FORVM, No. 428/429
August
1989

Sprache und Endzeit (III)

Aus dem Manuskript für den dritten Band der „Antiquiertheit des Menschen“

Teil I erschien hier im März, Teil II im Juni.

§ 6 Die Beschränktheit der Experten
Arbeitsteilung idiotifiziert

Um den Gedanken in Betracht zu ziehen, gegenüber ihrer eigenen Sprache und gegenüber der Weltsituation, die durch ihre Sprache nun einmal entworfen und vorausgesetzt wird, Skepsis aufzubringen, dazu sind die meisten Akademiker, namentlich die Naturwissenschafter und Technologen, nicht nur zu eingebildet, sondern zugleich auch zu bequem, [1] zu naiv und, wie überraschend das auch klingen mag, auch zu ungebildet. Denn „Spezialisierung“, „Nur-Eines-tun-Sollen“ und deshalb „NurEines-tun-Können“, das „Nur-an-Einem-Interessiertsein“, kurz: die „höhere Unbildung“ ist die hente unentbehrliche Vorbedingung für jeden Aufstieg. [2]

Mancher dieser Spezialisten mag zwar vielleicht ahnen, daß es sich „auszahlt“, seinen Horizont zu verengern, sich „beschränkt“ zu machen und seine Beschränktheit zu kultivieren; die meisten brauchen sich freilich, um Beschränktheit zu erwerben, nicht eigens anzustrengen, denn es gibt kaum naivere Typen als Gelehrte, inklusive die technisch genialen Erfinder. Die meisten von diesen wissen wirklich nicht, daß sie (nein, nicht etwa, wie man im vorigen Jahrhundert zu witzeln liebte, „zerstreut“, sondern umgekehrt) zu wenig zerstreut, eben ganz punktuell interessiert sind und so sein sollen; und die meisten machen es sich auch gar nicht klar — so selbstverständlich scheint ihnen dieser ihr „negativer Befähigungsnachweis“ —, wie praktisch es für sie ist, wenn sie punktuell bleiben. Und ebensowenig machen sie es sich klar, daß diese Arbeitsteilung (euphemistisch „Spezialisten-“ oder „Expertentum“ genannt) einen unbestreitbar idiotisierenden Effekt auf sie ausübt, daß sie sich absichtlich in „idee fixe“-Träger, in moralisch Imbezille, verwandeln — ein Effekt, der nicht etwa nur so nebenbei eintritt, den die Arbeitgeber vielmehr (und mit ihnen auch die gefügigen Arbeitnehmer selbst) durchaus beabsichtigen; den sie deshalb auch als moralisches Zielbild propagieren und, wenn erreicht, als „Eignungsbeweis“ akzeptieren. „Geeignet“ ist, wer nicht nach den Konsequenzen seiner Tätigkeit fragt; wer, da er nicht die Schranken übersteigt, „beschränkt“ bleibt. Adenauers berühmte lehrerhafte Mahnung an jene Göttinger Physiker, die ihn aufsuchten, um ihn über die Gefahren atomarer Rüstung aufzuklären, sie täten „wohl besser daran, sich säuberlich innerhalb der Grenzen ihres Fachgebietes zu halten“ (womit er jedem, der sich für die, die Fachgrenzen überschreitenden, Konsequenzen seines Tuns interessierte, indirekt der „Unsäuberlichkeit“ zieh); sein, wie Max Born damals erbittert erzählte, philiströs-leutseliger Rat an die verantwortungsbewußten Gelehrten, „bei ihrem Leisten zu bleiben“, durch den er diese zu „Schustern“ degradierte, diese Mahnung Adenauers ist das Modell geblieben. Auch heute noch ist sie die Moralmaxime aller Machtinhaber. Wer moralisch nicht taub ist, hört aus diesen Worten die Versklavungsmaxime des heutigen arbeitsteiligen Zeitalters heraus, in dem sich nicht nur die verschiedenen Arbeiter, sondern sogar — dies die heutige, über die Arbeitsteilung hinausgehende „Arbeitszerteilung“ — die verschiedenen Arbeitsphasen einer und derselben Arbeit auf mehrere Arbeiter verteilen, so daß es nun niemanden mehr gibt, den die Gesamtarbeit irgendetwas „angeht“, geschweige denn deren (u.U. katastrophaler) Effekt. Die Redensart „er geht uns nichts an“ mag zwar so klingen, als wollte sie sagen, der Effekt brauche uns keine Skrupel zu verursachen, also als bezeichne sie unser Freisein von Verantwortung. In Wahrheit bezeichnet sie aber etwas, was wir nicht dürfen: nämlich Verantwortung für etwas wahrnehmen, was wir nur mittun — kurz: die Untersagung von Skrupeln. Schon vor 30 Jahren hatte ich dieses Skrupelverbot in meinem Briefwechsel mit dem Hiroshima-Piloten Claude Eatherly bloßgestellt, als die USA diesem nicht erlaubten und nicht gönnten und deshalb auch nicht glauben wollten, daß er sein bloßes Mit-tun, seinen ungewollten Beitrag zur Vernichtung Hiroshimas, wirklich zu bereuen versuche. Das Problem dieser Korrespondenz war damals offenbar so brennend und deren Veröffentlichung zufällig so „well timed“, daß dieser Briefwechsel in alle Kultursprachen übersetzt wurde und sogar, beinahe simultan, in Sowjetrußland und in Francos Spanien erschien. [3] Gleichviel, der Ausdruck „das geht mich nichts an“ bedeutet nicht etwa ein „das braucht uns nichts anzugehen“, kein souveränes Über-der-Sache-Stehen, sondern umgekehrt privativ: „das darf uns nichts angehen“; und definiert damit die spezifische Unfreiheit, um nicht zu sagen: die Versklavung, zu der wir heute Arbeitenden nun definitiv verurteilt sind.

Denn ein „Sklave“ ist derjenige, der, wie der heutige Arbeiter, nicht wissen darf (deshalb auch nicht wissen will und deshalb wiederum nicht mehr wissen kann) — der also, knapp gesagt, nicht weiß, in welchem Zusammenhang [4] seine Arbeit stattfindet, die er freilich ruhig „seine“ nennen darf, nicht nur deshalb, weil Arbeit, wie Geld, „non olet“, „niemals stinkt“ ; sondern mehr als das: weil der Arbeiter im Arbeiten als solchem bzw. im Arbeithaben als solchem, gleich, was er „erarbeitet“, namentlich in Zeiten der Arbeitslosigkeit, ein Positivum sieht; also nicht nur nicht, alttestamentarisch, einen Fluch, sondern umgekehrt, gleich worin sie besteht und auf welche Effekte seine Produkte abzielen, einen Segen. Und weil er, zweitens, begreiflicherweise (wenn auch letztlich unlegitimiert) ein „Recht auf Arbeiten“ (als solches) beanspruchen, zu können, also zu besitzen glaubt.

