System error
Im Siegeszug der Systemtheorie verdeutlicht sich das Elend des Akademismus.
Dass Niklas Luhmanns Systemtheorie die übrigen Theorien aus dem geisteswissenschaftlichen Wettbewerb allmählich verdrängt, kommt nicht von ungefähr: Sie ist das kongeniale Gedankengebäude einer Welt, die jedes bessere Argument gelassen von sich weist und sich selbst durch ihr bloßes Funktionieren rechtfertigt. Eine unerläßliche Funktion in dieser Welt erfüllen demnach sogar die Leute, die solche Lehrmeinungen weiterkommunizieren.
Die „Bildungsmisere“, die allenthalben beklagt wird, ist ein Problem, mit dem Menschen ohne Berufsperspektive ganz gut leben können, da es ihnen nämlich schnuppe sein kann, ob die Funktionseliten dieser Welt noch richtig lesen und schreiben können, geschweige denn in ihrem vollbeschäftigten Leben jemals noch ein richtiges Buch zu Gesicht bekommen. Von den übrigen wird ohnehin bloß erwartet, dass sie ohne Verrenkungen ihre Unterschrift leisten und sich am Arbeitsplatz nicht gegenseitig abmurksen. Die Umstellung der Universitäten auf höhere Ausbildungsanstalten mit Stundenplänen, Klausurarbeiten und möglichst schnellen Abschlüssen zeigt unterdes an, dass auch von den Studierten demnächst nicht viel mehr erwartet wird. Die Zeiten, wo man an den Unis mit Theorien konfrontiert wurde, die wenn nicht die Welt, so doch das eigene Verhältnis zur Welt verändert haben, sind vorbei. Auch die sogenannten Geisteswissenschaften haben sich inzwischen weitgehend aufs Dichten verlegt. Gedacht werden muß in Philosophie, Philologien und Sozialwissenschaften nötigenfalls nur noch eine einzige Theorie, die man zum besseren Verständnis nicht einmal wirklich begreifen muß: die Systemtheorie von Niklas Luhmann. Diese Theorie erklärt nicht nur, warum in der scheinbar aus den Fugen geratenen Welt alles an seinem Platz ist; sie räumt sogar denjenigen, die solche Weisheit berufsmäßig weitertratschen, ein für das Funktionieren des Ganzen angeblich notwendiges Plätzchen im Wissenschaftssytem ein. Das macht auf jeden Fall glücklicher als eine kritische Theorie, die frühere Generationen in Selbstzweifel gestürzt und schließlich in den Suff getrieben hat.
Die Systemtheorie steht dem Wissenschaftsbetrieb gut zu Gesicht: Sie argumentiert „wertfrei“, will nur beobachten und zu nichts verpflichten, und sie gibt der Gesellschaft eine Daseinsberechtigung, wie sie vielleicht seit Hegel niemand mehr so unverfroren auf den Tisch gebracht hat. Die objektive Vernunft, die Hegel dazu herbemühen mußte, ist längst in die Funktionale gerutscht und das Bewußtsein der Freiheit auf dem Müllhaufen des alteuropäischen Denkens abgelegt. Der soziologische Bauplan, den Luhmann über rund 50.000 Seiten entrollt, um die moderne Gesellschaft als eine der funktionalen Differenzierung zu beschreiben, ist ernüchternd in jeder Hinsicht. Wer von utopischen Schwärmereien die Nase voll hat, betritt mit der Systemtheorie endlich ein Paradies der Sachlichkeit. Alles um einen herum kommuniziert und interpoliert und penetriert, und der Tigersprung unter freiem Himmel, als welchen Walter Benjamin einst die Revolution bezeichnet hat, findet an keine der Kommunikationen mehr Anschluss. Zumal für ehemalige Radikale, die ihre schlechte Behausung aufgeben und zum Beispiel auf einen Lehrstuhl umziehen wollen, hält Luhmann eine Art zweiten Bildungsweg bereit. Komplexe Theorien (Marx, Adorno usw.) haben sie schon früher nicht recht verstanden, und wenn sie Luhmann heute ebenso schlecht verstehen, verstehen sie ihn möglicherweise genau richtig. Das Zauberwort Komplexität allein reicht hin, um wenigstens das eigene Verhalten, das jetzt Funktionieren heißt, zu plausibilisieren.
Theoretischer Souverän
Luhmanns Theorie hat nichts mit Geschichte und im Grunde auch nichts mit Gesellschaft zu tun. Das macht ihren Reiz gegenüber herkömmlichen Soziologien gerade aus. Das Universum, das sie beschreibt, besteht aus abstrakten Kommunikationen und Koppelungsprozessen, aus Systemen, die sich wechselseitig als Umwelt in Anspruch nehmen. An keiner Stelle ist von handelnden Menschen, Klassen oder den gesellschaftlichen Formbestimmungen die Rede, die das menschliche Handeln genauer erklären könnten. Inmitten dieser gigantischen Relaiskonstruktion, die manche für eine unübertreffliche Beschreibung der modernen Gesellschaft halten, installiert sich die Theorie als Beobachter, der alles im Griff hat — oder jedenfalls alles in Begriffe fassen kann, die so weit hergeholt sind, dass ihnen platterdings niemand zu widersprechen wagt. Einwände können stets als „unterkomplex“ zurückgewiesen werden. Wer sich auf die Theorie erst einmal einläßt, wird auch vermutlich bald keinen Einwand mehr finden. Anders als postmoderne Instantphilosophien besticht Luhmanns Theorie durch strenge Systematik und eine Gelassenheit, die jeden Zweifel als Sentimentalität erscheinen läßt. Nie hat man den Eindruck, etwas besser zu wissen als der Autor, der auf seinem Terrain souverän mit allem fertig wird. Man kann ihm nur folgen (und vertrauen, wo man ihm nicht folgen kann) oder ein anderes Buch zur Hand nehmen.
Zum Beispiel eins von Marx: „Unbestreitbar eine geniale Konstruktion“, so hat Luhmann einmal die Marxsche Theorie kommentiert. Und wer könnte das besser beurteilen als einer, der zwar von kritischer Theorie nie etwas wissen wollte, es aber selbst beim Konstruieren von Gedankenwerk zu wahrer Ingeniosität gebracht hat? Im Unterschied zu den gern gesehenen Sykophanten der Wissenschaft, die wie Ulrich Beck lieber fürs Feuilleton schreiben, weil sie dort bereits für Denker gehalten werden, war Niklas Luhmann tatsächlich einer. Nur leider hat er sich zeitlebens Gedanken gemacht, deren Zweck allein darin besteht, das von ihm selbst so ausführlich beschriebene Wissenschaftssytem bei Laune zu halten. Alles andere ist der Einbildung der darin tätigen Bewußtseinssysteme zuzurechnen.
Leute, die fürchten müssen, dass, wenn sie wirklich etwas über Gesellschaft erfahren, sie es in dieser Gesellschaft zu nichts mehr bringen werden, können den Luhmann getrost lesen und trotzdem das gute Gefühl behalten, sich mit großer Theorie zu beschäftigen. Einfacher und billiger wäre allerdings eine Flasche Schnaps.
