„Sogar am Erdbeben waren wir Juden schuld ...“
Die Soziologin Esther Shabot unterrichtet an verschiedenen mexikanischen Universitäten und Privateinrichtungen Internationale Politik mit Schwerpunkt Naher Osten und Judaistik. Sie ist Autorin mehrer Bücher und Kolumnistin der Tageszeitung Excelsior.
Die Position der mexikanischen Regierung, die von einer großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde, war gegen diesen Krieg. Es kam wiederholt zu Demonstrationen und Kundgebungen vor der US-Botschaft, die mit aggressiven Angriffen wie Steineschmeißen, Abfackeln von US-Fahnen oder Sprühen von Graffitis verbunden waren. In Mexiko existiert ein stark ausgeprägtes antiamerikanisches Ressentiment. Sie haben in verschiedenen Sektoren der Gesellschaft Wurzeln geschlagen. Das kann mit historischen und geographischen Argumenten erklärt werden. Als Nachbarland der USA ereigneten sich einige Geschehnissen, die die Vereinigten Staaten als unverschämt erscheinen lassen, als egoistisch, als Großmacht, die nur auf eigene Vorteile bedacht ist und schwächere Länder überrumpelt. Man vergisst nicht so schnell, dass die USA Mexiko im 19. Jahrhundert einen Großteil des Staatsgebietes abnahm, dass sie mit ihrem Heer im selben Jahrhundert in Mexiko intervenierten oder auch während der mexikanischen Revolution eine negative Rolle spielten. Das Gefühl, dass der Austausch zwischen beiden Ländern ein ungleicher ist, dominiert.
Also ist ständig dieses Ressentiment präsent, das sich mit der Bewunderung der nordamerikanischen Gesellschaft und deren Erfolg, Reichtum und Disziplin vermischt. Im kulturellen Bereich gibt es in Mexiko eine große Palette an US-Produkten, man hört viel nordamerikanische Musik, man reist gerne als Tourist in die USA oder um zu shoppen. Außerdem gibt es große Migrationswellen Richtung Norden, ungefähr 18 Millionen Mexikaner und Mexikanerinnen, die auf der Suche nach Arbeit und besseren Lebensbedingungen auswanderten, leben heute in den USA. Ein Teil von ihnen lebt heute legal, andere mit ungeregeltem Aufenthalt. Sie überweisen Teile ihres Lohns nach Mexiko: die größten Deviseneinnahmen im Land stammen von diesen Geldern. Es existiert also ein Abhängigkeitsverhältnis.
Das betrifft auch Investitionen. Seit der Unterzeichnung des Freihandelsabkommens zwischen Kanada, USA und Mexiko konzentriert sich der Großteil des mexikanischen Handels und der Exportwaren auf Nordamerika. So entsteht eine paradoxe Situation. Einerseits existieren sehr starke antiamerikanische Ressentiments im kulturellen Bereich und im Kontext eines gewissen Geschichtsbewusstseins, andererseits wird die USA durch die wechselseitigen Beziehungen von Abhängigkeit, Austausch, MigrantInnen usw. für Mexiko extrem wichtig.
Ein Faktor ist die Identifizierung der USA als Regierung, Land oder Gesellschaft mit dem israelischen Staat. Es scheint so, als wären diese beide Länder eine Art Bündel oder Verein, der auf internationaler Ebene politische Vorteile erhascht. Israels Position im israelisch/palästinensischen und gesamtarabischen Konflikt wird ständig disqualifiziert oder verurteilt. Dies geschieht meist in Unkenntnis dieser Konflikte, der historischen Wurzeln und der Konsequenzen, denn die meisten Mexikanerinnen haben keine blasse Ahnung über die Entstehung Israels und die konfliktiven Wurzeln der Region. Man analysiert ohne Kenntnis über historische Fakten und benützt hierfür ein verkürztes Schema. Man schaut sich an, wer von den USA unterstützt oder beschützt wird und damit ist klar, wer der Bösewicht ist und wer im offiziellen Diskurs als Opfer erscheint. Nach diesem Muster sind die PalästinenserInnen in erster Linie Opfer, zuerst von Israel und dann von den USA.
Man spricht von der einflussreichen jüdischen Gemeinde in den USA, ohne genau zu wissen wie viele Jüdinnen und Juden tatsächlich dort leben. Trotzdem scheint es zum Allgemeinwissen zu gehören, dass die Juden in Amerika über ungeheure Macht verfügen. Das geht oft gar soweit, dass sie angeblich die Politik dieser Großmacht bestimmen.