„Sklave“ ist er deshalb, weil er — und hier gilt es Marx zu ergänzen — nicht nur vom Besitz der Produktionsmittel (zu denen er selbst natürlich ebenfalls gehört), sondern auch vom „Besitz“ der Produktionsmotive und -ziele ausgeschlossen bleibt.

§ 7 Exkurs über die Muße als Arbeitsleistung

In jeder anderen Beziehung können, dürfen und sollen sogar diese Sklaven, von denen verlangt wird, „nicht zu wissen, was sietun“, „frei“ sein. Und mehr als das. Denn sie können, dürfen und sollen ja sogar ein Luxusleben führen, sie können (etc.) ja soviel, wie sie wünschen, bzw. soviel, wie es die von ihrer Muße Profitierenden wünschen und ihnen deshalb „gönnen“; gleich, ob es sich dabei um surfing vor Teneriffa oder um „research-visits“ von Massagesalons in Bangkok oder um „Einbindungen in abendländische Kulturwerte“ handelt (was immer diesesmysteriöse, täglich dem Radio hochkommende Blabla bedeuten mag). Das alles dürfen sie, wie gesagt, nein: das sollen sie sogar. Deshalb, weil sie dadurch all das, was sie nicht dürfen, erfolgreich auslassen oder zudecken — sage mir, was du „sollst“, und ich werde dir sagen, was du (ohne das zu wissen und wissen zu dürfen) nicht darfst. Oder anders: Für jede Sache, die du (ohne das zu wissen und wissen zu dürfen) nicht darfst, darfst du eine oder zwei andere; die du, weil du sie darfst (bzw. weil sich das für den Anbietenden auszahlt) sogar auch sollst, und daraufhin sogar auch selbst begehrst. Denn geliefert werden dir nicht nur Produkte, sondern auch deine Produktwünsche, deine Begierden; auch die sind nicht etwa primär „deine“, vielmehr sind auch sie „produziert“ und dir, ohne daß du das gespürt hättest, injiziert, also geliefert worden. Jene „Produkte, die man gewöhnlich als einzige so nennt, sind nicht etwa Antworten auf deine Bedürfnisse; vielmehr sind viele deiner Bedürfnisse zu dem Zweck produziert, damit sie die Bedürfnisse der Produkte nach Konsumiertwerden befriedigen. Oder, negativ formuliert: Die Mehrzahl der heutigen (von TV und anderen Werbemedien gemachten) Angebote zielen eigentlich auf — Vereitelungen ab: nämlich darauf, die kirre gemachten Opfer daran zu hindern, das einzige wirkliche Verbot zu erkennen. Und dieses Verbot lautet eben:

„Du sollst nicht nach der Bewandtnis dessen, was du herstellst und nach den Effekten, die du durch das Hergestellte bewirken könntest, fragen; diese Effekte gar erkennen, geschweige denn solche Erkenntnisse verbreiten!“

Um dies zu verhindern, gibt es die blendende Werbung für Erlaubtes. Diese Reklame dient ausschließlich der Ablenkung von Verbotenem.

Dazu kommt zweitens: Mußegenießer dürfen sich deshalb alles „gönnen“, weil sie (zumeist natürlich, ohne das zu wissen) durch jede Mußetätigkeit, in die sie sich, durch die sirenische Werbung verführt, hineinziehen lassen, etwas (für die Freizeit- und die Tourismusindustrie) leisten, weil sie also „arbeiten“: [5] nämlich Waren (gleich ob Flugtickets, Skier oder Autos) erwerben und die erworbenen Erzeugnisse aufbrauchen, das oft sogar „im Mußeschweiß ihres Angesichts“ tun, z. B. bei Staus auf augustheißen Straßen — wodurch sie die Industrie mindestens ebenso verläßlich in Gang halten (nämlich für die Weiterproduktion ebenso effektiv sorgen), wie durch jene Tätigkeit, für die das entehrende Etikett „Arbeiten“ gewöhnlich reserviert wird; obwohl heutzutage nur wenige Arbeiten existieren, die auch nur annähernd so anstrengend wären, wie z.B. die „Sport“ genannten Muße-Aktivitäten, die oft sogar gerade wegen der mit ihnen verbundenen extremen Anstrengungen betrieben und durch diese gerechtfertigt, also als Lust gekauft und genossen werden („voluptas laborandi“ [6]).

Aber Sport ist nur ein Beispiel, wenn auch ein exemplarisches, für indirekt geleistete „Arbeit“. Denn Arbeitsbeiträge leisten wir pausenlos, leisten wir durch schlechthin jede Produktverwendung, namentlich durch jeden Produktkonsum: [7] Da wir als Konsumierende für die Sicherung der Weiterproduktion, auch für Produktionssteigerung Sorge tragen, leisten wir als Käufer für die Unternehmungen nicht weniger als die von diesen direkt Angestellten und Entlohnten; und diese das heißt: wir alle — arbeiten in gewissem Sinne sogar doppelt — da ja jeder Arbeitende zugleich auch Käufer ist. So ist es z.B. in den USA für nahezu jeden Arbeiter selbstverständlich, das Arbeitsprodukt „Auto“ zu besitzen (also erworben zu haben), weil keiner ohne dessen Besitz in der Lage wäre, sich an seinen Arbeitsplatz (oder, wenn arbeitslos, an seine Stempelstelle) zu begeben. „Proletarier“, nein: „Lumpenproletarier“ ist — Marx würde sich vielleicht im Grab umdrehen — derjenige, der noch nicht einmal diejenigen Produkte besitzt, ohne die er den Platz seiner Unfreiheit, also seinen Arbeitsplatz, nicht erreichen kann. Das hatte schon in den vierziger Jahren in Kalifornien gegolten, wo die autolosen Mexikaner in Downtown Los Angeles das Lumpenproletariat ausmachten und nicht nur als verächtlich arm, sondern deshalb sogar als verdächtig galten. Kurz: schon damals war Eigentum die Bedingung für die „Chance“, einen („eigentumslosen“) Arbeitsplatz zu erhalten. Nichthaben galt nicht als „Not“, sondern als „Schande“, und damit als „verdient“. Die Tatsache der Not bewies ihre eigene Berechtigung.

