FORVM, No. 215/I/II
November
1971

Sohn-Rethel schlägt Habermas

I.

Zur Schaffung des Sozialismus wird verlangt, daß es der Gesellschaft gelingt, sich die moderne Entwicklung von Naturwissenschaft und Technologie zu subsumieren. Wenn die naturwissenschaftlichen Denkformen und der technologische Aspekt der Produktivkräfte sich aber der geschichtsmaterialistischen Betrachtungsweise wesensmäßig entziehen, so ist eine solche Subsumption unmöglich. Dann geht die heutige Menschheit nicht dem Sozialismus, sondern der Technokratie entgegen, einer Zukunft also, in der nicht die Gesellschaft über die Technik, sondern die Technik über die Gesellschaft herrscht. Wenn es dem Marxismus nicht gelingt, der zeitlosen Wahrheitstheorie der herrschenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisiehren den Boden zu entziehen, dann ist die Abdankung des Marxismus als Denkstandpunkt eine bloße Frage der Zeit. [1]

Mit aller Schärfe artikuliert hier Sohn-Rethel ein Problem, mit dem sich der Marxismus immer heftiger herumschlägt: der Komplex der naturwissenschaftlichen Methodik ist im historischen Materialismus ein Fremdkörper. Das Programm des jungen Marx ist inhaltlich noch nicht erfüllt worden: „Die Naturwissenschaft wird später ebensowohl die Wissenschaft vom Menschen, wie die Wissenschaft von dem Menschen die Naturwissenschaft unter sich subsumieren: es wird eine Wissenschaft sein“. [2]

Dieses Programm nimmt Habermas in „Erkenntnis und Interesse“ zum Anlaß einer Polemik: einseitig streicht er die „positivistisch gefärbte Forderung nach einer Naturwissenschaft vom Menschen“ heraus und nennt sie „erstaunlich“. Indem er den zweiten und ebenso wichtigen Teil der Forderung unterschlägt, stellt er den Satz von Marx auf eine Stufe mit dem wissenschaftsgläubigen Prospekt von Levy-Strauss, der es als die Aufgabe der exakten Wissenschaften bezeichnet, „die Kultur in die Natur und schließlich das Leben in die Gesamtheit seiner physikochemischen Bedingungen zu reintegrieren“. [3]

Habermas glaubt daher, die Humanwissenschaften gegen einen von ihm entsprechend enggefaßten Marxismus in Schutz nehmen zu müssen. Zu diesem Zweck zertrümmert er die einheitliche Basis des historischen Materialismus: die menschliche Arbeit als Grundkategorie der Vergesellschaftung. Der Arbeit, die er aufs „monologische instrumentale Handeln“ einschränkt, stellt er das „kommunikative Handeln“ als den eigentlichen Träger der gesellschaftlichen Synthesis gegenüber. Das kommunikative Handeln ist für ihn Ort einer abstrakt gefaßten „Emanzipation“, einer Art von befreiender Rede, zu der der Philosophieprofessor Habermas auch die Klassenkämpfe zählt. Flugs ist aus der marxistischen Selbstproduktion der Menschen wieder der Hegelsche „Bildungsprozeß der Gattung“ geworden.

Vorbild einer emanzipatorisch-kritischen Praxis wird die Psychoanalyse, die allerdings zuerst von ihrem „szientistischen Mißverständnis“ seitens Freuds gereinigt werden muß. So erscheint implizit auch die Geschichte, eine Geschichte der Klassenkämpfe immerhin, als eine Art sozialer Psychoanalyse, als praktische Selbstreflexion der „Gattung“, die sich zum besten der Unterdrücker wie der Unterdrückten vollzieht.

Diese letzteren spielen für ihre Herren in der Revolution die Rolle des Seelenarztes. Habermas sieht nämlich die Gesellschaft als einen riesenhaften Robinson: wie ein einziger Mensch hat die Gesellschaft eine „äußere“ und eine „innere“ Natur, sozusagen einen Leib und eine Seele, eine Außenwelt und eine Innenwelt. Dieser entspricht das kommunikative, jener das instrumentale Handeln: „Während das instrumentale Handein dem Zwang der äußeren Natur korrespondiert ..., steht das kommunikative Handeln in Korrespondenz zur Unterdrückung der eigenen Natur ... Die Emanzipation von äußerer Naturgewalt verdankt eine Gesellschaft den Arbeitsprozessen ...; die Emanzipation vom Zwang der internen Natur gelingt im Maße der Ablösung gewalthabender Institutionen durch eine Organisation des gesellschaftlichen Verkehrs, die einzig an herrschaftsfreie Kommunikation gebunden ist. Das geschieht nicht unmittelbar durch produktive Tätigkeit, sondern durch die revolutionäre Tätigkeit kämpfender Klassen (einschließlich der kritischen Tätigkeit reflektierender Wissenschaften)“. [4]

