MOZ, Nummer 52
Mai
1990
Leben in Moskau:

Tauschwirtschaft statt Perestroika

Die emotionalsten Debatten über das sogenannte „Defizit“, also den Mangel an täglichen Bedarfsgütern und insbesondere an Lebensmitteln, werden am voll gedeckten Tisch geführt. Je leerer die Geschäfte, desto gefinkelter werden die Methoden und Umwege, doch noch zu seiner Butter aufs Brot zu kommen.

Fern der Alternative Plan oder Markt kämpfen die sowjetischen Haushalte in einer Tausch- und Naturalwirtschaft, die schwerlich dynamisierbar scheint.

Freier Kunstmarkt in Moskau

Es gibt keine Samowars. Was nicht heißt, daß keiner dieser typisch russischen Teekessel zu bekommen ist.

Margarete, eine deutsche Studentin, wollte nach Abschluß ihres halbjährigen Studienaufenthaltes an der Moskauer MGU-Universität einen jener hübsch bemalten Samowars mit nach Hause nehmen, der das Teewasser stundenlang warm hält und als Zierde in jedes Wohnzimmereck paßt. In den Moskauer Geschäften war keiner zu sehen. Der private Kunstmarkt am Rande der Stadt ist zwar für Bilder, Madrioschkas und allerlei Krimskrams eine Fundgrube, wirkliche Gebrauchsgegenstände stehen indes dort nicht zum Verkauf.

Margarete entschloß sich, ihre beste russische Kollegin nach einem Samowar zu fragen. Schon nach einer Woche hatte diese den Bekannten eines Bekannten ausfindig gemacht, der in einer Samowarfabrik im Norden Moskaus arbeitet. Der könnte den gewünschten Artikel besorgen, als Gegengabe wünsche er sich ein Paar Adidas-Schuhe für sich oder seine Frau, Größe 43 oder 38.

Für Margarete war der Samowar nun schon in greifbare Nähe gerückt. Ihr neues Problem hieß: Sportschuhe. Das eigene Schuhwerk war zwar weder von der gewünschten, prestigeträchtigen Firma, noch paßte es mit der angegebenen Größe zusammen, aber sie würde sich umhören unter den zahlreichen ausländischen Kollegen und Kolleginnen. Bald war eine englische Studentin gefunden, die im benachbarten Heim wohnte. Wofür Margarete die 38er-Adidas brauche, wollte die junge Kollegin wissen. Im Tausch gegen einen Samowar? Das klang auch für die Engländerin verlockend. Wie, wenn sie ihre beiden Paar Sportschuhe abgäbe und dafür ebenfalls so einen Teekessel bekommen könnte? Die Rückfrage beim Bekannten des Bekannten der russischen Kollegin war positiv. Und drei Wochen nach der Aufnahme der Gespräche war das Geschäft perfekt. Der Samowar-Arbeiter bekam zwei Paar Adidas-Sportschuhe — Größe 38 — für seine Frau, die englische Studentin den einen und Margarete — als Vermittlungsprovision — den anderen Samowar. Jede/r in Moskau weiß es. Es gibt keine Samowars.

Es gibt nichts zu essen

Die Geschäfte sind leer. Der alte Moskauer Witz, in dem eine Hausfrau im Gemüseladen fragt, ob es denn hier kein Fleisch gäbe, und die Antwort bekommt: Bei uns gibt’s kein Gemüse, kein Fleisch gibt’s nebenan — dieser Witz war niemals in den letzten Jahrzehnten so wahr wie heute. Und dennoch: Die Moskauer Kühlschränke und Vorratskammern sind nicht leerer als die unsrigen.

Was der Unterschied sei zwischen Kapitalismus und Kommunismus, will mein Tischnachbar im Restaurant des Moskauer Clubs der Filmschaffenden von mir wissen. Nun? Im Kapitalismus sind die Geschäfte voll und die Eßtische leer, im Kommunismus ist das umgekehrt. Die sechsköpfige Runde lacht und greift zur Vorspeise: Fisch in Aspik, Räucherlachs und zarte Rindszunge mit Apfelkren.