Um arbeiten zu können, müssen alle Arbeiter Produkte erwerben, die ihresgleichen produziert hatten, hatten produzieren müssen, um ihrerseits leben zu können. Wenn dieser, natürlich nur fiktive Mechanismus perfekt funktionieren würde, würde ihnen (da sie ja im Interesse des Absatzes der Produkte kaufkräftig sein und bleiben müssen) letztlich nichts fehlen. Fehlen würden freilich selbst dann zwei nicht unwichtige Dinge:

1. Die Freiheit, selbst zu bestimmen, was sie benötigen. Dieser Freiheit ist man ihnen immer schon zuvorgekommen. Ihrer sind sie beraubt durch den faktischen Bestand der (von ihnen selbst mithergestellten und ihnen nun angebotenen) Produkte (von denen sie selbst viele, obwohl von ihnen hergestellt, weil zu teuer, nicht käuflich erwerben können). Gleichviel, die „Antworten“ liegen gewissermaßen immer schon fertig vor, ehe sie eigene „Fragen“ und Wünsche (die ihnen auch gar nicht mehr einfallen) formulieren können. Das Universum der angebotenen Waren erstickt das Aufkeimen eigener Phantasie und Nachfrage.

Und 2. fehlt ihnen eben — damit sind wir wieder bei unserem zentralen Thema — die Freiheit, sich die Konsequenzen ihres Mitarbeitens vorzustellen, diese zu kennen und über diese mitzuentscheiden. Von diesen Konsequenzen dürfen sie eben nichts wissen, dürfen sie nichts wissen wollen. Wenn man versucht — was ich oft „Belehrter“, aber gottseidank Unbelehrbarer, immer wieder getan —, ihnen diese näherzubringen, dann wehren sie sich kreischend, man wolle sie ihrer „Freiheit berauben“, schließlich würden sie doch wohl noch selbst darüber befinden dürfen, welche Arbeit sie annehmen und welche nicht (worüber sie ja kaum je selbst befinden, in Zeiten von Arbeitslosigkeit niemals) und „I should mind my own business“ kurz: sie wollen von den (gewissermaßen „miterworbenen“) Konsequenzen der Arbeiten, die sie annehmen, nichts wissen; sie dürfen von diesen nichts wissen wollen; und sie dürfen diese Konsequenzen auch gar nicht auffassen können.

Aber — und in dieser verdrießlichen „Iteration der Unfreiheit“ besteht unsere Situation, sie ist das Charakteristikum der Versklavung, der die heute Arbeitenden unterworfen sind: diese dürfen nämlich darüber hinaus auch nicht wissen, daß sie das nicht können dürfen. Durch diese, vielleicht haarspalterisch klingende, aber schließlich von mir nur aufgefundene, nicht erfundene Potenzierung der Ignoranz entsteht der in der Tat überall vorherrschende Anschein einer „moralischen Windstille“; der Anschein, daß eigentlich alles in schönster Ordnung sei; jener schändliche Anschein, den auch nur einen Augenblick lang nicht zu bekämpfen, keiner von uns sich erlauben darf.

§ 8 Folgen der potenzierten Ignoranz für die Sprache im Atomzeitalter

Wir scheinen uns von unserem Ausgangsthema der „Sprachlosigkeit“ weit entfernt zu haben. Aber das scheint nur so. Schließlich ist es nicht grundlos gewesen, daß wir die heute grassierende „potenzierte Ignoranz“ der „Sklaven“, die (in Abwandlung des Sokratischen Satzes) nicht wissen dürfen, daß sie nicht wissen dürfen, so ausführlich behandelt haben. Denn von dieser Ignoranz hängt eben auch das Sprechen ab. Das Sprechen derer, die sich über die atomare Drohung äußern (oder angeblich äußern oder eben überhaupt nicht äußern). Menschen, die, wie wir es im vorigen Paragraphen geschildert, von der Kenntnis der Bewandtnis dessen, was sie mitherstellen und was sie mit Hilfe der von ihnen mit-hergestellten (oder mitbedienten) Geräte mit-verursachen, grundsätzlich ausgesperrt bleiben, die also (so würden vielleicht Jesu Worte heute lauten) „nicht wissen dürfen, was sie tun“, die können dieser ihrer blinden Betriebsamkeit natürlich auch sprachlich nicht gewachsen sein. Was man nicht erkennen darf (und deshalb nicht erkennen kann), das darf (oder kann) man eben auch sprachlich nicht meistern, noch nicht einmal benennen; das bleibt außerhalb der Grenzen des Vokabulars. Womit gesagt ist — und das kann wahrhaftig Einsichtige verdüstern — daß die heutigen Arbeiter (zu denen natürlich nicht nur die manuellen zählen, denn die Übergänge zwischen den „Arbeitern der Hand“ und denen „des Hirns“ sind, z.B. in Laboratorien, fließend, es gibt tausend Zwischentypen) überhaupt keine eigene Sprache für das haben, was sie selbst tun, und kein eigenes Vokabular; und erst recht keines, das auf Erkenntnis der Wahrheit abzielte; daß ihnen vielmehr nichts anderes übrigbleibt, als sich zur Bezeichnung oder Nennung dessen, was sie selbst (für andere) schaffen, mit dem Idiom dieser anderen zu begnügen, also mit dem Idiom derer, denen der Produktionsbetrieb (inklusive ihrer eigenen Personen) gehört und denen dieser Betrieb Profit einbringt; und daß sie dieses ihr „Mit-fremder-Zunge-Sprechen“ gar nicht spüren. Kurz: genau so wenig, wie sie Eigentümer der Produktionsmittel sind, sind sie Eigentümer der Produktionssprache, von der begleitet Produktion vor sich geht. Mit eigener Zunge reden sie weder über die kolossale Größe der Produkte, die sie, da sie sie ja mit-produzieren, indirekt eben produzieren; noch über die jedes Ausmaß überschreitenden Effekte, die schließlich die raisons d’Être dieser von ihnen mit-hergestellten Geräte sind; noch über die Tatsache, daß ihre Tätigkeit pausenlos schuldgefährdet, nein schuldbelastet ist: Kurz: sie sind — das gibt es wahrhaftig nicht nur in den (namentlich von krypto-totalitären Staaten) als „totalitär“ verrufenen Staaten — mit dem, was sie tun, total „gleichgeschaltet“. Und gleichgeschaltet sind nicht etwa nur die Arbeiter, sondern auch die Arbeiterparteien und deren Sprecher. Einsichtige Männer oder Frauen wie Lafontaine gibt es in diesen erst seit sehr kurzem, und ihre Position innerhalb dieser ist durchaus noch nicht gesichert.