Dieser Robinson führt also zwei deutlich getrennte Handlungen aus: „außen“ rührt er seine Hände, schuftet mit den Produktivkräften, „innen“ führt er emanzipatorische Selbstgespräche und gestaltet die Produktionsverhältnisse um. Entscheidend dabei ist, daß Habermas unermüdlich betont, sein Robinson dürfe nicht auf ein reines Arbeitstier reduziert werden: die Arbeit sei nichts als ein notwendiges Übel, ein stummes („monologisches“) Schwitzen und Rackern gegen die äußere Natur; wesentlich und diesem Arbeitsfluch übergeordnet sei das „hermeneutische“ Reden der Gesellschaft mit sich selbst: die Menschheit arbeitet, um zu reflektieren. Unschwer ist dies als Professorenideologie zu erkennen, als Refugium für Geisteswissenschaftler.

Der Marxismus, der durch seine Vereinigung von Wissenschaft und revolutionärer Praxis der reinen Philosophie den Todesstoß versetzte, wird längs der Trennung von Geistes- und Naturwissenschaft wieder aufgespalten. Die Naturwissenschaften werden mit der manuellen Arbeit unter die Fron des instrumentalen Handelns subsumiert. Dafür wächst den Geisteswissenschaften die Würde der „Praxis“, eines kommunikativen „Handelns“ zu; von der „revolutionären Tätigkeit kämpfender Klassen“ wird in „Erkenntnis und Interesse“ nichts weiter ausgesagt; dafür bläht sich die zunächst noch in Klammern gesetzte „kritische Tätigkeit reflektierender Wissenschaften“ im Lauf des Buches zur einzigen Form kommunikativen Handelns auf. Damit ist der Lehrstuhl des Philosophen gerettet: ohne sich hinter dem Katheder hervorzurühren, kann er von sich behaupten, die eigentliche Arbeit für die Revolution oder, feiner ausgedrückt, zur Emanzipation der Gattung zu leisten.

Für Habermas’ Aufspaltung der gesellschaftlichen Synthesis in Arbeit und Interaktion unter dem Primat der letzteren ist die Trennung von interner und externer Natur wesentlich, wenn sie auch in der Fülle der Einzelanalysen leicht übersehen werden kann. Durch diese geschichtslose Dichotomie kommt jedoch das Emanzipatorische an der Arbeit ebenso wie das Produktive an der Interaktion zu kurz: gerade durch die produktive Praxis einer Gesellschaft gehen Teile der externen Natur in die interne über (während umgekehrt auf dem Wege der Verdinglichung interne sich in externe Natur verwandeln kann).

Wenn man tatsächlich Habermas folgend diese Praxis nach dem Muster einer gesellschaftlichen Psychoanalyse betrachten will, dann bestehen hier die „Heilungserfolge“ nicht nur im Herbeiführen „herrschaftsfreier Kommunikation“, sondern noch viel mehr in den Fortschritten der Gesellschaft in die externe Natur hinein: sie führen dazu, daß Teile der Natur manipulierbar werden, so wie durch psychoanalytische Heilung psychische Komplexe aufgelöst werden: So wie der Komplex hinter dem Rücken des Patienten die Neurose bewirkt, ebenso wirkt, um im Bild zu bleiben, die externe Natur hinter dem Rücken der Menschen und bewirkt ihre Lebensnot. Das Bewußtmachen des Komplexes beseitigt die Neurose; die Kenntnis der Naturgesetze beseitigt die Not. Der emanzipatorische Anspruch der Analyse: „Aus Es soll Ich werden“, läßt sich ebensogut auf die Dienstbarmachung der Natur wie auf den Abbau gesellschaftlicher Repression übertragen.

