Streifzüge, Heft 3/2001
Oktober
2001

Terror und Vergeltung: Paranoia gegen Paranoia

Frieden gibt es nur jenseits von Markt und Staat

Gleichheit

Die über 6.000 Opfer der mörderischen Anschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington haben in der westlichen Welt eine riesige Welle von Entsetzen und Bestürzung ausgelöst. War es aber wirklich nur die Abscheu vor der Tat und das Mitleid mit den Ermordeten und den Hinterbliebenen? Warum gab es dann z. B. im letzten Dutzend Jahre keine auch nur im Entferntesten vergleichbare Reaktion auf die 7.000 toten Zivilisten beim US-Flächenbombardement auf Panama City’s Armenviertel, auf die hunderttausenden Toten des Irak-Kriegs und des dann folgenden Embargos oder auf die von der US-Airforce zerfetzten und verstrahlten Menschen in Jugoslawien? Ja selbst die 800.000 massakrierten Menschen in Ruanda waren kaum einmal Tagesgespräch.

Was die veröffentlichte Meinung an den Toten in New York und Washington so tief entsetzt, ist doch wohl in erster Linie die traumatische Erfahrung, dass auch die stärkste Macht der Welt so unverwundbar ist wie weiland Siegfried und Achill.

Der frühbürgerliche Philosoph Thomas Hobbes hat als erster den Menschen der Neuzeit auf dem Markt und im Staat nicht mehr als „Gemeinschaftswesen“, sondern als Konkurrenzwesen definiert. Dass in dieser Konkurrenz die einander belauernden Menschen letztlich doch auch gleich sind, erkennt er darin, dass auch der Schwache den Starken töten kann. Dass Konkurrenz auf allseitigen Mord und Totschlag nicht nur zwischen Staaten, sondern auch im Inneren der Gesellschaft hinausläuft und dabei auch der Bestgerüstete nicht sicher ist – der Schock dieser Ahnung dringt wirklich tief.

Gewalt

Gewalt, einschließlich Krieg und Massenmord, gehört seit Anbeginn zur Geschichte des Staats der Neuzeit und seiner Wirtschaft. Zwar ist ein Wirtschaftssystem, das statt der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse die Geldvermehrung als Ziel hat, vom menschlichen Standpunkt aus völlig irrational, in der Binnenlogik des Systems aber blieb Gewalt doch ein begrenztes Mittel zum Zweck des Raubs, der Ausbeutung und Unterdrückung. Wenn es auch Blutrausch, Terror und wildeste Exzesse gab, – im Allgemeinen fanden Krieg und Gewalt ein Maß in ihrem Zweck. Das galt auch und gerade für die Gewalt des Kolonialismus und des Imperialismus. Es galt aber auch für die Gewalt der „nationalen Befreiung“ und des „sozialistischen Aufbaus“. Ihr Ziel war das „Einholen und Überholen“ der Industrieländer. Auch sie praktizierten – bei allen Unterschieden im Detail – Waren- und Geldwirtschaft samt Lohnarbeit und Konkurrenz, Wachstumszwang und Einbindung in den Weltmarkt.

Was aber geschieht, wenn der Zweck der Gewalt nicht mehr erreichbar ist? Wenn Krieg und Terror den Tätern nur mehr Kosten machen und selbst der Sieg sich nicht mehr lohnt?

Das Schlachten hört nicht auf, wenn es zwecklos wird – es verliert mit dem Zweck nur sein Maß und wird wortwörtlich maßlos. Die „Moral“ war immer schon der Mantel für den Zweck, wenn dieser wegfällt, tritt sie an seine Stelle. Bestrafung und Vergeltung werden paranoider Selbstzweck.

Terror

Es ist kein Wunder, dass die Paranoia dort am reinsten hervortritt, wo die Zustände am tristesten und aussichtslosesten sind. Von „Einholen und Überholen“ ist bei den zu spät Gekommenen des Ostens und des Südens nichts mehr geblieben. Zu dieser „Peripherie“ des Verfalls und des Elends gehört inzwischen aber auch der wachsende „soziale Rand“ der Metropolen.

Wenn USA und Kompanie einen „Schurkenstaat“ niederbombardieren, ist der Verfall meist schon lang in Gang. Massenhaft und oft ganz unauffällig deklassiert und ruiniert der (Welt)Markt Abermillionen Menschen. Keine persönliche menschliche Bosheit hat sich da ausgetobt. Vielmehr wirkt hier ein sachliches Verhältnis von Waren: hie die Arbeitskraft, dort die technische Apparatur – zwei Seiten desselben Kapitals. Ein Verhältnis, das eingegangen wird zum alleinigen Zweck von Geldvermehrung. Wenn dieser Zweck verfehlt wird, ist das Kapital verloren. Wo der Zweck nicht mehr zu erreichen ist, dort verschwindet auch das Kapital, die Menschen bleiben auf der Strecke der Profitjagd.