Nichts ist daher abseitiger, als der von allen Kohls erfundene und verbreitete Köhlerglaube — unterdessen hat dieser aus parteitaktischen Gründen an Stimmstärke eingebüßt —, die Antiatombewegung habe ihren ersten Nährboden, mindestens ihr zweites Echo, in „roten“ Parteien gefunden; [8] oder sie sei gar eine getarnte sowjetgesteuerte, kurz: eine „extremistische“ Bewegung — womit man sie als symmetrisches Stück der Neonazi-Bewegung gleichsetzte. Nichts ist irreführender. Umgekehrt gilt, daß die Arbeiter- nein: die sozialistischen Parteien und die ihr angehörigen Arbeiter, nach kurzem Schwanken die Bewegung geschmäht haben, und das Jahrzehnte lang. [9] Ja, auch die Arbeiter selbst haben das getan. Aufs erfolgreichste „apokalypseblind“ gemacht, hatten sie mehr Angst davor, ihren heutigen Arbeitsplatz einzubüßen, als davor, ihr morgiges Dasein und die übermorgige Welt zu verlieren — und das zu lernen hatten sie kaum nötig gehabt. Die wahrhaftig begreifliche Verteidigung des eigenen Arbeitsplatzes macht jeden ohnehin blind, die offizielle Propaganda gegen die Antiatombewegung schlug in eine Kerbe, die die Arbeiter selbst schon geschlagen hatten und verteidigten. Die Parallele zu der Situation im Jahre 1933 liegt auf der Hand. Die jahrzehntelange geradezu programmatische Seh-unfähigkeit, nein: Selbstblendung, und dadurch auch Sprech-unfähigkeit und -unlust darf auch von Marxisten nicht vertuscht werden. Auch von mir nicht. Und die Blindheit und Sprachunfähigkeit der Millionen von Arbeitern in den Sowjetstaaten ebensowenig. Den Fundamentalproblemen von heute haben sich die Arbeiterschaften von heute nicht als „gewachsen“ erwiesen.

Aber ich rede von hier.

Wenn heutige hiesige Arbeiter: die seit der Nazizeit leidenschaftlichen Theorieverächter, die unwürdigen Enkel ihrer zu Recht theoriestolzen Großväter, heute über die atomare Lage reden (was freilich kaum je geschieht), dann tun sie das ausnahmslos mit Hilfe der ihnen durch die Massenmedien (mittelbar also durch die herrschende Klasse) gelieferten TV-, Bild- oder „Kronen-Zeitungs“-Vokabulars. Und das ist nicht erstaunlich, da sie von diesen Medien ja pausenlos vollgestopft werden (Lieferungs- und Konsumpausen wären unverantwortbare Vergeudungen); und da sie ja die Kenntnis ihrer sog. „Muttersprache“ nicht etwa von ihren Müttern gelernt haben, sondern eben (wie diese ausnahmslos auch schon) von den Stimmen ihrer Geräte; die, wie gesagt, ihrerseits mit dem Munde der herrschenden Klasse sprechen (die freilich ihrerseits ihr Vokabular und ihren Tonfall auch schon wieder — was hier πρώτερον und was ὕστερον ist, läßt sich nicht mehr ausmachen — von ihren Geräten gelernt hat).

§ 9 Desinformationsindustrie

Oder man bedient sich (ich meine alle in Betrieben jeder Art Teilarbeiten Leistenden, und das ist ja nahezu jedermann), wenn einmal doch das Malheur passiert, daß man auf Hiroshima oder Tschernobyl oder dergleichen zu sprechen kommt (höchstens „auf“, niemals thematisch „über“), genau so wie dann, wenn die Unterhaltung durch ein Malheur auf Maidanek oder Auschwitz zu sprechen kommt, eines Idioms, das moralisch noch inadaequater ist als die zwei bisher erwähnten modi loquendi Zuerst war mir zur Charakterisierung dieser dritten Sprache der Ausdruck „Stammtischidiom“ in die Feder geflossen, da es sich um eine dröhnend-solidarische Vulgär- und Ignorantensprache handelt. Diese Benennung ist zwar nicht direkt falsch, aber sie reicht doch nicht aus. Und zwar deshalb nicht, weil das von mir hier gemeinte Idiom dem totalen Nichtwissen nicht nur, wie das Stammtischidiom, entstammt, sondern auf die Erhaltung oder Herstellung von Nichtwissen geradezu abzielt. Ignoranz-Industrie. Damit widerspricht dieses Idiom, obwohl unbestreitbarerweise eine „Redeweise“, wie jedes Lügen [10] überhaupt, der Funktion des Sprechens, dessen Ursinn ja schließlich darin besteht, Mitmenschen etwas wissen zu lassen, was sie nicht wissen; sie an der Kenntnis von ihnen noch unbekannten oder vielleicht sogar grundsätzlich unzugänglichen Tatbeständen teilhaben zu lassen, sie zu „Mitinhabern“ von Wahrheiten zu machen, die sie nun auch als Handelnde ins Kalkül ziehen können, obwohl sie sie nicht selbst „wahrgenommen“ hatten — kurz: sie zu informieren.

Was hier vor sich geht, ist tatsächlich das Gegenteil von Informieren. Nein, etwas noch Fataleres. Denn dieses Gegenteil: die Desinformation (die zu den wichtigsten Aktivitäten in unserem heutigen programmatisch antiaufklärerischen Leben gehört), ist die eigentliche, die beabsichtigte raison d’Être dieses Redens. [11] Niemals besteht sie in einer Einzellüge, die es versuchte, sich als insulare unwahre Aussage in einen als wahr anerkannten Kontext hineinzuwurmen und sich in einem solchen durchzusetzen. In der Tat ist es kaum vorstellbar, daß jemand, der etwa die These der Auschwitzlüge vertritt, fähig sei, in allen anderen Hinsichten die Wahrheit zu sprechen, mit uns übereinzustimmen und als normaler, gar verläßlicher, Gesprächspartner zu funktionieren. Eine einzige solche Lüge reicht aus, um einen Menschen als ganzen zu verseuchen und ihn moralisch indiskutabel zu machen.
Andererseits aber sind die Desinformations-lügen auch nicht identisch mit „Ideologien“. (Manche vielleicht „noch nicht“.) Denn Ideologien stellen ja trotz ihrer, oft totalen, Unwahrheit immer so etwas wie theoretische Systeme dar, oder sie beanspruchen es, als solche akzeptiert zu werden.