„Im Normalfall ist es fast unmöglich, einen Tisch in diesem Club-Restaurant zu bekommen, aber mein Freund hat das arrangieren können.“ Es scheint, als ob niemand von den fast 100 Gästen auf den Normalfall zurückgreifen müßte. Freunde und Bekannte zu haben, ist in Moskau noch um vieles wichtiger als anderswo. Ohne Vitamin ‚B‘ — wie "Beziehungen — läuft hier gar nichts. Und mit Beziehungen kann man sich sogar noch ein Fläschchen vom trockenen grusinischen Weißwein um 2,50 Rubel aus dem Restaurant mit nach Hause nehmen.

Gorbi, Gorbi ... fast ohne Konkurrenz

80 Rubel im Monat

Auf 80 bis 120 Rubel pro Monat kommt ein/e Rentner/in in der Sowjetunion — ohne, meist illegale, Nebeneinkünfte. Schwarz getauscht macht das ca. 100 öS oder 15 DM, womit das wirtschaftliche und soziale Gefälle zwischen West und Ost mathematisch genau beschrieben wäre. „48 Millionen Sowjetbürger“, so der liberale Moskauer Reformökonom Iosif Lahmann, „leben zur Zeit mit weniger als 80 Rubel im Monat“; unter ihnen all diejenigen, die nicht die erforderliche 25jährige Arbeitszeit nachweisen können, die sie pensionsberechtigt macht.

Nichtpensionierte Proletarier/innen verdienen etwas mehr. Der Vizedirektor des Statistischen Zentralamtes Goskomstat, Illietsch Goriev, kramt in seinen Aufzeichnungen: „Drei Prozent der arbeitenden Bevölkerung erhalten weniger als 100 Rubel im Monat, das sind vor allem Leute im Gesundheitswesen, Teilschichtarbeiter und diverse Fabrikswächter, aber auch Sekretärinnen. Ein Drittel der Beschäftigten erhält zwischen 100 und 200 Rubel Lohn, ein weiteres Drittel bis zu 300; alles, was darüber liegt, ist bereits ein sehr guter Verdienst.“

Sibirische Erdölarbeiter z.B. können bis zu 900 Rubel pro Monat aus ihrer Lohntüte nehmen, ein Kolchosedirektor fürstliche 1.200. Der durchschnittliche Nettoverdienst liegt jedenfalls knapp über 200 Rubel.

Genauso wie die Löhne werden auch die Preise von zentralen Planungsstellen unionsweit festgelegt, außer im neu entstehenden privaten Sektor, der meist mit dem Kürzel „Genossenschaft“ beschrieben wird. Die täglich benötigten Lebensmittel wie Milch, Margarine bzw. Butter, Brot, Zucker, Mehl etc. sind für Kopekenbeträge in staatlichen Einzelhandelsgeschäften erhältlich, zumindest meistens. Das Moskauer Wirtschaftsforschungsinstitut hat festgestellt, daß 1989 von 1.200 erfaßten Warengruppen nur ca. 200 regelmäßig zu beziehen waren. Zur Mangelware gehören auch Obst und frisches Gemüse, Fleisch, Bier und Wein. Dafür müssen längere Einkaufsschlangen in Kauf genommen werden. Das Fleisch beispielsweise ist dann zwar relativ billig (2-3 Rubel pro Kilo), aber oft fett und qualitativ minderwertig. Will man gutes Fleisch kaufen, dann muß man sich schon in spezielle sogenannte Kooperativen-Geschäfte bequemen, wo für 5-8 Rubel pro Kilo Kotelett und Schweinsschulter zu haben sind. Wenn’s auch dort nichts mehr gibt und man die vegetarische, meist gemüsearme Kost schon satt hat, dann bleibt nur noch der sogenannte Kolchosmarkt, wo man bei „freien Preisen“ um bis zu 15 Rubel je Kilo jederzeit das beste Stück Fleisch kaufen kann.