Wenn Habermas den Wesensunterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychoanalyse darin sieht, daß der Erfolg einer wissenschaftlichen Hypothese in ihrem tatsächlichen Eintreffen bestünde, ohne daß dabei die Natur gleichsam um ihre Meinung gefragt würde (Ausbeutung, Unterwerfung der Natur), während der Heilerfolg der Analyse erst gegeben sei, wenn der Patient der Hypothese des Analytikers reflektierend folgt und sie als Selbstreflexion nachvollzieht, — dann zeigt sich darin der Irrtum Habermas’ von einer anderen Seite: Wie er Marx vorwirft, er hätte die Reflexion nur unter dem Aspekt der Produktion gesehen, so sieht er selbst das instrumentale Handeln als eine verkümmerte, pervertierte Form der Reflexion, des kommunikativen Handelns: Das Stumme, Monologische des instrumentalen Handelns kommt bei Habermas dadurch zustande, daß er es als einen Dialog mit der Natur behandelt, bei dem allerdings der Gesprächspartner nicht reden kann.

Hier spukt die Idee herum, die in der Metapher vom Experiment als „Frage an die Natur“ zum Ausdruck kommt. Tatsächlich ist in der Naturwissenschaft keine Rede von einem „Gespräch“ zwischen dem Wissenschaftler und der Natur: als frage der Experimentator, und die Natur bedeute ihm stumm, sozusagen mit dem Nicken eines Zeigers, ob seine Hypothese falsch sei oder richtig. Die Wissenschaft ist ganz im Gegenteil insofern ein wahrhaft kommunikatives Handeln, als sie ein Reden über die Natur ist: Wissenschaftler kommunizieren „über“ die Natur: sie ist zugleich Gegenstand und Träger ihres Diskurses. Nicht die Natur stimmt einer Hypothese zu, sondern die Kollegen werden überzeugt.

Freilich besteht ein Unterschied zwischen Naturwissenschaft und Psychoanalyse darin, daß im letzteren Fall einer der Dialogpartner, nämlich der Patient, nicht von Naturphänomenen spricht, sondern von seinen eigenen psychischen Komplexen; diese sind ihm aber zunächst ebenso fremd und undurchsichtig wie Naturerscheinungen und werden auch vom Analytiker tatsächlich wie solche behandelt. Ein „szientistisches Mißverständnis“ der Analyse ist daher geradezu notwendig: die Analyse unterscheidet sich vom verständnisvollen Zureden, mag dieses sich noch so oft „hermeneutisch“ nennen, durch das Sammeln und Anwenden von Theorien über die Bildung und Lösung von Komplexen.

Diese Theorien sind wie naturwissenschaftliche in einer Objektsprache formuliert, entsprechend der verdinglichten Beschaffenheit der psychoanalytischen Gegenstände; diese werden ihrer Fremdheit entkleidet, ins Bewußtsein gehoben und „behoben“, indem sie mit Sprache bedeckt werden. Und ebenso behebt die technische Naturwissenschaft im diskursiven Handeln die durch „Gegenstände“ gebildete Not und macht sie durch das Bedecken mit einer Fachsprache zu Bei-ständen.

Was Habermas das szientistische Mißverständnis nennt, reduziert sich auf die fällige Forderung nach einer Modernisierung der analytischen Sprache, die ursprünglich nach Analogie einer mechanistischen Physik formuliert war. (Solch eine Modernisierung geschieht z.B. in der Schule von Jacques Lacan). Gewiß mutet diese Angleichung von heutzutage weitgehend „inhumaner“ Naturwissenschaft und relativ „humaner“ Psychoanalyse gewaltsam an; das hat aber zeitgeschichtliche Gründe; eine humane Naturwissenschaft ist durch ihre Struktur ebensowenig ausgeschlossen wie eine inhumane Psychoanalyse.

II.

Sohn-Rethel setzt am selben Punkt an wie Habermas: Im Marxismus ist die tatsächliche Form einer gesellschaftlichen Synthesis durch Arbeit nicht expliziert worden; und die Wissenschaft steckt als Fremdkörper im historischen Materialismus. Aber anstatt das zum Argument gegen die Fundierung des Marxismus im Arbeitsbegriff zu wenden, nimmt Sohn-Rethel es zum Anlaß einer marxistischen Analyse der Synthesis in Warengesellschaften, die nicht das Fundament sprengt, sondern eine Art Treppenhaus zwischen Basis und Überbau darstellt.

