führen könnte. Ludwig Binswanger (1956) hat die Verstiegenheit und Verschrobenheit (neben der Manieriertheit) als Formen „misslungenen Daseins“ meisterlich dargestellt. Der distanzierte Modus ist auf sie gegenfixiert. Mit der Ironie wird der Generalverdacht kultiviert gegen emotionale Tiefe, geschäftliche Redlichkeit, geistige Wahrheit und moralische Wahrhaftigkeit. Alles erscheint tendenziell als Bluff, Simulation oder Schein. Die toughe Abgeklärtheit, sich nichts vormachen zu lassen und insofern sich mit nichts zu identifizieren, erfüllt die Betroffenen mit Durchblickerstolz.

Eine Variante des distanzierten Stils bildet der ästhetische Daseinsmodus. „Alles ist nur so lange schön, als es uns nichts angeht. … Das Leben ist nie schön, sondern nur die Bilder des Lebens.“ (Schopenhauer 1937, 428) Foucaults Lebenskunstkonzept geht es um die „Anstrengung, seine Freiheit zu bejahen und dem eigenen Leben eine gewisse Form zu geben“ oder um „die Ausarbeitung des eigenen Lebens als eines persönlichen Kunstwerks“ (Foucault 1986, 135). Das Subjekt ver- und entwirklicht sich hier darin, sich in seinen „Stil“ einzudrehen. Die Diskrepanz zwischen Individuum und Subjekt soll nun dadurch verschwinden, dass zum vornehmsten Anliegen des Individuums die Stilisierung der eigenen Existenz avanciert. Die Immanenz der Form des Gehabes wird zum Maßstab einer manierierten Lebensführung, der es bei allem Was vorrangig ums Wie geht. Auf diese Weise vermag das Individuum sich als Subjekt vorzukommen, dem sich sein Sein in der Welt um sein ästhetisches Zentralgestirn dreht.

Und darum geht es in der subjektiven Ausgestaltung der Subjektform: Das Individuum muss sich als Selbstbestimmung leistend auffassen und dafür subjektiv einige Transformationen bewerkstelligen. „Vor allem aber arbeitet das Ich ständig an der Aufrechterhaltung des Gefühls, dass wir (und d.h.: jeder von uns) im Fluss der Erfahrung im Zentrum stehen und nicht an irgendeiner Peripherie herumgeschleudert werden; dass die Handlungen, die wir planen, von uns ausgehen und wir nicht herumgestoßen werden; und schließlich, dass wir aktiv sind, … und uns durch schwierige Lagen nicht passiv oder untätig machen lassen.“ (Erikson 1975, 104)

Subjekt sein durch Identitätsdiffusion

Die vierte Individualitätsform besteht im Bemühen, der Differenz zwischen Subjekt und Individuum so zu begegnen, dass der Gegensatz zwischen beiden nicht wahrgenommen wird und, wenn doch, nicht als wahr gilt. Der histrionische Stil (von englisch histrionic „schauspielerisch, theatralisch, affektiert“ und lateinisch histrio „Schauspieler“) erzeugt und genießt eine das Individuum und seine Bezugspersonen betreffende Verwirrung, die es erschwert, das Auseinanderklaffen von individueller Faktizität und Subjektstatus wahrzunehmen. Wer sich im Vagen und Schwammigen bewegt, möchte den Gegensätzen zwischen Individuum und Subjekt sowie zwischen Individuum und Wirklichkeit ausweichen. So lässt sich nach Möglichkeit vermeiden, „Farbe bekennen“ zu müssen.

Die Farbigkeit und Lebendigkeit des histrionischen Modus hängt an einer eigenen Produktivität zugehöriger Sinne und Fähigkeiten. Im Lichte seiner Effekte auf die anderen versucht der im histrionischen Modus Agierende sich selbst in eine andere Wirklichkeit zu manövrieren. Gefolgt wird der impliziten Vorstellung, mit den disparaten und divergenten Elementen der Welt spielerisch umgehen zu können und sie listig benutzen zu können, auf ihnen wie der Surfer auf der Welle reiten und von einer Welle zur anderen springen zu können. Identitätsdiffusion und Multiphrenie werden positiv gedeutet als Möglichkeit multipler Identitäten. Kohärenz und Kontinuität gelten als Einengung von Vielfalt und als Aufforderung zur Selbstdogmatisierung und Psycho-Sklerose.

