MOZ, Nummer 52
Mai
1990

Sicherheitsbedürfnis, Bedrohung und Rüstung

Über den Zusammenhang von Militär und Gesellschaft

Über den Zusammenhang von Militär und Gesellschaft.

Wenn man das Thema Sicherheitsbedürfnis — Bedrohung — Rüstung wörtlich nimmt, dann stellt sich die Frage, was dieses Sicherheitsbedürfnis eigentlich ist.

Es wäre zu überlegen, ob nicht dem Recht auf Sicherheit das Recht auf Unsicherheit entgegenzustellen wäre. Wir haben ein Recht auf Unsicherheit und nicht auf Sicherheit. Damit meine ich, daß Unsicherheit mit Autonomie, mit Freiheit der Entscheidung, mit eigenem Risiko, mit Individualität sowie mit Menschenrechten und Menschenwürde verbunden ist.

Wenn wir aber das ernst nehmen, was mit dem Terminus Sicherheitsbedürfnis gemeint ist, und zwar so, wie er im allgemeinen gebraucht wird, dann könnte Sicherheit folgendermaßen näher bestimmt werden: Sicherheitsbedürfnis ist das Bedürfnis, sicher zu sein, nicht in der eigenen Lebensgestaltung, sondern sicher zu sein, vor den Handlungen und Entscheidungen einer politischen Klasse, auf die wir keinen Einfluß haben:

Ich will sicher sein vor politischen Entscheidungen, die über meinen Kopf hinweg gefällt werden und Interessen folgen, mit denen ich eigentlich nichts zu tun habe, die mich nichts angehen oder die mich nur marginal angehen, deren Objekt ich bin und wo ich nicht als Subjekt erscheine. Insofern ist das Sicherheitsbedürfnis ein ernst zu nehmendes Problem, allerdings kein existentielles, sondern ein politisches.

Ich würde also definieren: Sicherheitsbedürfnis ist das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden. Und zwar vor denen da oben, weil — dies ist die historische Erfahrung — denen da oben grundsätzlich nicht vertraut werden kann.

Nun besteht aber ein scheinbares Paradox darin, daß wir unseren eigenen Oberen trauen, aber nicht denen der anderen.

Die Erklärung liegt darin, daß die jeweils eigene Obrigkeit es versteht, sich als Schutz vor der Obrigkeit der anderen darzustellen. Das heißt: Obrigkeit legitimiert sich in unseren Köpfen, in unseren Sinnen, in unserer Erziehung dadurch, daß sie sagt, wir schützen euch vor anderen Obrigkeiten, davor, daß ihr nicht unter deren Macht, Gewalt, Herrschaft, Regierung kommt.

Wenn wir dem nachgehen, müssen wir in die Geschichte unserer modernen Staaten eintreten.

Herrschaft ist angemaßter Schutz

Diese Staaten, die mit dem Anspruch auftreten, einen Ewigkeitscharakter zu haben, enstanden aus Herrschaft vor angemaßtem Schutz.

In Europa ist diese Entwicklung zwischen dem 6. und 9. nachchristlichen Jahrhundert anzusetzen. Herrschaftsklassen, damals Ritterschwärme, Horden organisierter Gewaltexperten, haben sich Bevölkerungen gesucht, über die sie zwecks Exploitation herrschen konnten. Ihre eigene Funktion als Herren über Knechte, bäuerliche Bevölkerungen in der überwiegenden Zahl, haben sie mit folgendem Versprechen gerechtfertigt. Wenn ihr unsere Herrschaft akzeptiert, schützen wir euch davor, daß ihr unter die Herrschaft anderer fallt, denn die sind schlimmer als wir. Und was sollten die kleinen Bauern auch anderes machen als sich zu fügen, wenn da diese Gewaltexperten, hoch zu Roß, gerüstet, ausgebildet, trainiert, rücksichtslos, brutal, fähig, bis zum Ende zu kämpfen, kamen, während sie das Land bestellten.

Aus diesem Syndrom haben sich die europäischen Staaten gebildet, die alle lange Zeit Dynastiestaaten blieben. Dies waren die Habsburger, die Preußen, die Hohenzoller, die Babenberger, die Staufer und wie sie alle heißen. Die waren alle Gewaltexperten auf der Suche nach Bevölkerungen, welche aber oft weit über ihre Heimat hinausführte. Die Burg der Hohenzoller z.B. liegt in Süddeutschland, aber regiert haben sie dann Preußen.

Eine strukturell ähnliche Sache hat sich dann im 19. Jahrhundert wiederholt, als die europäischen Mächte sich überall Kolonialgebiete schufen.

Das bedeutet, daß diese dynastische Herrschaft immer austauschbar war oder eigentlich letztlich austauschbar ist. Das zeigen auch die dynastischen Kämpfe bis weit ins 18. Jahrhundert hinein. Wenn eine Dynastie ausstarb, wurde die Herrschaft einer anderen übergeben. Es gab eine kleine politische Klasse, die sich gegenseitig respektierte und gegenseitig für fähig hielt, die Bevölkerung zu beherrschen. Der Austausch der Herrschaftsbereiche war natürlich eng verbunden mit Kriegen. Je nach Sieg oder Niederlage bekam der eine das andere oder umgekehrt.