„Die 120 Mrd. Rubel jährliche Subventionen“, so die radikal-liberale Ökonomin Larissa Pijaschewa, „werden hauptsächlich für Lebensmittel, Brennstoffe, Transport und Wohnungen ausgegeben. Möglich ist das nur wegen der Überbesteuerung der Preise für Kleidung, Haushaltsgeräte und Alkohol.“ Ein Anzug z.B. kostet mindestens einen durchschnittlichen Monatslohn, Schuhe sind entweder untragbar oder — bei besserer Qualität meist aus Jugoslawien oder der CSFR — horrend teuer.

„75% unserer Bürger leben in relativer Armut“, empört sich Professor Hasbulatow vom Institut für Nationalökonomie und seit den letzten Wahlen Delegierter zum Russischen Sowjet. „Der Staat gibt den Arbeitern nur 20% von dem, was sie erarbeitet haben. Wenn wir die Löhne künstlich so niedrig halten, ist es auch unzulässig, die Preise für Gebrauchsgüter zu erhöhen. Daher müssen wir langsam Preise und Löhne an das Weltmarktniveau heranführen.“ Hasbulatow wünscht sich die Einstellung des „absurden Subventionswesens“. „In Wahrheit sind die Lebensmittelpreise bei uns nicht billiger, sondern teurer als z.B. in London oder Wien. In der UdSSR geben die Leute 50-60% ihres Lohnes für Essen und Trinken aus. Das ist ein krasses Mißverhältnis.“

Die Wohnungen dagegen sind — von jedem Standpunkt aus betrachtet — billig. „Normal beträgt die Miete drei Prozent des Lohnes“, rechnet Natalja Afonikowa vom Moskauer Sozialamt aus. „Für eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit 30m2 zahlt eine Kleinfamilie 12 Rubel im Monat — inklusive Strom.“ Eine gleichzeitige Liberalisierung der subventionierten Lebensmittelpreise und der Mieten würde eine soziale Explosion bedeuten, ist sich auch Professor Hasbulatow sicher. Deswegen schlägt er eine „schrittweise, regulierte Liberalisierung der Preise“ vor. Die Rentner/innen jedenfalls haben Angst vor der Marktwirtschaft.

Deformierte Planwirtschaft

„Im Westen heißt es, daß wir eine Planwirtschaft haben. Das stimmt ganz sicher nicht. Wir kennen nur Befehle aus Moskau“, äußert sich Valentina Janischewskaja vom Institut für Finanzwesen abschätzig über das wirtschaftliche System, das als „Kommandowirtschaft“ in westliche wie östliche Analysen eingegangen ist. Der Funktionsmechanismus war (und ist) tatsächlich ein völlig deformierter.

Berühmt ist das Beispiel der Seife geworden, das im vorigen Jahr zum großen Bergarbeiterstreik geführt hat. Bereits Ende der 70er Jahre kam es zu Waschmittel-„Defiziten“ — wie es im russischen Jargon heißt —, weil das sowjetunion-weit einzige Werk, welches einen bestimmten notwendigen Verdicker für Seifen produzierte, mittelfristig ausgefallen war. Damals hamsterten Hausfrauen so lange Seife, bis sich das Defizitgerücht als Wirklichkeit entpuppte. Als dann ein Jahr später die entsprechende Fabrik ihre Produktion wieder aufnahm und tonnenweise Seife in die Läden kam, füllten sich die Lagerhallen, ohne daß eine Nachfrage entstand — man hatte ja genug Seife in der Vorratskammer. So drosselte nach einigen Jahren die amtlich zuständige Stelle die Seifenproduktion nur scheinbar folgerichtig. Denn inzwischen waren die hauseigenen Seifenvorräte aufgebraucht und die Hausfrauen leerten im Nu die Ladenregale. Bis dann im Herbst 1989 selbst für die Bergarbeiter kein Stück Seife mehr zu haben war.