Der histrionische Modus verweist auf die Abwesenheit einer gesellschaftlichen Gestaltungsarbeit daran, dass das jeweilige In-der-Welt-Sein nicht bornierende Festlegungen und Fesseln beinhaltet. Der histrionische Stil baut ihnen gegenüber eine Faszination für die Offenheit auf, für das Neue und Überraschende und für phantastische Möglichkeiten. Sie überwinden ebenso überkompensatorisch wie imaginär jede Notwendigkeit und Begrenztheit, nicht nur die entfremdete, in der Perspektive von Freiheit und Veränderung. Es kommt zum Wechselspiel bzw. zur gegenseitigen Steigerung zwischen der mangelnden Arbeit an realen Fixierungen und Bornierungen einerseits, der Ausbildung eines phantastischen Möglichkeitssinnes andererseits. „Was überhaupt an konkreten Leistungen in realitate vorliegt, ist für ihn nur ein Abfall, er protestiert dagegen, dass er oder irgendeine Manifestation von ihm in der Beschränktheit gegenwärtiger Realität genommen werde. Das ist er nicht, das ist nicht sein Ich, er ist immer gleichzeitig noch unendlich vieles Andre, unendlich mehr, als er jemals in irgendeiner konkreten Sekunde oder bestimmten Äußerung sein könnte. Er betrachtet es als eine Vergewaltigung, ernst genommen zu werden, weil er die jeweilige Gegenwart nicht mit seiner unendlichen Freiheit verwechseln lassen will.“ (Schmitt 1919, 105f.) Der histrionische Modus erreicht seine Lebendigkeit und Farbigkeit, indem er alle existierenden Beschränkungen und Festlegungen imaginär bagatellisiert oder relativiert, um sich ihnen zu entziehen oder ihnen auszuweichen. „Eigentlich bin ich ganz anders, nur komm ich so selten dazu.“ (Ödön von Horvath) Wer sich ständig „neu erfindet“, genießt den Reiz des vermeintlichen Neuanfangs und meint, sich selbst das wichtigste Thema sein zu können, ohne die Selbstgenügsamkeit mit Langeweile büßen zu müssen. Das einschlägige Hilfsmittel – die vermeintliche unendliche Wandlungsfähigkeit – gilt als Ausweis der auf diese Weise möglich werdenden recht eigensinnigen Subjektstärke.

Der histrionische Daseinsmodus bildet just jene reale Praxis, auf die Foucaults Wunschbild von menschlicher Existenz praktisch hinausläuft. Foucault geht es um die „Überschreitung“ als einer „permanenten Erschaffung unserer selbst“, also um eine prinzipiell „unbestimmte Arbeit“ ohne Ziel (Foucault 1990, 47 u. 49). Da „die theoretische und praktische Erfahrung, die wir von unseren Grenzen und ihrer Überschreitung machen, stets selbst begrenzt ist“ (ebd., 50), ist ein unendlicher Prozess eröffnet, in dem gilt: „Wir müssen uns das, was wir sein könnten, ausdenken und aufbauen“ (Foucault 1987, 250). Notwendig ist die Fähigkeit und Bereitschaft der Individuen, sich immer wieder „von sich selbst zu lösen“ und mit sich zu „experimentieren“ (Foucault 1989, 15; vgl. a. 1990, 50). Es geht darum, für „eine sukzessive Realisierung aller möglichen Identitäten“ prinzipiell offen zu sein und „zahllose andere zu werden“ (Klossowski 1986, 96f.). Es geht um „die Bedingungen und unbegrenzten Möglichkeiten, das Subjekt, uns selbst, zu transformieren“, so Foucault in der Vorlesung „Truth and Subjektivity“ (zitiert nach Schäfer 1995, 62).

Diese vier Typen der Lebensführung bilden eine kräftige Quelle der Verschwendung von Aufmerksamkeit und Energie und sorgen zuverlässig für Aversionen und Zermürbungen. Mit diesen Individualitätsformen wird kultiviert, dass die vereinzelten Einzelnen ihre Beschränktheit gegeneinander geltend machen und gegen sich selbst geltend machen lassen. Eine Gesellschaft, die kapitalistisch mit ihrem abstrakten Reichtum und bürgerlich mit ihrer Subjektform nicht nur Umwelt-, sondern Innenweltverschmutzung als „Neben“produkt freisetzt, scheut sich aus gutem Grund vor einer umfassenden Bilanz ihrer Effekte. Denn sie würden den Fetisch des Bruttosozialprodukts als Kennziffer ihrer „Effizienz“ und das „persönliche Gelingen“ per Selbstbehauptung in der Subjektform in Frage stellen.

Literatur

  • Binswanger, Ludwig (1956): Drei Formen missglückten Daseins, Tübingen.
  • Erikson, Erik H. (1975): Dimensionen einer neuen Identität, Frankf. M.
  • Foucault, Michel (1985): Freiheit und Selbstsorge, hg. von Helmut Becker u.a., mit einem Interview von 1984, Frankf. M.
  • Foucault, Michel (1986): Von der Freundschaft als Lebensweise, Michel Foucault im Gespräch, Berlin.
  • Foucault, Michel (1987): Das Subjekt und die Macht, Nachwort zu H. L. Freyfus, P. Rabinow: Michel Foucault, Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankf. M.
  • Foucault, Michel (1989): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankf. M.
  • Foucault, Michel (1990): Was ist Aufklärung, in: E. Erdmann u.a. (Hg.): Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung, Frankf. M.
  • Klossowski, Pierre (1986): Nietzsche und der Circulus vitiosus deus, München.
  • Rühle-Gerstel, Alice (1980): Der Weg zum Wir. Versuch einer Verbindung von Marxismus und Individualpsychologie, München (zuerst Dresden 1927).
  • Schäfer, Thomas (1995): Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankf. M.
  • Schmitt, Carl (1919): Die politische Romantik, Berlin.
  • Schopenhauer, Arthur (1937): Sämtliche Werke, Bd. II, hg. v. A. Hübscher, Leipzig.
  • Schulz von Thun, Friedemann (1993): Miteinander reden Bd. 2, Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung, Reinbek bei Hamburg.
  • Wellershoff, Dieter (1963): Der Gleichgültige. Versuche über Hemingway, Camus, Benn und Beckett, Köln.
  • Willi, Jürg (1975): Die Zweierbeziehung, Reinbek bei Hamburg.
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