All das führt in Krisenzeiten wie der jetzigen zu scharfen kritischen Tönen gegenüber Israel, das abgelehnt und gehasst wird. Es tauchen vermehrt antiisraelische Graffitis etwa an Universitäten auf, neben US-amerikanischen werden auch israelische Fahnen verbrannt oder der Davidstern verzerrt und als Hakenkreuz dargestellt, mit der Absicht, den Zionismus und den israelischen Staat mit dem Nationalsozialismus gleichzusetzen und Israel als faschistischen, repressiven, intoleranten und rassistischen Staat zu definieren, der sich weigert, die Rechte der PalästinenserInnen zu akzeptieren. Ab diesem Punkt ist der Schritt zum Antisemitismus getan. Die meisten Mexikanerinnen können nicht einmal zwischen Jüdinnen und Juden einerseits und Israelis andererseits unterscheiden. Beide werden synonym benützt, man hat keine Ahnung den legalen Status der Juden Mexikos und Israels betreffend.
Zusätzlich ist Mexiko ein vorwiegend katholisches Land mit einer langen Tradition von Vorurteilen und Stigmatisierungen gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Israel wird innerhalb dieser Tradition verteufelt. Dieser Antiisraelismus sowie Antizionismus und die Kritik am Staat Israel und dessen Regierung finden nicht selten Ausdruck in Graffitis, Zeitungsartikeln oder Radiosendungen, die eine US-jüdische Weltverschwörung herbeiphantasieren. Oft wird Israel einfach durch „die Juden“ ausgewechselt.
Diese Situation führt in Mexiko dazu, dass die jüdischen Einrichtungen und Institutionen ihre Sicherheitsmaßnahmen verstärken mussten. Denn in diesen Krisen-Zeiten passiert es oft, dass Anrufe mit Bombendrohungen in jüdischen Einrichtungen eintreffen. Die jüdische Gemeinde wird zurzeit als Teil des kriegerischen Unternehmens im Irak wahrgenommen.
Ja, beide sind Teil einer Gleichung. Antinordamerikaner zu sein bedeutet fast per Definition Antizionist zu sein. Und bist du erst mal Antizionist, ist der Schritt zum Antisemit fast automatisch getan. Denn innerhalb dieser Unkenntnis über Zionismus, Israel und die Juden scheint es keine Grenzen für Definitionen zu geben. Alles wird als Teil einer Einheit imaginiert. Es ist in diesem Zusammenhang interessant, eineN DurschnittsmexikanerIn zu fragen, wo dieses Land Israel geografisch liegt. In den meisten Fällen wird man darauf keine richtige Antwort erhalten. Israel nimmt jedoch in den Medien überdurchschnittlich viel Platz ein.
Zuerst möchte ich sagen, dass der Antisemitismus in Mexiko weder mit dem historischen noch mit dem aktuellen Antisemitismus in Europa oder etwa in Argentinien vergleichbar ist. In Mexiko kam es noch zu keinen gröberen physischen Übergriffen. In der gesamten Geschichte des Landes wurde noch niemand aus antisemitischen Motiven ermordet. Hier äußert sich das Phänomen eher in der Berichterstattung, dem Umgang und den Äußerungen über Israel, Zionismus oder Juden.
Sehr wohl ist es in Krisenzeiten immer wieder zu Friedhofsschändungen gekommen. Wenn auf der Universität Vorträge beispielsweise vom PLO-Vertreter stattfinden, kommt es zu sehr enthusiastischen Reaktionen seitens der Studierenden und des Lehrkörpers. Nicht selten werden Parolen wie „Juden raus aus Palästina!“ und „Juden raus aus Mexiko!“ skandiert. Fast automatisch wird ein Zusammenhang zwischen dem israelisch-palästinensischen Konflikt und den mexikanischen Juden hergestellt. Nach der israelischen Invasion im Libanon 1982 kam es in Universitäten zu Protestaktionen, die aggressive Stimmung richtete sich ausschließlich gegen Israel. Ich musste mir als Studentin und als Professorin ständig nicht nur antiisraelische oder antizionistische, sondern auch antisemitische Statements anhören. Das passiert immer wieder.
Viele dieser Krisen bezogen sich in irgendeiner Form auf Vorgänge rund um den Nahen Osten, aber nicht alle. Immer wieder waren es die Juden, die als leicht zu identifizierende Bevölkerungsgruppe und mit dem gesamten Background als Sündenbock dienten. Im Zuge des Erdbebens in Mexiko City von 1985 starben Tausende von Menschen unter den Trümmern von einstürzenden Gebäuden, einige wenige waren auch Textilgeschäfte jüdischer Besitzer. Zwei Wochen später erschienen in der hiesigen Presse Artikel, die die Schuldigen ausmachten: die geldgierigen Juden, die zu geizig gewesen seien, erdbebensichere Gebäude für ihre ausgebeuteten Näherinnen zu bauen. Ich muss dazusagen, dass in ganz Mexiko verstreut 40.000 Jüdinnen und Juden der verschiedensten sozialen Schichten leben. Die Hälfte davon sind unter 18 Jahre alt. Mexiko-Stadt hat eine Einwohnerzahl von etwa 20 Millionen. Den Rest kann man sich ausrechnen.