Wie Habermas sieht Sohn-Rethel, daß sich die Synthesis einer Tauschgesellschaft nicht unvermittelt durch Arbeit bewerkstelligen kann. Das führt ihn zu einer erneuten Untersuchung des Verhältnisses von Gebrauchswert und Tauschwert, wie es am Beginn des „Kapitals“ dargestellt ist. Um zu unterstreichen, daß in einer Aneignungs- und Tauschgesellschaft der gesellschaftliche Nexus nicht direkt durch Arbeit geschieht, arbeitet Sohn-Rethel noch stärker als Marx den Umstand heraus, daß Privatarbeiter ihre individuellen Produkte erst im Warentausch zum Produkt des „gesellschaftlichen Gesamtarbeiters“ synthetisieren. Er folgt daher Marx nicht in dessen Darstellung zu Beginn des „Kapitals“, wonach sich beim einzelnen Warentausch die Produkte im Verhältnis der zu ihrer Herstellung aufgewendeten Arbeitszeit austauschen; d.h., der Wert des einzelnen Produkts wird nicht mit einem Quantum Arbeitszeit identifiziert. Damit wird die Arbeitswertiehre nicht verworfen: Sie behält ihre Geltung für das Austauschverhältnis von Kapital und Arbeit. [5]

Die marxistische Theorie hat dabei keine Erklärungsgrundlage verloren; daß die Arbeitswertlehre zur Theorie der Preisbildung, d.h., zur Erklärung des Austauschs Ware—Ware, wenig beiträgt, sagt Marx selbst: „Die Möglichkeit quantitativer Inkongruenz zwischen Preis und Wertgröße ... liegt also in der Preisform selbst ... Die Preisform ... kann einen qualitativen Widerspruch beherbergen, so daß der Preis überhaupt aufhört, Wertausdruck zu sein ...“. [6]

Da Sohn-Rethel den historischen Ballast einer „wesenslogischen“ Bestimmung des Wertes als Quantum abstrakter Arbeit über Bord wirft, wird der Weg frei zu einer „funktionslogischen“ Beschreibung: [7] Statt Gebrauchswert und Tauschwert werden die Gebrauchs- und die Tauschhandlung untersucht. [8] Die von Marx herausgearbeitete scharfe Trennung der beiden Wertbegriffe erscheint dadurch anschaulich als die raumzeitliche Trennung der beiden Handlungsformen: Wer gebraucht, der kann nicht zugleich das Gebrauchte tauschen; wer tauscht, darf die Ware nicht gebrauchen, es gilt im Gegenteil das Postulat, daß die Ware während des Tauschakts absolut invariant bleibt: wer etwas auswählt, will es auch im selben Zustand in seinen Besitz nehmen.

Der Übergang von der Wesens- zur Funktionslogik steht in einem notwendigen Zusammenhang mit Sohn-Rethels grundlegender These, daß das abstrakt-begriffliche Denken sich „formgenetisch“ aus der Tausch-Synthesis in Warengesellschaften deduzieren lasse. Daher muß für Sohn-Rethel an einer reinen Wesenslogik des Wertbegriffs eben jener Begriffsfetischismus haften, den Marx speziell am Warenbegriff vorführte und den Sohn-Rethel durch eine Theorie der Begriffsgenese aus der Tauschabstraktion ganz allgemein transzendieren möchte.

Die Tauschabstraktion ist nach Sohn-Rethel eine „Realabstraktion“: Sie abstrahiert von den sinnlichen Eigenschaften der Ware, ihrem Gebrauchswert, und läßt nur quantitative Bestimmungen übrig, die zur Bestimmung des Tauschwerts relevant sind: Maße und Gewichte. Diese Abstraktion ist „real“, denn sie setzt sich ursprünglich hinter dem Rücken der Menschen durch, als notwendiges Begleitphänomen des Tauschhandels, als blindwirkender historischer Prozeß.

Erst mit der Einführung des Münzgeldes kommt diese Abstraktion zum Bewußtsein: Geld als das „abstrakte Ding“ führt die Realabstraktion vor Augen. Das Invarianzpostulat des Tausches realisiert sich anschaulich in der chemischen Invarianz des edelmetallischen Geldes, in der Möglichkeit, abgenützte Münzen gegen neue einzutauschen; erst viel später kommt die abstrakte Begrifflichkeit des Geldes als „sinnlich-übersinnliches Ding“ im Papiergeld ganz zum Ausdruck.