Die perestroikawilligen Fachleute stehen heute einer sowjetischen Bevölkerung gegenüber, die Wirtschaft großteils als Natural- und Tauschwirtschaft kennt. „75% aller Moskauer/innen“, so Nationalökonom Hasbulatow, „kaufen Waren, auch wenn sie sie nicht brauchen, zum Tausch und für den Vorrat.“ Tauchen also beispielsweise spezielle Werkzeuge in den Geschäften auf, so sind sie sofort vergriffen. Jeder kennt einen Bekannten, der wieder einen Bekannten kennt, der einen Freund hat, der ... vielleicht am anderen Ende der Stadt zufällig ein Produkt ergattert hat, das man selbst brauchen kann. Das Tausch- und Naturalsystem, das von der Verwaltung des Defizits lebt, entwickelt im Konsumenten ganz andere Fähigkeiten, als wir sie aus der Überflußgesellschaft gewohnt sind. Die Einführung marktwirtschaftlicher Kriterien greift da — vorerst — zu kurz.

Kolchosmarkt Rischki Rynok

Drei verschiedene Arten von Markt

Mangelwirtschaft plus Perestroika führt zwangsläufig zu einer fortgesetzten Teilung des Marktes. Für Lebensmittel z.B. kennt die geübte Moskauer Hausfrau drei grundsätzlich verschiedene Einkaufsmöglichkeiten, auch wenn sie davon nur eine als „Markt“ bezeichnet.

Die staatlichen Läden, meist kleine Supermärkte, haben feste Einzelhandelspreise. Länger haltbare Waren wie Zucker, Mehl und Reis sind in unscheinbare braune Papiersäcke verpackt und, wie alle übrigen Produkte in diesen Geschäften, aus der Kolchoswirtschaft. Butter, Margarine, Fett, Essig, manchmal Öl, bulgarische Fruchtsäfte, Fisch- und Gemüsekonserven — soweit das Repertoire eines Staatsladens am späten Nachmittag.

Ein zweiter Vertriebsweg von Lebensmitteln geht durch den sogenannten kooperativen Handel, der nichts mit den neugegründeten Genossenschaften zu tun hat. In eigenen Geschäften werden meist diejenigen Produkte aus den Kolchosen abgesetzt, die nach der Abgabe der Planmenge an die Staatsläden übrigbleiben.
Auch hier sind die Preise stabil, aber ca. doppelt so hoch wie im ‚normalen‘ Geschäft. Eine Besonderheit stellen dann noch diverse, kürzlich eröffnete Sozialläden dar, die für Bedürftige auf Empfehlung des Sozialamtes gewisse Konsumgüter um die Hälfte des üblichen Preises abgeben. In manchen Großbetrieben wiederum gibt es eigene Lebensmittelverteilstellen, die für Betriebsangehörige billig und ohne Schlange zu stehen Waren bereithalten.

Die dritte und expandierende Möglichkeit, zu seiner Butter aufs Brot zu kommen, ist der sogenannte „Kolchosmarkt“. 60 solcher Märkte existieren zur Zeit in Moskau und machen einen Umsatz von ca. drei Prozent aller verkauften Nahrungsmittel aus. Auf diesen Kolchosmärkten — sie heißen so, weil dort der Kolchosbauer seine privat produzierten Lebensmittel absetzt — verkaufen die Produzenten ihre Waren selbst — nach freier Preisvereinbarung. „Die Qualität ist dort besser, aber die Preise drei- bis fünfmal so hoch wie im Staatsgeschäft“, weiß Tamara Strogowa vom Statistischen Zentralamt zu berichten. Und: „Die Kolchosmärkte öffnen dem Spekulantentum Tür und Tor.“

Tatsächlich ist es längst nicht mehr so, daß der kleine Bauer am Rischki Rynok, dem größten und bekanntesten dieser freien Märkte, unbehelligt sein Gemüse oder sein Fleisch feilbieten kann. In der Regel wird er von einer ortsansäßigen Mafia dazu gezwungen, ‚Standgebühr‘ zu bezahlen, oder er erhält das ‚Angebot‘, seine Waren en gros einem Zwischenhändler zu vermachen, was zwar verboten, seinen Nerven und seiner Gesundheit aber weitaus zuträglicher ist. „Am Kolchosmarkt beginnt die Schattenwirtschaft“, meint ein Blumenzüchter, der noch seine eigenen Blumen verkauft.