Es folgten antisemitische Graffitis und Drohanrufe in jüdischen Institutionen, also alles Dinge, die wir von anderen Krisen kennen, etwa der von 1982, als im Zuge des Ölpreisverfalles auch Mexiko als großes erdölproduzierendendes Land in eine Wirtschaftskrise rutschte. Der Präsident López-Portillo entschied angesichts der Krise, das Bankenwesen zu verstaatlichen. Die Verstaatlichung sicherte ihm die Unterstützung breiter linker Sektoren, während viele Unternehmerinnen mit Skepsis oder Panik reagieren und ihre Reichtümer ins Ausland transferierten. In dieser angespannten Situation kam es zu so unglaublichen Zeitungsüberschriften wie „Die Haupt-Dollar-Rausbringer sind Juden!“ Solche Situationen sind bedrohlich, denn ist die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet und der Sündenbock lokalisiert, wird die jüdische Gemeinde als Verräter, als unpatriotisch, als unsolidarisch gegenüber Mexiko diffamiert.
Für die meisten ist das wirklich ein Problem. Sie sind zwischen 18 und 24 Jahre alt und kommen vom relativ geschützten Raum jüdischer Schulen direkt auf die nationalen Universitäten. Dieser Schritt kann traumatische Erlebnisse zur Folge haben und persönliche Krisen auslösen. Die plötzliche Konfrontation mit der aggressiven antisemitischen Haltung der Mehrheitsbevölkerung ist ein Schock für viele StudentInnen, die manchmal, je nach Bildungsgrad, noch nicht über genügend Argumente verfügen, um diese Diskurse zu entkräften. Manche haben durch den Familienhintergrund oder persönliches Interesse sehr wohl das nötige Wissen, um den Anfeindungen entschieden entgegenzutreten, aber andere fühlen sich wehrlos und verarbeiten den emotionalen Schock auf verschiedene Art und Weise. Einige informieren sich und rüsten sich mit argumentativen Waffen aus, um dem Druck standhalten zu können; andere gehen in die innere Emigration und vermeiden die ständigen Verletzungen dadurch, dass sie auf das Thema einfach nicht mehr einsteigen; und dann gibt es auch extreme Fälle, in denen junge Menschen sozusagen desertieren, die Universität verlassen und sich in geschütztere Umgebungen begeben.
Und dann sind da auch noch jene StudentInnen, die die extrem kritischen und oft antisemitischen Argumente übernehmen, die sich mit ihrer Umgebung emotional identifizieren und einen fast pathologischen Prozess durchmachen, der sich in Selbsthass und der Ablehnung ihrer selbst äußert. Man will kein Jude sein, will nicht mehr mit Israel identifiziert werden. Um der Mehrheitsbevölkerung anzugehören, um nicht ausgegrenzt und endlich akzeptiert zu werden, wechseln sie die Fronten und werden zu den hitzigsten Kritikern Israels und des Judaismus. Diesen Vorgang kennen wir auch aus den 70er Jahren, als jüdische StudentInnen, die sich der Linken zugehörig fühlten, ihre jüdischen Bindungen aufgeben mussten, um sich in linke Strukturen integrieren zu können. Dort galt Israel und der Zionismus schließlich als negativ und fast schon als obszön.
- Zeichnung: Eduardo Cohen
Diese Situation hat sich im Laufe der Zeit verändert. Vor dem ’67 er Krieg gab es in der Linken noch Menschen, die eine gewisse Sympathie für Israel zeigten. Gaza und das Westjordanland waren noch nicht erobert und die Sowjetunion und der Ostblock pflegten noch Beziehungen mit Israel. 1948 hatten ja gerade diese Länder die Staatsgründung begünstigt und geholfen, den Unabhängigkeitskrieg zu gewinnen. Dies führte in den 50er und 60er Jahren dazu, dass es linke Gruppen gab, die sich positiv auf Israel bezogen. Als nach 1967 die meisten kommunistischen Länder die Beziehungen zu Israel abbrachen, war für mexikanische Linke, die sich ja mehrheitlich ideologisch auf die Sowjetunion bezogen, klar, wer „das Böse“ verkörperte.
Es gab jedoch auch rühmliche Ausnahmen, deren kritischer Geist und intellektuelle Fähigkeiten sie zur Ablehnung des Schwarz-Weiß-Denkens führte. Oft hatten sich diese Menschen Kenntnisse über den Nahen Osten angelesen, waren informiert über die Geschichte des Konflikts etwa durch den Austausch mit israelischen Professoren oder sie lernten die jüdische Perspektive durch persönliche Bekanntschaften kennen.
