EuropaKardioGramm, EKG 5-6/1995
Oktober
1995
Interview

Supermacht EU?

Zweiter Teil des Interviews mit Professor Jörg Huffschmid über Tendenzen und Perspektiven der Europäischen Union.

EKG: Kann man von einer gewissen politischen Konzeption der deutschen Elite sprechen, wenn man einen Zusammenhang zwischen dem Ausscheren aus der EWS-Solidarität und dem SchäublePapier über den harten Währungskern herstellt?

Huffschmid: Davon kann schon gesprochen werden. Das Bindeglied ist die Tatsache, daß schon Ende der 80er Jahre, unabhängig von der deutschen Vereinigung und dem Zusammenbruch der osteuropäischen Länder, die EG in eine Krise geraten war: Das Binnenmarktpotential war erschöpft. Die positiven, versprochenen Wirkungen des Binnenmarktes stellten sich nicht ein. Schon Anfang der 90er sah man, es gibt immer mehr Deregulierung. Der große Wachstumsboom kommt nicht, die Arbeitslosigkeit geht nicht zurück.

Im Vorfeld des Binnenmarktes kam es ja auch zu massiven Firmenaufkäufen, die zu Massenentlassungen, Rationalisierungen und Auflösungen von Betrieben führten. Bis 1990 gab es einen stetigen Anstieg der innereuropäischen Fusionen. Was dieser Theorie, Binnenmarkt heißt Erhöhung der Konkurrenz, und Erhöhung der Konkurrenz heißt niedrigere Preise, heißt mehr Wohlstand für die Verbraucher, diametral ins Gesicht schlug.

Es gab keine Senkung der Preise, es gab eine ungeheure präventive Konzentrationsbewegung, die die Marktmacht der Unternehmen erhöht hat, statt sie zu verringern. Die Wohlstandseffekte haben sich nicht richtig eingestellt. Die Polarisierungseffekte in der EG sind relativ deutlich gewesen. Die regionalen und die nationalen Unterschiede haben sich nicht verkleinert, sondern die Einkommensabstände zwischen den ärmsten und reichsten Regionen bzw.
Ländern haben sich in den 80er Jahren vergrößert statt verkleinert. Es wurde dann allmählich auch politisch diskutiert, daß da einige unangenehme Nebenwirkungen stattfinden würden, etwa zunehmende Zerstörung der Umwelt durch rigorose Deregulierung und Vermarktwirtschaftlichung aller Lebensbereiche. Und dann kam eben dieses Modell Währungsunion, das EWS war damals noch stabil, die Bundesrepublik hatte sich als ökonomische Hegemonialmacht etabliert, aber es war eine sehr labile Konstruktion. Deshalb hat man versucht, die EU als neues Zugpferd für die neunziger Jahre zu etablieren. Das, was der Binnenmarkt für die 80er Jahre sein sollte, das sollte die EU — sowohl die Währungsunion als auch die politische Union — für die neunziger Jahre werden. Das Problem ist, es ist nicht gelungen, eine alternative Integrationskonzeption zu entwickeln, die auf Frieden, Ökologie, sozialen Ausgleich gerichtet ist. Das ist alles fehlgeschlagen.

Welche Lösung hat man verfolgt?

Man hat sich auf die alten Dinge besonnen, d.h., wodurch bekommt ein Staatenverbund oder ein Staat Identität? Durch Militärmacht. Es ist eigentlich absurd, nach dem Ende des kalten Krieges, daß der Militärmachtgedanke erstmals massiv vorangebracht wurde. Das hat natürlich schon etwas mit Normalisierung im schlechten Sinne zu tun: Ein großes Land und eine große Ländergruppe müssen eben eine einheitliche Militärmacht haben, um ganz normal in der Welt agieren zu können. Und ganz normal heißt immer in der Geschichte, immer dann, wenn es notwendig ist, als militärische Macht intervenieren zu können. Das ist das eine. Das ist aber nur möglich, wenn der Zusammenhalt dieser Länder gewährleistet ist, und dieser Zusammenhalt ist eben auf den bisherigen politischen Wegen nicht herstellbar gewesen. Und die Währungsunion ist natürlich ein Brachialentscheid. Wenn einmal eine Währungsunion hergestellt ist, hat das enorme Kohäsionswirkungen im politischen Sinne, nämlich tatsächlich einen Block zu etablieren. Der kann in sich dann ökonomisch oder sozial noch so heterogen und polarisiert sein. Und das ist das Problem.