Die Realabstraktion des Tauschhandels führt nach Sohn-Rethel zur Abtrennung einer Klasse von geistigen Arbeitern: Spezialisten für die quantitativen Maße, die zur Überprüfung der Invarianz- und Äquivalenzforderung an die Tauschhandlung dienen. So führt die Trennung von Gebrauchswert und Tauschwert zu einer Klassentrennung in Kopf- und Handarbeiter. Während diese als Privatarbeiter produzieren, ist die Arbeit der ersteren als Spezialisten für Begriffe, die sich vom Tauschverkehr herleiten, ebenso weit vergesellschaftet, wie der Tausch zum Träger der innergesellschaftlichen Synthesis geworden ist.

Dies aber geschieht zum ersten Mal voll mit der Einführung des Geldes als innergesellschaftlicher Verkehrsform in Griechenland um etwa 700 v. Chr. Hier führt die geographische Zerrissenheit in kleine Inseln und autarke Talsiedlungen dazu, daß der Tausch- und Geldhandel nicht nur den Export und Import einer Gesellschaft beherrschte, sondern auch den innergesellschaftlichen Verkehr der Individuen.

Wenn die Realabstraktion des Tausches durch das Geld ins Bewußtsein steigt, löst sie dort entsprechende Denkabstraktionen aus: Die Warenform prägt die Denkform. Unmittelbar nach der Einführung des Münzgeldes treten die Ionischen Naturphilosophen auf. Sätze der Form „Alles ist Wasser“ spiegeln unmittelbar die Erfahrung mit der Geldwirtschaft: So wie das Geld die Substanz aller Waren darstellt, in denen es sich nur verschieden verkörpert, und so wie alles zur Ware werden kann, ebenso führen die Sätze der Naturphilosophen alle Naturstoffe auf einen von ihnen zurück.

Der Physiker Erwin Schrödinger hat auf die epochale Bedeutung dieser Sätze und der Mathematisierung der Natur durch Pythagoras hingewiesen. [9] Die Quantifizierung und vereinheitlichende Entsinnlichung der Natur in der geistigen Arbeit wird auf diese Weise in den Historischen Materialismus eingebaut. So spiegeln zum Beispiel die Paradoxa der Eleaten, wie die Geschichte von Achill und der Schildkröte oder der fliegende Pfeil, der in jedem Moment zu stehen scheint, die paradoxe Bewegungsform der Ware wieder: [10] einerseits geht diese Bewegung diskontinuierlich vor sich, denn die Ware gehört nur entweder dem Eigentümer oder dem, der sie ihm abkauft; andererseits geschieht die Bewegung kontinuierlich in einem abstrakten gleichförmigen Raum und einer ebensolchen Zeit: das fordert die universelle Geltung der Tauschgleichung (Zeit und Ort des Tausches ändern nichts an der Gleichung). Erst die Infinitesimalrechnung von Leibniz und Newton löst das Paradox einer punkteweisen und doch kontinuierlichen Bewegung durch das Zusammenführen von Kontinuum und Diskontinuum im unendlich Kleinen.

Auch die fundamentale Rolle der Gleichung für die mathematische Naturbeschreibung läßt sich auf die Tauschäquivalenz zurückführen. Dadurch kommt die scheinbar umständliche Beschreibung der Tauschgleichung zu Anfang des „Kapitals“ zu ihrem Recht: In der Realabstraktion der Tauschgleichung ist jede Möglichkeit einer quantitativen Gleichsetzung des qualitativ Verschiedenen begründet; sie verliert nur in einer Gesellschaft, deren Denken mit Gleichungen schon seit langem ganz selbstverständlich hantiert, ihre Wunderlichkeit.

Zu Sohn-Rethels Deduktionen naturwissenschaftlicher Denkformen aus der Warenform kann man eine weitere wichtige hinzufügen: Die ganze neuere Physik ist vom Begriff der Energie beherrscht. Der Energiesatz, die Energiebildung muß in jedem abgeschlossenen System erfüllt sein. Nun ist aber Energie ein Synonym für (physikalische) Arbeit. Energie ist abstrakte Arbeit in gespeicherter oder als Bewegung verausgabter Form. Die Formgleichheit von Warenform und Denkform ist hier augenfällig: so wie das abgeschlossene ökonomische System lebendige Arbeit gegen Kapital tauscht unter Einhaltung der Tauschäquivalenz von abstrakter Arbeit und Geld, ebenso geschehen alle physikalischen Vorgänge als Umsetzungen von potentieller und kinetischer Energie ineinander, unter Konstanthaltung ihrer Gesamtsumme.