Äpfel aus China

Schattenwirtschaft

Die Kellnerin des Restaurants in der Moskauer Innenstadt verdient 150 Rubel im Monat. Der Koch nicht viel mehr. Ob zehn oder fünfzehn Stangen Wurst aufgeschnitten und serviert werden, interessiert eigentlich niemanden. Fleisch, Käse, Wein, Mineralwasser ... die Restaurantzuteilung funktioniert. Und das Personal stockt seinen kargen Monatslohn mit eßbaren Naturalien auf. „Bis zu 300 Anverwandte und Freunde des Personals partizipieren von einem mittelgroßen Restaurantbetrieb“, vermutet ein Journalistenkollege. „Das Abzweigen von staatlichem Eigentum gehört zur Schattenwirtschaft. Diese Art von Umverteilung hat es immer schon gegeben“, meint die Ökonomin Larissa Pijaschewa.

Kellner und Köche versorgen sich und die Ihren mit Eßbarem, Tankwarte haben Zugriff auf Benzin, Sekretärinnen auf Büromaterial, Bibliothekare auf Bücher. „Nur diejenigen, die nichts zu stehlen haben, stehlen nichts“, beantwortet Pijaschewa meine zweifelnden Blicke. Illietsch Goriev vom Statistischen Zentralamt schätzt, daß etwas mehr als 10% des Bruttonationalproduktes in der Schattenwirtschaft ‚erarbeitet‘ wird. Andere, inoffizielle Schätzungen liegen weit höher: bei 25-30%.

In einer Ökonomie, die fast ausschließlich verstaatlicht funktioniert, ist die Trennlinie zwischen Privatwirtschaft und Diebstahl kaum zu ziehen. Zwar produzieren seit 1988 Genossenschaften legal Waren in freier Preisbildung, die Zuteilung der Rohstoffe indes läuft über staatliche Kanäle. Und wer diese kennt, weiß, daß darauf kein Privatbetrieb gegründet werden kann. Also besorgen sich die sogenannten Genossenschaften, über die meist ein größerer staatlicher Betrieb schützend die bürgende Hand hält, ihre Vorprodukte über andere Kanäle. Plantechnisch nicht-existente Rohstoffe werden so zum Ausgangspunkt privater Erzeugung. Das Wort Diebstahl ist schon deswegen verpönt, weil alle Reformökonomen davon ausgehen, daß, was dem Staat gehört, niemandem gehört, und was niemandem gehört, kann man, auch nicht stehlen.

Die beteiligten Personen an so gestalteter Schattenwirtschaft sind — idealtypisch: Der Parteifunktionär aus dem zuständigen Ministerium, der den Transfer der Waren aus staatlicher in private, sprich genossenschaftliche, Obhut übersieht und dafür Entschädigung erhält; die zwei, drei Chefs der Genossenschaft, die im Westen Kapitalisten genannt werden; die gut entlohnten, nur mit ihrer Arbeitskraft an der Genossenschaft beteiligten Stammarbeiter und die schlecht bezahlten, jederzeit kündbaren Hilfsarbeiter.

Die Verzahnung von korrupter Bürokratie und privatwirtschaftlichem Genossenschaftswesen gebiert republikenweit eine Wirtschaftsmafia, die gleichzeitig von den Möglichkeiten der wirtschaftlichen Umgestaltung profitiert und den alten Bürokratenapparat zur Absicherung ihrer Geschäfte braucht. Eine ausweglose Situation.