Wie stellt sich das Problem dar?

Der Weg zur Währungsunion ist jetzt ein Weg größten Druckes für die schwächeren Länder: Austeritätspolitik um jeden Preis, das werden einige Länder nicht schaffen, nicht überleben, und dann ist die EU im Prinzip am Ende — als institutionelle Gruppierung von gemeinsamen, sich integrierenwollenden Ländern. Stattdessen gibt es dann einen informellen Block, und das ist vertraglich überhaupt nicht abgesichert, wenn zum Beispiel heute Deutschland mit Frankreich und den Beneluxländern eine Währungsunion machen. Es gibt keine Bestimmung im Vertrag, die ihnen das verbieten würde. Sie würden das nicht als EU-Mitglieder machen, nein! Das haben sie ja schon vorexerziert, beim Eurocorps. Das Eurocorps ist eine völlig neben allen Institutionen stehende Angelegenheit, ist eine Privatinitiative von Deutschland und Frankreich. Gedacht ist natürlich, daß dieser Kern dann hinterher institutionalisiertt werden kann. Und das passiert ja auch: die Spanier und die Belgier sind jetzt schon dabei. Auch die Spanier, die Franzosen und die Italiener machen jetzt so etwas für das Mittelmeer — auch Privatinitiativen! Das ist sozusagen die Privatisierung der Europäischen Union. Das heißt natürlich, die starken Länder machen das, was in ihrem Interesse ist. Jetzt kann sogar der härteste Europakritiker nostalgisch werden, denn jetzt machen sie einfach auf Privat, und die einen oder anderen können sich dann anschließen, wenn sie keinen anderen Weg mehr sehen.

Mir ist aufgefallen, daß sich der künftige Kern der Währungsunion weitgehend mit den ersten Schengen-Ländern decken: wieder Benelux, Deutschland und Frankreich. Schengen steht auch außerhalb des EU-Vertrages, soll aber dann für alle ins EU-Recht übernommen werden.

Die Kernländer der EU verfahren mit der EU so, wie die EU mit der Efta verfahren ist: Entweder übernehmt ihr unseren aquis communautaire‚ oder ihr laßt es sein. Und so machen sie das nun informell. Entweder ihr übernehmt es oder eben nicht. Dann besteht die EU zwar nach wie vor, nur hat sie dann nichts mehr zu bedeuten.

Stehen bilaterale Verträge vor oder nach dem EU-Recht?

Wenn sie dem EU-Recht widersprechen würden, wären sie diesem nachgeordnet. Aber sie widersprechen ja nicht, da im EU-Vertrag nicht steht, daß keiner eine Währungsunion machen darf.

Aber bei den Schengener-Verträgen ist es so, daß jene, die nicht beitreten, die anderen EU-Staaten diskriminieren. Rein theoretisch, nach den Luxemburger Verträgen, könnten sie es ja nicht einführen?

Das weiß ich nicht genau. Aber bei Sicherheitsaspekten gibt es nicht die Vergemeinschaftung, sondern nur die Kooperation bei der Rechts- und Innenpolitik. Und Schengen fällt in den Kooperationsbereich. Im Vertrag gibt es keine Bestimmung, die eine Vergemeinschaftung der Rechts- und Innenpolitik vorsieht. Das ist ja keine ökonomische Angelegenheit, denn der Binnenmarkt bezieht sich nur auf die vier Freiheiten, die EU aber ruht auf drei Säulen.

Erstens: Supranational ist der Binnenmarkt hier gibt es supranationales, verbindliches Recht; zweitens: Außen- und Sicherheitspolitik — in diesem Bereich können in einem sehr komplizierten Verfahren gemeinsame Aktionen beschlossen werden, die aber erst dann verbindlich sind; drittens: die Kooperation bei der Rechts- und Innenpolitik — eine von Fall zu Fall vorzunehmende Kooperation, und Schengen ist so ein Fall. Im Grunde kann sich jedes Land gegen das andere unter dem Aspekt der Sicherheit — wie etwa Kriminalität oder Drogen — abschotten. Sie können sagen, das geht über die Warenfreiheit. Dann könnte man vor dem Europäischen Gerichtshof klagen, daß die Niederlassungsfreiheit dadurch beschränkt sei. Ich glaube, das Verfahren käme nicht durch. Es ist auch irreführend, daß die Kontrollen an den Grenzen aufhören müssen. Die ökonomisch relevanten Kontrollen müssen aufhören. Nur, unterscheiden Sie einmal zwischen ökonomischer Warenkontrolle und Verbrecherfahndung.