Die Energie und ihre fundamentale Rolle in der Physik treten erst relativ spät zutage; Descartes und Leibniz stritten noch, ob in der Mechanik der Impuls oder die „lebendige Kraft“ (Energie) die wichtigeren Erhaltungsgrößen seien; [11] bewußt wird die Wichtigkeit der Energie für die Naturerklärung jedenfalls erst im voll entwickelten Kapitalismus, der die Arbeitswertlehre nicht nur praktiziert, sondern durch die klassische Nationalökonomie auch ein Bewußtsein von ihr hat.

Im Rahmen von Sohn-Rethels Theorie läßt sich Habermas’ Klassifizierung des instrumentalen Handelns als nichtkommunikativ in ihrer Falschheit durchschauen: das instrumentale Handeln des Naturwissenschaftlers, Logikers usw. ist gerade insofern nicht auf ständige Unterredung angewiesen, als es bereits voll vergesellschaftet ist. Die geistige Arbeit ist als Träger der gesellschaftlichen Synthesis schon dermaßen „kommunikativ“, daß sie der ständigen Versicherung durch verbale Kommunikation nicht in dem Maß bedarf wie die manuelle Privatarbeit oder die umgangssprachliche Reflexion.

Der Solipsismus des geistigen Arbeiters, der sich z.B. die Geltung logischer Schlüsse selbst auf dem Papier oder im Kopf demonstrieren kann, ist ebenso scheinbar wie der „praktische Solipsismus“ des Wareneigentümers, der zwar die Welt nach „Mein“ und „Nicht mein“ aufteilen muß, dabei aber erst recht durch den Tausch zum gesellschaftlichen Nexus beiträgt. Zwar ist der Kopfarbeiter imstande, gleichsam im Selbstgespräch zu arbeiten, aber dennoch nur nach Maßgabe intersubjektiver Gültigkeit, die er sich in Form von Regeln für richtiges Deduzieren auf den eigenen Schreibtisch geholt hat.

Das Kommunikative am instrumentalen Handeln ist derart selbstverständlich, daß es gar nicht eigens in Erscheinung tritt. Indem Habermas im instrumentalen Handeln Hand- und Kopfarbeit zusammenwirft, entgeht ihm die vergesellschaftende Funktion der letzteren. Diese Funktion muß daher einer von der Produktion abgetrennten Sphäre reiner Kommunikation zugewiesen werden. Über deren Rolle bei der Synthesis kann Habermas nichts Inhaltliches aussagen; ihm bleiben Formeln, wie Hermeneutik, Reflexion, Emanzipation.

III.

In Andeutungen geht Sohn-Rethel auf die Wichtigkeit der „Neuen Logik“ und der nachklassischen Physik für eine produktionslogische und nicht warenlogische Synthesis ein. [12] Er sieht in der Physik seit Einstein, Planck, Heisenberg und in der Mathematischen Logik seit Whitehead und Russell (Principia Mathematica) etwas qualitativ Neues auftreten, das der Entwicklung der Produktionsmittel seit etwa 1880 parallelläuft: diese drängen durch die Logik ihrer Entfaltung auf eine Vollvergesellschaftung der manuellen Arbeit, auf eine Synthesis der Gesellschaft nicht durch Tausch, sondern durch die Ökonomie der Produktion.

Diese tendentielle Vergesellschaftung der Handarbeit bringt eine „Revolutionierung“ der Wissenschaft mit sich: die Denkkategorien des „reinen Verstandes“ lösen sich von ihrer Formgleichheit mit der Form des Warentausches. Damit verlieren die durch Sohn-Rethel aus der Logik des Tausches abgeleiteten Kategorien, wie: strikte Kausalität, abstrakte Bewegung durch einen gleichförmigen Raum und eine unabhängig fließende Zeit, ihre ausschließliche Gültigkeit. Vor allem der direkt mit dem Tausch verknüpfte Dingbegriff mit seiner Trennung von Substanz und Akzidens, entsprechend der Trennung von Wert und Ware, wird obsolet.