Die Krise überwinden, aber wie?

„Das wahre Reformmodell ist das deutsche ökonomische Nachkriegswunder oder das Prinzip von Margaret Thatcher“, meint Larissa Pijaschewa und reiht sich damit in jene Reformfront ein, die im Westen — nicht zu Unrecht — radikal genannt wird. „Wir brauchen keine Plan-, Preis- und Lohnkomitees mehr, alle Branchenministerien müssen weg. Die Privatisierung muß plötzlich passieren. Jeder Sowjetbürger bekommt einen gleich hohen Scheck als Äquivalent des Staatseigentums, um damit Teile der Volkswirtschaft kaufen zu können.“ Bei einer solchen Privatisierung — so ist zu befürchten — bleiben alle diejenigen übrig, die nicht mehr als so einen Scheck bekommen, der de facto ein Schuldtitel ist. Diejenigen aber, die beizeiten Devisen, Gold und Juwelen — illegal, versteht sich — auf die Seite geschafft haben, werden sich die Rosinen aus dem Volkswirtschaftskuchen herauspicken können.

Igor Saslawski, ebenfalls radikaler Ökonom vom Forschungsinstitut für Arbeit, beklagt sich über die Hemmnisse, die seiner Meinung nach einer raschen Privatisierung im Wege stehen. „Wir bauen zwar zur Zeit an einem Marktmodell, aber ohne Arbeitsmarkt ist das lächerlich. Jeder Mensch muß das Recht haben, selbst über seine Arbeitskraft zu verfügen“, umschreibt er mit anderen Worten den herbeigesehnten Tatbestand, daß jeder Mensch das Recht haben sollte, über anderer Leute Arbeit zu verfügen.

Der Verwirrnisse gibt es viele. Und die ökonomischen Probleme sind wahrhaftig so überbordend, daß Lösungen, die eine halbwegs gesicherte Lebensgrundlage für die Bürger/innen der Sowjetunion garantieren würden, einfach nicht anzubieten sind.

Auch das wirtschaftlich-restriktive, deflationistische Modell von Juri Sawinski, Dozent an der Moskauer Finanzhochschule, scheint wenig realistisch. Im Gegensatz zur populären radikalliberalen Wirtschaftsdoktrin fordert Sawinski die Beseitigung von Spekulationseinkünften aus der Schattenwirtschaft mittels einer restriktiven Währungsreform. „Wir brauchen einen neuen Rubel mit dem Ziel, das illegal erwirtschaftete Geld zu konfiszieren. Nur wer offiziell erarbeitete Einkünfte nachweisen kann, dem wird sein alter Rubel in den neuen im Verhältnis 1:1 umgetauscht. Nach meinen Berechnungen wird dieses inflationshemmende Modell 30 Mrd. der ca. 100 Mrd. im Umlauf befindlichen Rubel konfiszieren. Außer den 8% der Bevölkerung, die nichterarbeitete Einkünfte aus Spekulationsgeschäften haben“, so hofft Sawinski, „müßten alle dieses System zur drastischen Reduzierung der Geldmenge begrüßen.“

Was er dabei vergißt, ist die Tatsache, daß die illegal erwirtschafteten Milliarden schon längst — auch — in Devisen, Gold und Juwelen umgetauscht sind und somit seine Geldverknappungspolitik vermutlich die Falschen treffen würde.

Liberal oder restriktiv, die Exponenten der verschiedenen ökonomischen Schulen in der Sowjetunion haben eines gemeinsam: Sie wollen den wirtschaftlichen Umbau per Gesetz beschließen, sie glauben seit Generationen an den Primat des Politischen über die Wirtschaft. Diese jedoch folgt einer eigenen und — das steht zu befürchten — für die Sowjetunion mit ihrer sich zunehmend peripherisierenden Ökonomie, einer grausamen und brutalen Gesetzmäßigkeit.

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