Die Notwendigkeit für die Herrschaft dieser so entstandenen Gesellschaft, sich zu legitimieren, funktionierte mit diesem Trick — „wir schützen euch vor den anderen, den Eroberern“ —, der nicht nur Trick war, weil er auch eine reale Bedeutung hatte. Natürlich war in diese Konkurrenz von Herrschaftsklassen der Kampf um größere Anteile eingebaut. Ein größeres Territorium bedeutete ein größeres Einkommen und ein erhöhtes Prestige, welches wiederum den Einschüchterungseffekt der eigenen Bevölkerung gegenüber steigerte. Je größer das Territorium war, welches ein Herrscherhaus erobert hatte, umso größer wurde die soziale Distanz zwischen der Bevölkerung und dem Herrscherhaus.

Alles läuft auf eine innere Loyalisierung hinaus. Das heißt: Man will sich Untertanen schaffen, die das Regiertsein für etwas Selbstverständliches halten und die eigene Herrschaft als eine Abgrenzung zu den Konkurrenten positiv besetzen.

Lebenslüge Nation

Wenn wir uns dies als Geschichte der Herrschaftsformationen, in Europa jedenfalls, vor Augen halten, zeigt sich, daß die Herrschaft, die erst sehr spät zum Staat wurde, bereits vor der Nationenbildung bestand. Damit zeigt sich eine Lebenslüge unserer Herrschaft, die von sich behauptet, ein Ausdruck der Nation zu sein. Es gilt umgekehrt: Nationen sind die Produkte von Herrschaft, oder anders gesagt: Staaten haben sich ihre Nationen geschaffen.

Die europäische Staatengeschichte ist auch unter diesem Aspekt eine Geschichte von Herrschaftsformationen, die sich ihre Bevölkerung so schafften, trainierten, anpaßten, gleichschalteten, ideologisch bearbeiteten, in Erziehungssysteme gaben, Sprachregulierungen einführten und dies auch immer noch verfolgen, daß am Ende herauskommt, wir sind Deutsche oder Franzosen.

In dieser Form der Schaffung von Nation lebt Herrschaft davon, daß sie Grenzen schafft, daß sie abtrennt, was zusammengehört oder wo die Übergänge fließend waren. Die Bevölkerungen haben in vorstaatlicher Zeit in verschiedener Form von Vermischungen und Überlappungen — auf Grund verschiedener Kulturen, Sprachen und Ethnien — zusammengelebt. Diese Herrschaftsformationen grenzten daraufhin zum Zwecke der Loyalisierung der eigenen Bevölkerung ab.

Diese Verstaatlichung der Bevölkerungen mit ihren logischen Grenzziehungen kann an der Kolonialisierungsgeschichte Afrikas noch einmal dramatisch abgelesen werden: Durch Gesellschaften, die ganz anders formiert waren — tribale Gesellschaften, nomadische Gesellschaften mit eigener Kultur, mit eigenem Verhalten zu ihrem Territorium, eigenem, nachbarschaftlichem Verhalten, welches auch alles andere als immer friedlich war —, wurden von der europäischen Herrschaft Grenzen mit dem daraus folgenden Anpassungsdruck für die Populationen gezogen. Als Ergebnis dieser Loyalisierungs- und Konsolidierungspolitik bildeten sich auch in Afrika politische Klassen, die von diesen Grenzen lebten und sie daher auch verteidigten.

Ich denke, daß die Konkurrenz in dieses Verhältnis von Herrschaft geschaffenen Staatsnationen eingebaut ist. Und wenn Abgrenzung die eine Ausprägung dieser Konkurrenz ist, so ist die andere das Aufheben dieser Abgrenzung, d.h. die Grenzverschiebungen. Die europäischen Kriege waren bis in unsere Gegenwart hinein immer nur Grenzverschiebungskriege, auch mit dem Argument, von natürlichen Sicherheitsgrenzen wurden Grenzen verschoben und Populationen erweitert.

Komplizen der Herrschaft

Eroberungen brachten oft auch der eigenen Bevölkerung einen großen Nutzen. In England nannte man das den Sozialimperialismus des 19. Jahrhunderts, welchen auch die Römer schon in ihrer Zeit erkannten: Durch das Ausbeuten der eroberten Bevölkerungen wurde versucht, das Zentralvolk zunehmend zu loyalisieren. So wurde die eigene Bevölkerung im England des 19. Jahrhunderts durch Kolonialprofite bestochen, was auch im Zusammenhang mit dem Verhalten der aufkommenden Arbeiterbewegung zu sehen ist, denen es infolge der Ausbeutung des Imperiums weit besser als den Arbeitern in anderen europäischen Ländern ging. Daher waren sie auch in England weniger klassenaggressiv und haben sich von großen Klassenkämpfen, die zum Teil am Kontinent stattfanden, ferngehalten. Die englische Arbeiterklasse wurde sozialisiert, benahm sich imperial und wurde dann auch stolz darauf, daß sie eine weiße ist, was zu ihrer langen Geschichte des imperialen Rassismus führte.

