Staat ohne Faschismus, Subjekt ohne Regression
Über ein Unterfangen, die Revolution zu retten, ohne vom Faschismus zu reden.
Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen — so der Titel von Holloways letztem Buch — klingt zwar wie eine Headline aus dem letzten Pfarrblatt, dennoch gibt es darin kaum eine Zeile, die für ein solches Publikationsorgan brauchbar wäre. Dem Politikwissenschafter, der seit 1993 an der UNAM in Mexiko unterrichtet, geht es ums Ganze: um die Revolution. Kein akademisches Hin und Her, keine vorgeschützte Neutralität, sondern ein klares Bekenntnis: Die Welt ist mies eingerichtet. In ihr ist der Mensch „ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ (Marx). Und das nicht, weil falsch geherrscht wird, sondern wegen dem scheinnotwendigen Fortbestehen des Prinzips an sich. Im Gegensatz zum linken, politikwissenschaftlichen Mainstream hat Holloway nicht vergessen, wozu theoretische Auseinandersetzung in kritischer Absicht da ist: Kritik „ist kein anatomisches Messer, sie ist eine Waffe. Ihr Gegenstand ist ihr Feind, den sie nicht widerlegen, sondern vernichten will“ (Marx). Im Anschluss an die Kritische Theorie formuliert er dabei eine luzide Kritik des traditionellen Marxismus, insbesondere seiner Staats- und Politikkonzepte. Diese leiden noch immer an einem, alle kritischen Intentionen zunichte machenden Irrtum: die Formen bürgerlicher Vergesellschaftung werden lediglich als Emanationen einer instrumentellen Vernunft der Herrschenden begriffen, statt in den Verkehrsformen selbst die Perpetuierung des Prinzips Herrschaft zu erkennen. Staat und Produktionsprozess werden dann nur mehr als technische Apparate angesehen, die man nur den herrschenden Cliquen entreißen muss, um sie für die eigenen, „menschenfreundlichen Zwecke“ dienstbar zu machen. Diesem Missverständnis gilt es mit Aufklärung über den abstrakten Charakter der Formen bürgerlicher Herrschaft entgegen zu wirken. Nicht der angeblich zu niedrige Lohn, sondern das Prinzip Lohnarbeit, bei dem das Vermögen zur Produktion von Mehrwert immer mitgekauft und damit die Möglichkeit zur Ausbeutung immer gegeben ist, ist der Kritikpunkt. Ebenso sind nicht die Menschenrechte als Bollwerk gegen den Staat hoch zu halten. Diese wären nicht ohne jenem. Der bürgerliche Staat zielt darauf ab, Individuen als den Akkumulationsbedingungen angepasste Subjekte zu kreieren. Diese Form der Subjektivität ist in den Menschenrechten kodifiziert und wird vom Hüter über Recht und Ordnung, dem Souverän, garantiert und solange aufrecht erhalten, solange dieser Regulationsanspruch, egal ob subjektiv oder objektiv durch die Krise der Vergesellschaftung, nicht in Frage gestellt wird. Es kann also nicht darum gehen, die Macht zu übernehmen — schon gar nicht in der Form der Staatsmacht. Lediglich in der bestimmten Negation des Bestehenden lässt sich Befreiung denken und antizipieren.
Holloways Kritik an den verschiedensten Irrwegen linker Theoriebildung ist fundiert und radikal. Besonders hervorzuheben ist seine Rezeption der Marxschen Wert- und Fetischkritik, der er zwei lesenswerte Kapitel widmet. Dort werden die wichtigsten Ausführungen von Marx als auch die Rezeption dieser Stellen bei Lukács, Adorno und anderen dargelegt und diskutiert. Seine Überlegungen zu tendenziell pessimistischen Argumenten der Kritischen Theorie bezüglich eines „totalen Verblendungszusammenhangs“ sind bemerkenswerte Beiträge und zeigen, wie man an der Kritik totaler Vergesellschaftung festhalten kann, ohne damit die Emanzipation der Menschen für unmöglich zu erklären. Für Holloway ist die kapitalistische Vergesellschaftung qua definitionem ein krisenhafter, sich immer wieder neu erfindender und damit nie völlig abgeschlossener Prozess. Damit ist Totalität als negative gefasst. Trotz des universellen Anspruchs von Kapital und Staat auf Regulierung der gesellschaftlichen Reproduktion könnte man ihnen prinzipiell jederzeit den Garaus machen. Warum dies aber nicht geschieht, ist Holloway leider keine Zeile wert. Aber dazu später.
Auch Holloways Argumente, warum ernst gemeinte (anti)politische Praxis erst einmal als radikale Kritik auftreten muss, lassen nichts zu wünschen übrig. Im Gegensatz zum traditionellen, „wissenschaftlichen“ Marxismus, geht es kritischer Theorie nie um Vollständigkeit, das Formulieren unhintergehbarer Notwendigkeiten, oder gar Neutralität gegenüber ihrem Gegenstand. Vielmehr geht es ihr um „Darstellung als Kritik“, das Begreifen der Welt aus der Position der möglichen Abschaffung der scheinnotwendigen gesellschaftlichen Zwangsverhältnisse und um die Begründung, warum diese Position allgemeine Gültigkeit erlangen kann, aber eben nicht notwendigerweise muss. Solche Kritik kann immer nur als Negation des Bestehenden formuliert werden und muss gerade auch gegen jene sich wenden, die sich einbilden Kritik zu üben, aber letztendlich in „konformistischer Revolte“ doch nur an den bekannten Verkehrsformen festhalten.
