FORVM, No. 237/238
September
1973
Richard Vahrenkamp (Hrsg.):

Technologie und Kapital

Richard Vahrenkamp (Hrsg.): Technologie und Kapital, edition suhrkamp, Frankfurt 1973, 234 Seiten, DM 7, öS 57,30.

Kritik der Wissenschaft ist historisch eine Sache der Konservativen. Nietzsche beklagt, daß „die Ausbeutung eines Menschen zugunsten der Wissenschaften“ zur Selbstverständlichkeit geworden sei, und er bezweifelt, „was eine Wissenschaft wert sein mag, die so vampyrartig ihre Geschöpfe verbraucht.“ Die Marxisten haben derartige Zweifel lange generell ignoriert. Erst Sohn-Rethel — ein Aufsatz von ihm leitet den vorliegenden Reader „Technologie und Kapital“ ein — hat darauf aufmerksam gemacht, daß auch nach der Beseitigung des Privatkapitals ein sozialistisches Management an der Macht bleibt, falls die Arbeiter nicht die Kontrolle über ihren Arbeitsprozeß zurückgewinnen. Zwischen: dem Arbeiter und der industriellen Produktion stehen aber die abstrakten, scheinbar übergeschichtlichen und jedenfalls esoterischen Denkformen der exakten Wissenschaft.

Sohn-Rethel verwickelt sich allerdings in Widersprüche, wenn er die Selbstbestimmung der Produzenten im verwissenschaftlichten Arbeitsprozeß des Sozialismus (wie er sich schon im Taylorismus anbahnt) plausibel machen will. Die verdinglichten Abstraktionen der wissenschaftlichen Theorie sperren sich doch gegen eine Kontrolle der Arbeiter über ihre produktive Praxis. Läßt sich der Taylorismus demokratisieren?

Sohn-Rethel drückt sich vor einer Antwort, indem er in utopistische Spekulationen über Kybernetik ausweicht (p. 36) und lediglich im privaten Hobby „die Möglichkeit einer persönlichen Produktionstätigkeit“ sieht, weil ja unter Umständen „die Massenartikel, die der automatisierte Prozeß liefert, inakzeptabel sind“ (p. 38). Schöne Aussichten für die klassenlose Zukunft!

Sohn-Rethel erspart der kapitalistischen Technologie die fällige Kritik. Ganz anders André Gorz, dessen Beitrag von der These ausgeht, „daß die Produktivkräfte von den kapitalistischen Produktionsverhältnissen geformt“ werden (p. 95). Gorz beschreibt, wie die Monopole ihre Technologie, anstatt zur Steigerung der Produktivität, primär für die Aufstachelung der Konsumwünsche einsetzen. Eine falsche, eine irrationale Entwicklung der Technik, die damit außerhalb des Monopolkapitalismus und seiner diversen Subsysteme unbrauchbar wird.

Auf einer philosophischen Ebene und mit den verzwickten Begriffen der Hegelschen Logik verfolgt der Aufsatz Hans-Dieter Bahrs „Die Klassenstruktur der Maschinerie“ das gleiche Argument. Die industrielle Technologie begründet die bürgerliche Herrschaft über das Proletariat ebenso wie — nach der konventionellen Auffassung — die menschliche Herrschaft über die Natur. „Als Mittel steht das Werkzeug also nicht nur zwischen Natur, Geschichte und Gesellschaft, sondern auch zwischen verschiedenen Klassen der Gesellschaft.“ (p. 39)

Die industrielle Technik dient anscheinend jedem Zweck. Darin erkennt Bahr jedoch ihren kapitalistischen Charakter, denn die vorkapitalistische Technik (und heute wohl noch die außerindustrielle, die nicht für den Markt produziert) lebt von genau bestimmten sozialen Zwecken. Die kapitalistische Technologie trennt dagegen den Arbeiter vom Zweck seiner Arbeit: als Individuum produziert der Arbeiter Mehrwert, aber keinesfalls konkrete Gebrauchswerte. „Produkt ist das Ding nicht mehr in unmittelbarem bezug auf das einzelne Subjekt der Arbeit, sondern nur noch in bezug aufs Einzelkapital.“ (p. 43)

Die Zweckfreiheit der industriellen Technik offenbart ihre gesellschaftliche Plan- und Subjektlosigkeit. Deshalb muß das Proletariat seine Existenz als Klasse — als „Subjekt“ — außerhalb der Fabrik auf dem politischen Niveau organisieren. Aus diesem Nebeneinander (und potentiellen Gegeneinander) der industriellen mit der politischen Existenz des Proletariats entsteht die permanente Drohung des Revisionismus (p. 46).

Bahr erforscht die Klassenherrschaft „auch in den technisch verschleierten Formen der Arbeit und den entsprechenden Einübungen in ein abstraktes, subjektloses Produktionsdenken“ (p. 55); er gibt eine scharfsinnige „Archäologie bürgerlicher Produktionsmittelsysteme“. Was er nicht gibt, ist eine Perspektive auf den Übergang zur sozialisierten Produktion.

Hier hat der Aufsatz Richard Vahrenkamps seine Bedeutung. Vahrenkamp zeichnet ein realistischeres Bild vom Verhältnis zwischen Kopf- und Handarbeit als Sohn-Rethel. An Newton weist Vahrenkamp nach, daß die neuzeitliche Naturwissenschaft zunächst eine rein ideologische und keine industrielle Funktion besitzt; ihr geheimer theologischer Charakter bestätigt sich in der Fixierung am Vorbild der Astronomie. Analog dazu entstehen die mathematischen Probleme, die um den Begriff des Unendlichen kreisen, aus der platonistischen Trennung von der sinnlichen Handarbeit.

Das wichtigste Resultat Vahrenkamps ist, daß die industrielle Produktion heute noch auf die „Intuition“ der Arbeiter angewiesen bleibt: da liegen die Grenzen der Wissenschaft. Die totale Automatisierung — ein Traum marxistischer Kybernetiker — ist deshalb prinzipiell undurchführbar! Sie ist übrigens auch politisch fragwürdig, weil sie die Arbeiter im Namen der Wissenschaft unter das Joch der technischen Intelligenz zwingt. Wo steht die technische Intelligenz? Die Beiträge von Manuel Bridier und Frank Deppe bestreiten der technischen Intelligenz die Qualität einer „neuen Arbeiterklasse‘‘. Hellmuth Lange belegt ihre zweideutige politische Haltung im französischen Generalstreik 1968. Wolfgang Neef und Rainer Morsch beschreiben detailliert die prekäre Position der technischen Intelligenz zwischen Kapital und Proletariat.

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