Von den Lügen, die ich im Auge habe, kann man aber auch das nicht behaupten: denn diese sind, obwohl (s.o.) nicht (mehr) nur falsche Einzelaussagen, auch niemals schon ausgewachsene Systeme. „Nicht mehr nur Fisch, noch nicht Fleisch.“

Entscheidend ist vielmehr, daß sie in Wahrheit keine Theorien oder Meinungen sind, sondern nur Affekte, die als solche sich verkleiden und in dieser Verkleidung auftreten. So entspringt die These „Auschwitz ist eine Lüge“ nicht einer Theorie, vielmehr der Wut und Empörung über einen Vorwurf. Der Wütende schäumt nicht deshalb, weil er eine Behauptung für lügenhaft hält; umgekehrt bezeichnet er diese als Lüge, und hält sie dann auch für eine Lüge, weil er empört ist; weil er sich „eine solche Behauptung nicht bieten zu lassen braucht, und sie sich zu verbitten, ein Recht“ habe. Seine These: „Systematische Liquidierungen von Juden hat es nie gegeben, das ist eine Judenlüge!“ ist nur etwas Sekundäres: nur die Kostümierung einer Indignation. Er will von der Liquidierung nichts wissen oder gar wissen müssen. Aus diesen Gründen hat sie in seinen Augen eben nicht stattgefunden.

§ 10 Exkurs über die ermordete Ermordung
Verleumdung zwecks Verleugnung

Wiederholen wir: der Zweck der „Desinformation“ besteht in der ausdrücklichen Ausblendung oder Ableugnung von Tatbeständen, die ans Licht gekommen sind oder ans Licht kommen könnten, das aber nicht sollen; und in der, im Interesse der Ableugnung praktischen Verleumdung derer, die auf diesen Tatbeständen weiter insistieren. Beabsichtigt ist mithin, die Gesprächspartner daran zu hindern, gewisse Fakten zu sehen, oder darin, sie daran zu hindern, sich die „schon gesehenen“ zu merken, denn es gibt eben auch Verführung zur „Verdrängung post festum“, also zur Verdrängung von Inhalten, die bereits einmal „bewußt“ gewesen waren. Zweck der Desinformation ist es mithin, andere ın die Verleumdung derer, die auf der Wahrheit bestehen, mit hineinzuziehen und sie dazu zu veranlassen, in die Verleumdung der angeblichen Verleumder mit einzustimmen, ihre mögliche oder effektive Kenntnis der Wahrheit durch deren Verhöhnung zu ersticken, ihr Eigentlich-schon-erfahren-Haben wieder rückgängig zu machen. Wie gesagt, zuweilen kann die (künstliche) Ignoranz dem Zustand des Schon-gewußt-Habens nachfolgen; zuweilen können auch diejenigen, die die Wahrheit bereits gekannt hatten, wenn diese zu kennen sich als inopportun herausstellt, in Ignoranten zurückverwandelt werden, und die Opfer können dabei mithelfen. Es gibt eben nicht nur methodisches Lernen, sondern auch methodisches Verlernen; und nicht nur methodisches Informieren, sondern auch methodisches Desinformieren. In gewissem Sinne wird dieses, namentlich dann, wenn es Mord- oder gar Genozidfakten zum Inhalt hat — und die sind ja die Gustothemen dieser obszönen Bestreitungssprache, und sogar diesem Bestreiten wohnt ja noch ein Element sadistischer Süße ein gleichviel: das Bestreiten selbst wird zu einer Art von „zweitem Morden“, die unerwünschten Mordtatbestände selbst werden auch noch aus der Welt geschafft. Wenn die Bestreitenden nicht müde werden, diese Fakten zu erwähnen, so einzig und allein zu dem Zwecke, um zu betonen, daß diese, wie jedermann wisse, „von den natürlich jüdischen Erfindern der Auschwitz- und der Kollektivschuldlügen erstunken und erlogen“ worden seien; und daß — der Betonung der angeblichen Langweiligkeit dieser „Lügen“ wohnt ebenfalls große Verführungskraft inne diese „jedem anständigen Deutschen schon seit Jahren zum Halse heraushängen“. Dieses „Heraushängen“ gilt natürlich seinerseits als Kriterium für „Anständigkeit“.

An diese und ähnliche Redensarten sind sie deshalb so fest fixiert, weil es nichts gibt, was ihr Selbstbewußtsein eindrucksvoller zum Aufblühen bringt, als die immer neu wiederholte Bestreitung der Gültigkeit dieser Wörter.

„Vernichtungslager? Daß ich nicht lache!“

„Sechs Millionen? Hast du sie vielleicht nachgezählt? Soviele hatte es ja noch nicht einmal gegeben, als sie noch da waren!“ „Find’st du vielleicht, die haben was Besseres verdient?“

Daß diese Frage- oder Satzfetzen einander widersprechen, das stört niemanden: nicht nur nicht die Sprecher, sondern leider auch die Angesprochenen nicht. Ihre Widersprüchlichkeit verhindert es auch nicht, daß sie von einem und demselben Frager in einem und demselben „Gespräch“ mit einem und demselben Zuhörer, sogar kurz hintereinander, verwendet werden können. Denn sie werden zusammengehalten durch eine, wenn auch nicht logische, Klammer: eben durch die gemeinsame Hohnabsicht.

Da diese Sprache ausschließlich aus Ableugnungen besteht, aus Ableugnungen, deren Wahrheit durch Verächtlichmachung „bewiesen“ wird — diese „Beweismethode“ durchherrscht in der Tat die ganze Sprache des Antisemitismus — bleibt sie eine reine Negationssprache; was nicht verhindert, daß ihre Sprecher zuweilen ihre Aussagen, weil das offenbar Spaß macht, mit kleinen Pfefferprisen von zugegebenen Wahrheiten versetzen; z.B. wenn sie über die unschönen Nackten höhnen, die vor den „Brausebädern“ Schlange zu stehen hatten.

§ 11 Die Hiroshimalüge

Nun — damit kehren wir zu unserem eigentlichen Thema „Sprache im Atomzeitalter“ zurück — der analoge Ausdruck „Hiroshima-Lüge“, der bedeuten würde, daß es „Hiroshima“ überhaupt nicht (so wenig wie Auschwitz) gegeben habe, der ist zwar niemals geprägt worden. Wohl aber die These (mindestens der, Thesen nicht erfordernde, Glaube), daß man durch die atomare Rüstung (und deren täglich steigende „Verbesserung“ und „Modernisierung“) die Welt nicht mit Zerstörung bedrohe, höchstens auf die (sowjetrussische) Zerstörungsdrohung (die in Wahrheit natürlich eine plausible, sogar notwendige, Reaktion gewesen war) angemessen reagiere. Die Tatsache, daß man selbst die Welt bedrohe, wird in der Tat seit über vierzig Jahren täglich, stündlich und minütlich in den Massenmedien und in Millionen von Texten und Reden (und je größer die Gefahr, um so ausdrücklicher) bestritten; und das im gleich hämischen Tone, in dem in Deutschland die Realität von Auschwitz bestritten worden ist.