D.h., Maastricht II wird zum Ziel haben, die Kooperationen, die zwischen den starken Ländern beschlossen worden sind, zu vergemeinschaften?

Nein, das macht England überhaupt nicht mit. Ich denke, es ist ihnen egal. Die starken Länder sind in einer solch starken Position, daß sie die Option haben: Entweder wir bekommen das, was wir wollen, als verbindliches Recht für alle fünfzehn durch oder eben nicht, denn es verstößt nicht gegen den Text des Vertrages. Das ist eine komfortable Position, es gibt kein Druckmittel dagegen. In der Tat, die Hierarchisierung ist sehr weit vorangeschritten. Es ist natürlich schöner, das dann als Wille der Gemeinschaft hinzukriegen, das werden sie schon versuchen. Da wird aber gebremst werden. Aber es wird irrelevant sein. Meine These ist, daß sowohl der EG- als auch der Maastricht-Vertrag im Grund relativ irrelevant ist, weil die starken Kräfte mittlerweile auf einem ökonomischen und politischen Kurs sind, der eine hierarchische Formierung — man kann es konzentrische Kreise, Pyramide oder wie auch immer bezeichnen — Europas betreibt, und das können sie auf beiden Wegen machen. Der konfliktärmere Weg ist wahrscheinlich der, das im allgemeinen Konsens zu machen. Aber sie können es auch anders machen: Sie würden aber nicht den EGoder Maastricht-Vertrag aufkündigen. Faktisch werden sich die Gewichte dann verschieben, und der EG-Vertrag wird dann nicht mehr so wichtig sein. So ist die europäische Politik der letzten fünf Jahre eigentlich immer gemacht worden. Immer haben Mitterand und Kohl vor jeder EG-Konferenz vorgegeben, was Sache zu sein hat. Die anderen konnten dann das zur Kenntnis nehmen. Im Oktober 1991 haben sie beispielsweise die Gründung des Eurocorps bekanntgegeben. Es war gut getimed, keiner konnte so richtig was dagegen sagen. Es war Fakt, und das ist mehrfach so gelaufen.

Können Deutschland und Frankreich auf dem militärischen Gebiet eigentlich miteinander kooperieren? Frankreich ist eine Atommacht und Deutschland nicht.

Ja, das ist interessant. Sie können natürlich in allen anderen Bereichen kooperieren: bei der Rüstung zum Beispiel ein Corps aufstellen.

Den Kern der WEU sollen ja diese fünf Länder bilden. Benelux, Frankreich, Deutschland. De facto geht geht es hier um die französische Atommacht. Bei diesen gemeinsamen Kooperationen braucht es einen gemeinsamen Schlüssel, der sie zusammenhält. Und auf der anderen Seite gibt es die Emanzipation von der Nato.

Frankreich ist seit den sechziger Jahren aus der Nato raus. Sie nehmen jetzt zwar wieder teil, aber sie sind formell noch nicht wieder integriert. Frankreich ist seit damals nie Mitglied der militärischen Integration der Nato gewesen. Es ist vor allem Kooperation möglich, weil die zukünftigen militärischen Interventionen keine atomaren Interventionen sein werden. Da gibt es kein politisches Problem bei der Kooperation, da gibt es eine Abstimmung, weil Deutschland keine kolonialen Interessen und auch keine militärischen Interssen im Osten — würde ich einmal sagen hat. Diese Krisen-Reaktionskräfte sind ja an und für sich ein kluger Schachzug. Das ist sozusagen die Basis, wo wir vergemeinschaftet werden, in gemeinsamer Wahrnehmung, in gemeinsamer Verantwortung für die Sicherheit in der Welt sorgen. Der Ersatz des Bedrohungsszenario durch das Risikoszenario, und Risiken können in jeder Sache und in jeder Region auftauchen. Man ist da sozusagen in einer variablen Vergemeinschaftung drinnen. Für mich ist interessant, daß es doch relativ zügig zu einer unbefristeten Verlängerung des Atomwaffensperrvertrages gekommen ist. Was passiert nun, wenn immer mehr vergemeinschaftet wird. Deutschland war einer der ersten Staaten, die für eine unbefristete Verlängerung dieses Vertrages eintraten.
Wenn sie sich nun immer mehr mit Frankreich zusammenschließen, dann kann ich mir nicht vorstellen, daß nicht irgendwann einmal der Punkt kommt, wo die Deutschen sagen: Wir haben jetzt alles vergemeinschaftet, und ihr steht noch immer da mit eurem Schlüssel und könnt irgendwann sagen, so, und jetzt machen wir einen Atomkrieg, und wir haben dazu nichts zu sagen. Ich denke, wenn die Verbrüderung und Verflechtung so weit fortgeschritten ist, dann ist das auch irgendwie einleuchtend. Dann wird Deutschland faktisch durch die Hintertür zur Atommacht. Ob das von großer Bedeutung ist, weiß ich nicht, denn die künftigen Atomkriege sehe ich im Augenblick noch nicht.