In den 70er und 80er Jahren hatte der israelische Gewerkschaftsbund Histadrut Repräsentanten in Lateinamerika. Man wollte Kontakt zu den großen Gewerkschaften in Mexiko aufbauen. Dieser Austausch führte dazu, dass in kleinen Sektoren ein verändertes Bild von Israel und vom israelisch-palästinensischen Konflikt entstand. Das beschränkte sich jedoch auf einige wenige VertreterInnen der Linken. Die große Mehrheit ist bis heute in den Schemen und Stereotypen des Kalten Krieges gefangen. Die Parole „Israel ist der Brückenkopf des nordamerikanischen Imperialismus“ ist nach wie vor vorwiegend präsent und unwidersprochen. Sie erlebte jetzt ein Revival.
Ich hörte einmal die Definition von Antisemitismus, der mit einem mutierenden Virus verglichen wurde: er verändert ständig sein Äußeres und seine Zusammensetzung, um überleben zu können. Zuerst gibt es die Basis eines religiösen Antisemitismus im Zusammenhang mit der Rolle, die den Juden im Christentum rund um die „Ermordung von Jesus Christus“ zugeteilt wurde und welche in einem katholischen Land wie diesem immer präsent ist. Auf diese Grundlage wurden im Laufe der Jahre verschiedene andere Schichten aufgelegt. So übernahmen in den 1930er Jahren einige Sektoren der mexikanischen Gesellschaft den rassisch begründeten Antisemitismus, der von den Nazis in ganz Lateinamerika verbreitet worden war. Die jüdische Einwanderung war erst kurz vorher erfolgt und somit war die naheliegendste Betätigung die der fliegenden Händler. Bald folgten Demonstrationen und Kundgebungen nicht-jüdischer Händler gegen die angeblich „unredliche Konkurrenz“. Man konnte dabei auf die importierte Ideologie der Nazis zurückgreifen, welche Juden als Parasiten, gesellschaftszersetzende Elemente, Blutsauger und Ausbeuter bezeichnete. Es gründeten sich Gruppen wie etwa die Camisas Doradas (Goldhemden) mit einem offen und offiziellen antisemitischen Diskurs. Es entstanden legale Vereine wie die „Antijüdische und antichinesische Liga“. Mit dem Niedergang des Nationalsozialismus und der Diskreditierung seiner Lehren verlor auch die Rassentheorie an Bedeutung im antisemitischen Diskurs. Aber es blieb das Bild des opportunistischen, egoistischen Juden, der sich nicht in die nationale Gemeinschaft einfügen will, der unter sich bleibt, usw. Mit dem Wissen um das, was den Juden in Europa angetan wurde, wurden diese antisemitischen Gefühle versteckt und unterdrückt.
Während der ersten Jahre des israelischen Staates wurde dieser ob der Hindernisse, die bewältigt wurden und auch wegen der landwirtschaftlichen Projekte bewundert. 1967, als Israel aus der ständigen Defensive und der Position der Schwäche austrat und durch den Sechstagekrieg das Image eines militärisch erfolgreichen Staates bekam und die UdSSR die Beziehungen abbrach, tauchten wieder die antisemitischen Argumentationsmuster auf.
In Mexiko gibt es im Unterschied etwa zu Argentinien keine nennenswerten Schriften, die von den Nazis nach dem Krieg verbreitet wurden und den Boden für antisemitische Haltungen und Aktionen düngten. In Mexiko gab es deshalb auch keine vergleichbare Dynamik.
Nach ’67 kam es im Land zu einer breiten Solidarisierung mit jenen, die man als Opfer imaginierte. Die so genannten Völker der 3. Welt solidarisierten sich mit den Palästinensern, die für sie genauso Opfer der Israelis waren wie etwa die Mexikaner Opfer der US-Amerikaner. Dieser Automatismus wurde verstärkt durch das bereits vorhandene Bild des Juden als fremdes Wesen, dem man nicht traut und das historische Sünden abzubüßen hat. So finden sich verschiedene Elemente zusammen.
Doch ein Großteil der zweiten und dritten Generation in Mexiko geborener Juden und Jüdinnen hat sich im letzten halben Jahrhundert erfolgreich in die Gesellschaft integriert. Waren sie zuerst v.a. im Handel und der Textilkonfektion tätig, so sind die 20.000 erwachsenen Mitglieder der Gemeinschaft heute in den verschiedensten Sparten wie etwa der Wissenschaft, der Medizin, der Forschung, des Kunstbetriebes, im Kino, der Literatur etc. tätig und fühlen sich als MexikanerInnen.