Und bestritten wird nicht etwa nur die seit August ’45 bestehende und täglich verwendete und als „Abschreckung“ moralisch verteidigte Drohung mit dem Atomkriege. In gewissem Sinne wird das historische Urereignis, also die Auslöschung Hiroshimas selbst, ebenfalls abgeleugnet. Was zwar nur indirekt geschehen kann, aber unzweideutig genug bewerkstelligt wird. Mit Hilfe eines Verbots: durch die, obwohl nirgends ausgesprochene, um so ausnahmsloser anerkannt und befolgte Tabuisierung des Geschehnisses als Gesprächs-, gar als Kritikthema. Was abgeleugnet wird, ist nicht so sehr die Tatsache selbst, als das Faktum, daß diese Tatsache in einer Tat bestanden hätte, und eben in einer maßlos verbrecherischen — wodurch die Tatsache selbst ebenfalls verunklart, nein, beinahe ausgelöscht worden ist. Im Alltagsleben Amerikas wird — wurde jedenfalls, solange ich dort lebte: bis 1950 — Hiroshima kaum je erwähnt, so wenig, wie im Alltagsleben Deutschlands und Österreichs Auschwitz erwähnt wurde oder wird. Und wenn doch — diese Sprachregelung hatte bereits am ersten Tage, also am 6.8.1945, eingesetzt — dann wurde die Tat rechtfertigt, und zwar dadurch, daß sie als „Rettungsaktion“ etikettiert wurde („we had to save our boys“); obwohl diese „Rettung“ sich völlig erübrigte, da ja Japans Kapitulationsbereitschaft schon vor dem 6. August 1945 in Washington bekannt gewesen war; und obwohl der Schlag in Wahrheit ja gar nicht mehr einem bedrohlichen Japan gegolten hatte, sondern als Drohgeste gegen die, formell noch alliierte, s.U. gemeint gewesen war. Die verstrahlten Japaner waren also — was die Verbrecherischkeit der Tat noch vervielfachte — nicht als sie selbst gestorben, sondern als Opfer einer einem Dritten geltenden Warnung.

Wie auch immer, in der „Seele“ Amerikas hat sich die Ableugnung der Verbrecherischkeit der zwei Akte H. und N. in deren Verschweigung verwandelt — was aber nicht bedeutet, daß sie nun ausdrücklich verschwiegen worden wären oder würden. Selbst das Wort „Verschweigung“ ist noch zu positiv, denn es scheint ja zu implizieren, daß die Fakten H. und N. nur sprachlich ausgelassen worden, vorsprachlich dagegen präsent gewesen oder geblieben seien. Diese Implikation wäre aber zu positiv, sie würde zu viel bejahen. Die Taten „Hiroshima und Nagasaki“ brauchten gar nicht eigens verschwiegen zu werden, die waren am 7. August schon vergangen, und die zwei Städte existierten ja bald wieder unangetastet, so als existierten sie noch, nein: blühender und volkreicher als je zuvor. Kurz: Die Zerstörung war (wieder) unsichtbar (gemacht). Da man die zwei Zerstörungs- und Mordakte genau so wenig sah und genau so wenig besprach wie in Deutschland die Mordakte von Auschwitz, ist unsere These, Hiroshima sei als „Lüge“ behandelt worden, durchaus berechtigt.

Diese These kann ich sogar autobiographisch belegen. Vor dreißig Jahren, ich erwähnte es bereits (§ 6), haben der Hiroshima-Pilot Claude Eatherly und ich miteinander korrespondiert. Dabei war es um Eatherlys nachträgliches Erschrecken über seine Teilnahme und Mitschuld an der Vernichtung Hiroshimas gegangen und um die Bereuung seiner Mittäterschaft.

Nun, das Faktum der Vernichtung Hiroshimas und der Teilnahme Eartherlys an dieser auf Grund dieser Korrespondenz direkt abzuleugnen oder gar zu verleumden, das war für die Kritisierenden natürlich nicht möglich. Indirekt dagegen konnten sie Ableugnung und Verleumdung sehr wohl organisieren. Und zwar dadurch, daß sie unsere, Hiroshima betreffende, moralische Kompetenz ableugneten, und Eatherly verleumdeten sie als einen, der seine Hiroshima-Reue simuliert haben mußte; und zwar nicht nur deshalb, weil er die Bombe ja nicht selbst geworfen habe (was E. natürlich auch niemals behauptet hatte), sondern namentlich deshalb, weil ja Reue, wenn sie echt gewesen wäre, bewiesen hätte, daß eine Untat wirklich begangen worden war, und weil ein solcher Beweis nicht gestattet werden durfte. Die Reue habe E. mithin nicht wirklich empfunden, er sei mithin entweder ein wichtigtuerischer Simulant gewesen; oder er habe sie unsinnigerweise doch empfunden: dann sei er eben ein Psychopath gewesen, den man (wie es geschah) mit Elektroschocks behandeln mußte. In der Tat hat es beide Versionen gegeben, sogar kreuz und quer durcheinander: die Ärzte, die ihn zu „beurteilen“ und zu „behandeln“ hatten, sind offensichtlich nicht nur Analphabeten der Moral gewesen, sondern auch intellektuell unartikulierte Personen.

Kurz: die Hiroshima-Reue wurde deshalb als Lüge oder Krankheitssymptom behandelt, weil es nichts geben durfte, weil darum angeblich nichts geschehen war, was Rene erfordert, nein: auch nur erklärbar gemacht hätte. Der Fall war dadurch moralgeschichtlich ein erstmaliger, daß Reue nicht als Bereuung eines Vergehens akzeptiert wurde, sondern selbst als Vergehen oder als Symptom einer geistigen Störung hingestellt wurde. Soweit die Beurteilung Fatherlys.

Und was mich betrifft, so wurde ich deshalb verleumdet, weil ich einen geistig unselbständigen Texan boy entweder zu dieser irrealen und irreellen Reue verführt oder in dieser bestärkt hätte. Auch ich hätte mich also (eben durch Unterstützung oder gar Produktion der Scheinreue) als eine moralisch unsolide und unglaubwürdige Person erwiesen; nein sogar — und das galt, und gilt natürlich als noch weitärger — als ein auch politisch unglaubwürdiges, nein: zwielichtiges und deshalb gerade unzweideutiges Subjekt. Was soweit ging, daß einer der zahlreichen Verleger des „Briefwechsels“ auf Pression von Washington hin das Opfer brachte, den Briefwechsel, obwohl dieser sich vorzüglich verkaufte, aus dem Handel zu ziehen — wodurch er indirekt das Faktum Hiroshima in eine „Hiroshimalüge“ verwandelte.