Es ist mir in diesem Zusammenhang nur aufgefallen, daß es Streitigkeiten zwischen Deutschland und Frankreich gab bei dieser Wiederaufbereitungs-Geschichte. Die Franzosen haben z.B wiederaufbereitetes Material nicht an Deutschland ausgeliefert - eine Zeitlang. Dann der Versuch, einen Sitz im Weltsicherheitsrat als ständiger Vertreter zu bekommen — nachdem alle fünf ständigen Mitglieder in Besitz von Atomwaffen sind, würde das bedeuten, daß man eine Atommacht zu sein hat, um dort sitzen zu können.

Das ist aber nicht so definiert. Daraus kann man nicht schließen, daß man die Bundesrepublik zur Atommacht machen würde oder wollte, wenn man sie als ständigen Vertreter aufnimmt. Da ist ja der Wortlaut dieses Non-Proliferation-Treaty wirklich knallhart. Also, wenn die Bundesrepublik Atommacht werden sollte, kann sie das nur noch über dieses merkwürdige Hineingeborenwerden, daß sie also nicht dafür kann. Denn dazu sind die Erklärungen zu eindeutig.

England ist auch eine Atommacht in der EU, die bisher eine special relationship mit den USA hatte. Die auch sehr eigenartig war, weil die Atomraketen praktisch unter US-Gewalt standen. Die Engländer konnten also nur in Kooperation mit den USA über diese strategischen Raketen verfügen. Die special relationship ist aber momentan im Abnehmen begriffen. Seit Bush gibt es Angebote von den USA an die Deutschen.

Die Deutschen haben einen Flugzeugvertrag mit den USA abgeschlossen, ohne auf die anderen EU-Partner einzugehen. In „Foreign Affairs“ war in einem Artikel eines deutschen Professor nachzulesen, daß die USA und Deutschland teilweise gemeinsame Interessen hätten und daher eine neue special relationship eingehen sollten. Was halten Sie von diesen Tendenzen?

Ich weiß nicht ob das nicht überinterpretiert ist. Die Deutschen müssen halt dafür sorgen, daß sie sich — zumindest meiner Wahrnehmung nach — gerade im Prozeß einer massiv vorangetriebenen europäischer Formierung unter der Führung von Deutschland und Frankreich nicht völlig isolieren. Deshalb immer der Versuch, diese politische Balance zu den USA zu halten. Es ist nach wie vor die special relationship USA-England dominierend. Ökonomisch sowieso. Es gibt keine so enge internationale Verflechtung wie zwischen USA und England. England ist in vielen Bereichen sehr viel enger mit den USA direkt verflochten als mit dem kontinentalen Festland. Was meiner Regionalisierungsthese allerding ein wenig widerspricht — China ist auch eine Ausnahme. Auch eine kompetente imperialistische Politik wird natürlich den Teufel tun und sagen, alles andere interessiert mich nicht mehr und wir machen mit Frankreich einen imperialistischen Block. Sondern das geht sowohl mit Japan als auch den USA. Da werden Angebote, Kooperationen, Arbeitsteilungen gemacht. Die USA, die wollen sich natürlich auch ein zweites Standbein in Europa schaffen, und das ist natürlich eher die Bundesrepublik als Frankreich.

Der letzte Teil des Interviews mit Professor Jörg Huffschmid erscheint im nächsten Heft.

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