Bei allem was Holloway leistet, bleibt aber doch ein bitterer Nachgeschmack, denn in manchen Positionen kann selbst er sich nicht vom traditionellen Marxismus lösen. Auch für Holloway ist Arbeit ein unschuldiges, ja positives, den Menschen erst zu seiner Entfaltung führendes Prinzip, das erst im Kapitalismus zu einer unnötigen Plage wird. Diese Ontologie der Arbeit steht aber im Gegensatz zu den Theoretikern, auf die er sich ansonsten beruft. Marx geht es in seiner Analyse im Kapital um „Arbeit in unmittelbar gesellschaftlicher Form“ , also um die „Verkleidung der Herrschaft in Produktion“ (Adorno/Horkheimer). Welche Bedeutung Arbeit für den Menschen an sich hat, ist dem späten Marx eine uninteressante und groteske Frage. Für Adorno und Horkheimer, bei denen ein ontologischer Arbeitsbegriff durchaus eine Rolle spielt, ist die Notwendigkeit der menschlichen Gattung Arbeit leisten zu müssen, der Ausgangspunkt der Introjektion von Herrschaft und der Bildung eines dazugehörigen, auf Identität zielenden Bewusstseins. Der Kapitalismus erhebt dieses repressive Moment der Sozialisation dann nur noch zum absoluten Telos des Subjekts und führt somit zum Verfall des Individuums.
Auch Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus, also genau jene Elemente bürgerlicher Vergesellschaftung, die entscheidend dazu beitragen, diese zusammen zu halten, spielen in Holloways Analyse kaum eine Rolle. Lediglich das Phänomen des Staatsrassismus, also der von oben verordneten Identität via Staatsbürgerschaft, wird gestreift. Die Möglichkeit der Regression der bürgerlichen Subjekte zu dumpfem Kollektivismus, wie auch die Möglichkeit der faschistischen und nationalsozialistischen Krisenlösung sind Holloway kein Thema. Dieses Ausblenden rührt von einer selektiven Rezeption Kritischer Theorie: die Kritik bürgerlicher Subjektivität mit den Mitteln der Psychoanalyse, die für die Analyse der autoritären Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft von entscheidender Bedeutung waren und sind, werden, genauso wie der Faschismus selbst, einfach ausgespart. Damit wird ein wichtiger Teil des kritischen Potentials von Holloways Denken wieder einkassiert. Dies betrifft vor allem den Ausgangspunkt seiner Gesellschaftskritik: den so genannten „Schrei“. Der etwas pathetische Begriff soll die Beschädigung des Individuums durch das Realitätsprinzip beschreiben. Diese Verletzung ursprünglicher Menschlichkeit kann seiner Einschätzung nach nie getilgt werden. Das Bedürfnis zu protestieren ist somit allen Individuen als bürgerlichen Subjekten eingeschrieben, der Schritt zur Revolution nur eine Frage der Freilegung dieses Potentials. Adornos Ausführungen stehen zu solchen Ontologien in krassem Widerspruch. Zwar bezeichnet auch er in Die revidierte Psychoanalyse ganz im Anschluss an Freud den individuellen Charakter als „ein System von Narben (...), die nur unter Leiden, und nie ganz, integriert werden (können).“ Für ihn ist „die Zufügung dieser Narben (...) die Form, in der die Gesellschaft sich im Individuum durchsetzt“. Adorno weiß allerdings sehr wohl, dass die Brechung des primären Narzissmus unumgänglich ist. Nicht die Beschädigung der phantasierten, kindlichen Allmacht ist das Problem, sondern wie diese Beschädigung in der bürgerlichen Gesellschaft Konformismus und das Bedürfnis, Teil eines scheinbar natürlichen Kollektivs zu sein, immer wieder befördert. Weder ist mit dieser Beschädigung ein Potential zur Revolution angelegt, noch ist damit die Entwicklung zum autoritären Charakter unumgänglich. Holloway aber bedient falsche Assoziationen: Nicht jeder, der sich als Opfer fühlt, nicht jeder, der „gegen die da oben“ oder gar gegen das „Schweinesystem“ wettert, ist ein Revolutionär im Wartestand. Oft genug ist das Gegenteil der Fall. An diesem Punkt zeigt Holloway einmal mehr, wie haltlos Gesellschaftskritik wird, wenn sie nicht auf die Erfahrung des Nationalsozialismus reflektiert. Emanzipativer Praxis kann es deshalb auch nicht darum gehen, diese ursprüngliche Kränkung zu tilgen. Diese ist vielmehr Voraussetzung eines vernünftigen, autonomen Ichs. Vielmehr wäre die Abschaffung der unnotwendigen Unterwerfungen, die sinnlose Wiederholung der individuellen Leiderfahrung und der damit verbundenen Regressionen, das Ziel. Holloways Gesellschaftskritik ist somit eine, die von der faschistischen Epoche vollkommen unberührt geblieben ist. Und darin liegt ihr größtes Manko.
John Holloway: Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen. Westfälisches Dampfboot, Münster 2002, 255 Seiten, EUR 24,80