§ 12 Noch einmal: das „Don’t Bother Me“- und „Forget About It“-Idiom

Greifen wir zurück: Die Sprache, die darauf abzielt, Fakten als „nicht der Rede wert“ oder als „nicht geschehen“, also „erlogen“ beiseitezuschieben; die nur das Desinteresse an dem, was erwähnt wird, oder den Wunsch, solches Desinteresse zu erzeugen, anzeigt, dieses „don’t bother me“- oder „forget about it“-Idiom entsteht evidentermaßen in erster Linie angesichts der enormen Skandalthemen: angesichts der Atom-, Umwelt-, Populations- und Genprobleme, die unsere normale (eben unzulängliche) proportionem humanam, die Grenzen unserer Vorstellungs-, Gefühls-, Verantwortungs- und Widerstandskräfte übersteigen. So begrenzt und eingeengt werden und sind wir freilich nicht allein durch das, was wır nicht können — Kants Überprüfung der „Grenzen der reinen Vernunft“ war selbst eine begrenzte Prüfung gewesen —, sondern auch durch dasjenige, was wir nicht sollen oder dürfen, kurz: durch Verbote und Tabus.

Nicht nur gilt — so lautet ein molussischer Spruch

was ich nicht kann,
geht mich nichts an,

Sondern ebenso, obwohl dieser Zweizeiler im ersten Moment der unbezweifelbaren Attraktionskraft der Sünde zu widersprechen scheint:

was ich nicht darf,
macht mich nicht scharf [12]

womit gesagt ist, daß nicht allein unsere „theoretische Vernunft“ oder unsere Phantasie begrenzt ist, sondern auch unser Wille; daß wir nicht alles wollen können. Aber auch, daß wir gar nicht wünschen, alles wollen zu können. Dasjenige, was wir (oder sagen wir lieber, da wir diesem „wir“ als Kritiker dieser Tatsache ja gerade nicht zugehören) was man nicht verstehen soll, das will man auch gar nicht verstehen können. Wenn einem nichtsdestoweniger zugemutet wird, sich Tabuisiertes (also z.B. die Möglichkeit des atomaren Unterganges) vorzustellen und es gar sprachlich zu artikulieren, dann versagt man; und nicht nur deshalb, weil man unfähig ist, das Enorme zu imaginieren, sondern auch deshalb, weil man sich dasjenige, was untersagt ist, versagt; weil man wirklich glaubt, daß die Möglichkeit, einzugreifen oder gar Widerstand zu leisten, außerhalb der eigenen Machtgrenzen liege; und daß es einem nicht zustehe, über dieses Eingreifen oder Nichteingreifen mitzubefinden. Unsere „Grenzen“ sind also nicht wie die von Kant behandelten Vernunftgrenzen „einfach da“ (oder vielleicht Folgen unserer Kreatürlichkeit) sondern auch Folgen von Machtverhaltnissen, also hergestellte politische Fakten. Aus diesem Grunde ist es Brauch, daß man auch das Endzeitthema, wenn es einmal (selten genug) doch erwähnt wird; oder wenn gar theoretisch Kompetente Warnungen vor der Provokation des Zeitendes laut werden lassen (noch seltener), daß man diese dann allergisch als „wissenschaftlichen Quatsch“ beiseiteschiebt. Diese Allergie ist in der Tat, trotz des Respekts, den man „außerdem“ vor allem Akademischen hat — diese Ambivalenz wäre einmal eine genaue Analyse wert —, überwältigend. Über die Tatsache, daß die Erzeugnisse, die man, und zwar jeder von uns, von früh bis spät vertrauensselig mitverwendet, ohne die keiner von uns leben kann (oder die man sogar, mehr oder minder gut dafür bezahlt, mitproduziert), daß diese ebenfalls von verlachten Wissenschaftern ausgedacht und entworfen worden sind Kurz: daß die Verlachten zu denen gehören, ohne die man sowenig telefonieren wie fliegen könnte — über diese Tatsache zerbricht man sich nicht weiter den Kopf.

In anderen Worten: die Abweisung der Katastrophenthemen, richtiger: die Abweisung der Möglichkeit von Katastrophen ist, wie widerspruchsvoll das auch klingen mag — die Grundvoraussetzung für das Sich-einlassen auf die Katastrophenthemen. Nicht nur Leichtgläubigkeit ist charakteristisch für den heutigen, den heute hergestellten, Menschen; sondern auch die Leichtigkeit, mit der er (eben an die Katastrophen) nicht glaubt. Und das gilt nicht etwa nur von denjenigen Menschen, deren Tun und Lassen mit den möglichen Katastrophen nichts zu tun hat, sondern um nichts weniger von denen, die, als Arbeits-, Administrations- oder Militärpersonen, „dazugehören“ und professionell ihren Beitrag leisten. Das, was sie tun, das geht sie nichts an, ist eigentlich, da sie es „selbstredend“ mittun dürfen und sollen, „nicht der Rede wert“, und deshalb bleibt es zumeist eben auch außerhalb ihres wirklichen Beredens. Das „it’s not my d... business“ bewahrt Sachverhalte bzw. Themen davor, zu wirklichen Themen zu werden. Über Dinge, die einen nicht interessieren sollen oder dürfen, unterhält man sich nicht; und da man es nicht soll, interessieren sie einen auch wirklich nicht.

Analog gilt seit langem, daß sich jeder, der in einem, gleich ob fabrikartigen, administrativen, bürokratischen oder staatlichen Betrieb arbeitend, sich nach der Verwendbarkeit oder der tatsächlichen Verwendung der Produkte, an denen er mitarbeitet, erkundigen würde, der für diese sein Interesse äußerte oder gar — aber wer täte das schon? — seine Mitarbeit von der Antwort auf seine Frage abhängig machen würde, als abnorm gelten würde. In der Tat gibt es keinen stärkeren Beweis für die Unrationalität unseres Lebens, als die Tatsache, daß derjenige, der wissen möchte, was er tut, als verrückt angesehen wird. Offensichtlich hängt die Klassifikation „normal“ und „abnormal“ nicht von medizinischen, sondern vor allem von sozialen Kriterien ab. Diese These ist nicht ausgedacht, vielmehr kann ich sie autobiographisch belegen. So habe ich vor 45 Jahren als „abnormal“ gegolten. Damals — ich arbeitete in einer Werkstatt in Los Angeles an der Herstellung von sog. „hand weaving looms“ — fiel es mir auf, daß keiner der neben mir den gleichen Griff kontinuierlich Repetierenden jemals auch nur die geringste Neugierde zeigte, einmal einen Blick auf die (in einer Remise nebenan aufgestapelten und auf Verpackung und Abtransport wartenden) Fertigprodukte zu werfen; geschweige denn sich dafür zu interessieren, was denn das für Käuferinnen waren, die für diese von uns maschinell hergestellten anachronistisch-vormaschinellen Hobby-Webrahmen Geld ausgaben. Weder die Endprodukte, an denen sie immerhin täglich arbeiteten, noch deren Benutzerinnen gingen sie auch nur im geringsten etwas an. Ein sinnloseres Leben als ihr aus solcher Arbeit bestehendes — aber natürlich ist das Leben von 99% aller Arbeitenden nicht minder sinnlos — läßt sich wohl kaum vorstellen; obwohl sie selbst wohl behauptet hätten (und obwohl ihre heutigen „Brüder“ rund um die Welt behaupten würden), daß ihr Leben erst in demjenigen Augenblicke sinnlos geworden sei (oder werden würde), in dem sie ihren sinnlosen Job verlieren würden; und obwohl sie hätten beten können, mindestens dürfen:

„Unsere tägliche Sinnlosigkeit gibt uns heute!“

Fortsetzung folgt

[1So können z.B. auch heute (Ende ’88) Männer wie Edward Teller noch immer nicht von dem Vokabular lassen, das seine Existenz der (natürlich auch früher nur erfundenen) Unterstellung eines jeden Moment möglichen, sogar beabsichtigten, atomaren Überfalls der S.U. auf die USA verdankt hatte: Auch heute noch beten diese Tellers, um ihre täglichen Verteidigungsüberlegungen, -berechnungen und -vorbereitungen, von denen sie leben, zu rechtfertigen und um Gorbatschow, der ihr unsicheres Gewissen noch unsicherer macht, zu widerlegen, beten sie also täglich:

„Unseren täglich Feind gib uns heute!“
(oder: „... erhalt uns auch heute noch!“)

und nichts fürchten sie mehr als den Tag, an dem man ihnen — dies der Inbegriff von „Unamerican activities“ — den ihnen seelisch unentbehrlichen Glauben, an die Gefahr und den täglichen Genuß ihres Verfolgungswahns mißgönnen und aus den Händen schlagen könnte.

[2So habe ich in Amerika schon in den vierziger Jahren in den akademischen Stellenvermittelungen als unseriös, wenn nicht sogar als suspekt gegolten, weil ich, obwohl in den Listen als „phenomenologist“ klassifiziert, außerdem Texte über Literatur und Musik publiziert hatte. Das konnte man so wenig ernstnehmen, wie etwa die Prätention einer Taschenlampe, außerdem als Löffel und Schraubenzieher dienen zu können. Fehlen von Einseitigkeit galt als Beweis von Dilettantismus und als Vieldeutigkeit, oft auch als politische, stellte jedenfalls einen geschäftsschädigenden Defekt dar. Vielseitig zu sein, im Sinne von „überall einsetzbar“, das durften sich eigentlich (außer den Ranghöchsten: den Ministern und Aufsichtsräten, die ihre Ressorts wie Schauspieler ihre Rollen wechselten), nur die Allertiefsten, die „unskilled workers“, erlauben. Bei denen, z.B. bei den illegal immigrierten Mexikanern in California, galt dieser Defekt sogar als unverzichtbar.

[3Ursprünglich „Off limits für das Gewissen“, Rowohlt 1959 — Nun im Sammelband „Hiroshima ist überall“, C.H. Beck 1982, S. 190

[4Der nationalsozialistische Appell an die „Volksgemeinschaft“ ist nichts anderes, als der Versuch, den Schein des Zusammenhanges nachzuliefern. Der Enthusiasmus, mit dem dieser Appell akzeptiert wurde, beweist, wie unerträglich das „Nichtwissen“ ist.

[5Die Nationalsozialisten waren noch — man verzeihe dieses entlastend klingende Wort — so naiv gewesen, mit offenen Karten zu betrügen. Denn durch ihren Slogan „Kraft durch Freude“ hatten sie ja offen zugegeben, daß sie die Muße als Mittel zur Kräftigung (natürlich der Arbeitskräfte) einsetzten.

[6„Die Antiquiertheit des Menschen“, Bd. II, S. 101 ff.

[7In Molussien galten Nichtraucher bekanntlich als „Streikende“, als „Saboteure“ der Tabakregie, Kettenraucher dagegen als „sich bewährende Staatsbürger“.

[8In Wahrheit entstammen alle Warner vor der Atomgefahr (und nicht etwa nur die erste Generation: Einstein, Schweitzer, Russell etc.), genauso wie alle Theoretiker des Sozialismus der Bourgeoisie: als deren oppositionelle Söhne.

[9So haben mich z.B. Vertreter zweier sozialdemokratischer Parteien, großzügig auf die Lektüre meiner Theorien verzichtend, abwechselnd als „Luft“, als „Maschinenstürmer“ und als „moskauhörig“ bezeichnet.

[10Vermutlich wäre es sinnvoll, die aristotelische Definition des Menschen als „ζῶον λόγος ἔχον“ durch die als „ζῶον ψεῦδος ἔχον“ zu ersetzen. Daß es sich miteinander verständigende nichtmenschliche Wesen gebe, das scheint ja (z. B. durch die Dechiffrierung der Bienentänze) gesichert. Dafür dagegen, daß es Tiere gebe, die lügen können, gibt es wohl keine Zeugnisse (es sei denn man rechnet Mimikry-Akte zu den Lügen). Unsere Fähigkeit zu lügen müßten wir im Zusammenhang mit unserer „Freiheit“ durchdenken: denn als Lügende beweisen wir unsere Fähigkeit, uns vom Sosein der Fakten frei zu machen und den Anderen (und uns selbst) ficta als angebliche facta vorzuspiegeln.

[11Welche überwältigende Rolle die „Desinformationsindustrie“ heute spielt, kann hier nicht dargestellt werden. Verglichen mit der Kraft, die uns zwingt, uns die Produkte der „Desinformation“ einzuverleiben und zu assimilieren, ist die Kraft der Institutionen, die uns angeblich informieren, etwa die der Schulen, ganz gering. Es gibt keinen Lehrer, dessen Einfluß mit dem des TV konkurrieren könnte.

[12So hatte wohl z.B. die Frage, ob das Mitselektieren von morituri auf der Auschwitzer Rampe erlaubt sei, niemandem Schwierigkeiten bereitet; und zwar deshalb nicht, weil schon die Fähigkeit, diese Frage aufzuwerfen, außerhalb der Grenze des Erlaubten lag; weil man das nicht fragen können durfte; und weil man es daraufhin — so weit ging der Gehorsam, und so weit geht er auch heute — auch wirklich nicht konnte.

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