In der Tat dominiert in der Mathematik und Physik heute der Strukturbegriff. Einstein stellte einen strukturellen Zusammenhang zwischen Raum und Zeit her. Die klassischen Fernwirkungstheorien, worin isolierte Massen über einen unstrukturierten Raum auf einander durch den Austausch von Kräften wirken, sind von Nahwirkungs-, d.h. Feldtheorien abgelöst worden: Teilchen sind Erscheinungsformen von Feldern, das heißt von vierdimensionalen raumzeitlichen Strukturen. In den modernsten Theorien der Elementarteilchen spielen gruppentheoretische und Symmetrieüberlegungen eine primäre Rolle; dagegen wird die einst uneingeschränkte Bedeutung von Gleichungen sekundär.

In steigendem Maß werden Strukturen die „Gegenstände“ von Theorien, nicht Dinge. Die Elemente der Strukturen, die Träger eines substantiellen Dingbegriffs im klassischen Sinn, erscheinen als austauschbar, ihre Eigenschaften ganz von der Struktur her bestimmt.

In der Theorie der Wissenschaft geschieht die Inauguration der Struktur mit Wittgensteins programmatischem Satz: „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsachen, nicht der Dinge.“ Der strukturelle Gesichtspunkt durchbricht den identitätsphilosophischen Dingbegriff, die Scheidung von Substanz und Akzidens, die Aristotelische Logik von Subjekt und Prädikat. Den Primat der strukturellen Eigenschaftsbestimmung vor dem dagegen verschwindenden Substanzbegriff bringt die von Frege eingeführte Notation des Satzes als Satzfunktion zum Ausdruck: f(a) bedeutet, daß dem Element a die Eigenschaft f zukommt; das Element, das „Ding“, ist die Argumentstelle einer Funktion. Die Invarianz des wissenschaftlichen Untersuchungsgegenstandes verschiebt sich damit vom Element zur Satzfunktion (vgl. dazu Wittgensteins Satz) und verläßt dadurch die Subjekt-Prädikat-(Substanz-Akzidens-)Form des Satzes: Nicht einem Ding kommen Eigenschaften zu, sondern eine Struktur erfüllt sich mit passenden Elementen.

Sollte in der Tat, wie wir meinen, der Strukturbegriff das Neue an der „Neuen Logik“ sein, so brächte er einen Stand der Produktivkräfte zum Ausdruck, der nach einer Synthesis durch Produktion, nach einer ungehinderten Vergesellschaftung der Handarbeit zusammen mit der Kopfarbeit schreit. Erst die Aufhebung der Trennung von Kopf und Hand ließe den Solipsismus der Warenbesitzer, wie er sich im Begriff des isolierten warenhaften Dinges spiegelt, hinter sich und wiese dem einzelnen Arbeitsprodukt seinen Stellenwert in einer gesamtgesellschaftlichen Struktur zu, nicht als nachträgliches Akzidens in Gestalt eines Gebrauchswertes so wie im Tausch, sondern als vorgängige Bedingung seiner Herstellung. Es würde dann nicht blindlings Wertsubstanz produziert, die sich nachträglich um ihre akzidentielle Verwertung auf einem Markt umschauen müßte, sondern die Produktion stünde unter dem Primat der strukturbedingten Eigenschaften, die das Produkt zum Gebrauch haben soll.

Solange die Trennung von Kopf und Hand nicht tatsächlich durch eine politische Umwälzung aufgehoben ist, bleibt die Geschichtslosigkeit der wissenschaftlichen Ergebnisse das unabänderliche Stigma dieser Trennung. Erst durch ihre Aufhebung stünde die gesamte gesellschaftliche Praxis unter dem Zeichen einer diachronischen Struktur, die einer zu ihrem Bewußtsein gekommenen menschlichen Geschichte entspräche.

[1Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis. Ffm 1970, S. 14.

[2MEGA, I.3, S. 123.

[3Claude Levy-Strauss, Das Wilde Denken, Ffm 1968, S. 35.

[4Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Ffm 1968, S. 71f.

[5Sohn-Rethel, a.a.O., S. 192f.

[6Karl Marx, Das Kapital, I, Berlin 1966 (Dietz), S. 117.

[7Alfred Sohn-Rethel, Materialistische Erkenntniskritik und Vergesellschaftung der Arbeit, Berlin 1971, S. 69.

[8a.a.O.,S. 19.

[9Erwin Schrödinger, Die Natur und die Griechen, Rowohlts Dt. Enzyklopädie Bd. 28.

[10Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 64.

[11Friedrich Engels, Dialektik der Natur, Berlin 1952 (Dietz), S. 82ff.

[12Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit, S. 164 ff.

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