Insofern werden die Populationen, die eigenen Bevölkerungen, zu Komplizen einer Eroberungspolitik, die eigentlich, in letzter Instanz, gegen sie geführt wird, in dem Sinne, daß Eroberungspolitik die Funktion der Sicherung von Herrschaft, auch über das eigene Volk, hat. Das letzte große Beispiel in Europa ist dafür das Deutsche Reich bei Einengung — von 1939-1945, wo ja auch die deutsche einschließlich der österreichischen Bevölkerung zum Komplizen der Eroberung wurde.

Die Expansion ist eingebaut in die Staatlichkeit und ist Teil der Dynamik, an deren Wurzel der Versuch, Obrigkeit nach unten zu legitimieren, liegt. Da meine ich, daß wir mit der Verwendung des Begriffes ‚Sicherheitsbedürfnis‘ doch folgendes erkannt haben: Wir haben uns vor denen zu schützen, die mit uns Schicksal oder Weltpolitik spielen wollen.

Indem uns eingeredet wird, daß wir für den Eventuellfall gerüstet sein müssen, auch wenn es ganz defensiv zu sein scheint, ist mit Rüstung das Mitengagement des Volkes an den Unternehmungen der politischen Klasse verbunden. Psychologisch gesehen kann von der Rüstung als einem schlechten Gewissen, um das Volk hinter sich zu bringen, gesprochen werden. Verstärkt wird dies noch durch das Argument, daß Rüstung Arbeitsplätze schaffe.

Eine solche Fragestellung gegenüber der Rüstung läßt erkennen, daß mit einer auf Grund des Druckes von unten entstehenden Abrüstungspolitik ein Stück von Entloyalisierung enthalten wäre, worin auch die dämmernde Erkenntnis des nicht notwendigen Schutzes stecken würde. Das wäre der Beginn der Erkenntnis, woher eigentlich die Bedrohung kommt, und zwar von oben und nicht von außen. Und deswegen will eigentlich niemand der Herrschenden diese Form der Abrüstung.

Man müßte auch über die funktionale Sinnlosigkeit des österreichischen Heeres nachdenken. Es hat noch eine Funktion, und zwar eine nichtmilitärische, die wichtiger ist als die vorgegebene militärische. Wir alle diskutieren beinahe immer nur in völkerrechtlichen und funktionellen Termini, aber es gibt eine andere Dimension: Die meisten, vor allem die Regierenden, können sich einen ‚ordentlichen‘ Staat ohne Militär nicht vorstellen. Daraus geht auch eine Disziplinierung der Köpfe hervor: Das Denken in militärischen Kategorien, in Sicherheits-, in Bedrohungs-, in Gleichgewichts- und Neutralitätskategorien, die alle militärische Derivate sind, ist eine Form der Einschränkung, der Kanalisierung politischen Denkens, welche andere Möglichkeiten abschneidet. Wir werden alle angehalten, wenn wir über Politik nachdenken, in militärischen, in solchen quantitativen Sicherheitskategorien zu denken, zu denen wir in einer sehr subtilen Weise hingeführt werden.

Das Gefährliche daran ist, daß dieses Instrument Militär, solange es da ist, benutzt werden kann. So subjektiv in einem bestimmten Moment eine bestimmte politische Klasse auch behauptet, daß sie das Militär nie oder kaum einsetzen würde, so sehr ist der Einsatz, falls das Instrument da ist, objektiv wahrscheinlich. Immer wenn Heere da sind, wurden sie irgendwann eingesetzt, weil das Instrument so verführerisch ist.

Das Militär hat als Mittel in seiner Einfachheit eine große Stärke. Es sind schnelle Lösungen möglich: zuschlagen, besetzen, Grenzen ziehen — allesamt eindeutige Lösungen.

Eingebaut in das militärisch formierte Denken ist eine Reduktion von Komplexität, die sich bitter auszahlt hinterher. Die scheinbar einfachste Lösung, das Dreinschlagen mit dem Schwert in den gordischen Knoten, schafft nur neue Probleme, es ist, als würde in ein Wespennest gestochen. Als Beispiele sind etwa Vietnam und Afghanistan zu nennen.

Das zeigt wiederum die Handlungsmuster unserer politischen Klassen. Das ist Denken in primitiven Kategorien. Je mehr dies überhand nimmt, umso mehr primitiviert sich die Politik. Da ist es unsere Aufgabe, nicht länger mitzuspielen. Diese ganzen Kategorien, mit denen wir gefüttert werden, Sicherheitsbedürfnis, Mächtegleichgewicht, Neutralität, das sind doch unglaubliche Primitivismen, sie reduzieren Menschen, Regionen, soziale Verhältnisse zu Schachfiguren auf einer Weltkarte. Diese Primitivität ist ein Ergebnis der Militarisierung des Denkens.

Der vorliegende Text ist die leicht gekürzte Fassung eines Vortrages, den Krippendorff im Rahmen der Salzburger Friedensgespräche gehalten hatte. Wir danken dem Salzburger Personenkomitee für Frieden und Abrüstung für die Überlassung des Textes.

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