Die menschlichen Funktionäre und Vollstrecker dieses nunmehr globalisierten Gesetzes haben Zigmillionen Menschen samt ihren Staaten und Nationen leidenschaftslos „gewogen und für zu leicht befunden“, haben sie als zu wenig produktiv, zahlungsunfähig, nicht verwertbar ausgemustert.

Es geht dabei, wohl gemerkt, nicht um die Fähigkeit, die Dinge, die man zu einem guten Leben braucht, auch selber herzustellen. Es geht um Kauf und Geld, um Kredit und Zahlung: Wer der Konkurrenz auf dem Markt unterliegt, (sich) nicht mehr verkaufen kann, der kann nicht kaufen und wird arm: Ausgeschieden im „freien Wettberwerb“ – menschlich bedauerlich natürlich, man soll auch für sie spenden, doch so sind sie nun einmal, die Gesetze dieser Marktwirtschaft, die heute über den Staaten steht und „keine Konkurrenz mehr hat“, wie der Chef der Wallstreet-Börse bei ihrer Wiederöffnung so richtig sagte.

Die Ausgeschiedenen zählen nicht mehr, sie werden in ihrem Elend ökonomisch unsichtbar – ein Mensch nach dem anderen, ja ganze Regionen und (zerfallende) Staaten.

Der politische und militärische Kampf um nationale Souveränität von Staaten, die Hoffnungen von vielen Millionen Ausgestoßenen auf eine Rückkehr auf die Arbeits- und sonstigen Märkte sind weithin aussichtslos geworden. Die Kämpfe um „Befreiung“, um „gerechten Handel“, „Arbeit für alle“ und so weiter erlahmen oder arten aus in Bandenkriege um die Plünderung der Ruinen des gestoppten Aufbaus, um den Zugang und die Kontrolle der letzten marktfähigen Oasen in einer Wirtschaftswüste.

Am Ende der Entwicklung schlagen Kämpfe auch um: in „moralisch“ motivierten Terror ohne staatliche Grundlage, ohne konkreten Zweck. Die Anschläge in Washington und New York bringen diesen Terror auf den Punkt: Kein Staat, keine Organisation bekennt sich mehr als Täter, keine Forderung, kein Ziel mehr wird transportiert als die Vernichtung des ungreifba- ren „bösen Feinds“ dort, wo er sich zu materialisieren, zu personalisieren scheint wie in den USA, in World Trade Center, Pentagon und Weißem Haus. Menschenleben zählen nicht, auch das eigene nicht. Selbstmord ist für die Kämpfer die letzte, ihnen angemessene Methode.

Ein „Kampf“, der bei allem Nihilismus auf die Sympathie all jener Zuschauer zählt, die vielleicht zwar den Extremismus der Methode ablehnen, doch in verschiedenem Maß die Ansicht teilen, dass das Elend dieser Welt nicht aus der Logik einer verfehlten totalitären Ordnung, sondern von „bösen“ Menschen kommt, von der „Amerikanisierung der Welt“, von der gierigen „Herrschaft der Finanzkapitalisten“ oder gleich wieder vom „Weltjudentum“.

Vergeltung

Was die „zivilisierte Welt“ jetzt als Vergeltung vorbereitet, liegt auf derselben Ebene wie der Terror, nur sind ihre Mittel um Potenzen destruktiver. „Unsagbar böse“ war der Angriff (Ex-Vizepräsident Al Gore), ein „monumentaler Kampf gegen das Böse“, „ein Kreuzzug gegen den Terrorismus“ (US-Präsident G. W. Bush) steht bevor, um ihn „mit Stumpf und Stiel auszurotten“ (sein Außenminister Powell). „Armagedon“, die Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse, geistert durch die Medien – „Wir müssen killen“, fasst W. Benett, Reagans Secretary of Education, präzis zusammen. Das Klima in den USA gleicht dem in Österreich nach dem Attentat von Sarajewo im Juni 1914.

Kein „zivilisierter Staat“ darf da abseits stehen. Die weltweite „Normalität“, der desperate Status quo muss verteidigt werden. – Die NATO konstatiert daher – erstmals seit Bestehen – den „kollektiven Verteidigungsfall“ und bis hinunter zum „neutralen“ Österreich erkennt man: „Es gibt das Böse in der Welt“ (Bundeskanzler Schüssel) und übt man sich in Solidarität im „globalen Kampf gegen Feinde der gesamten Zivilisation“ (Verteidigungsminister Scheibner).

Doch wen und was auch immer die USgeführte weltweite „Allianz gegen den Terror“ nun bombardieren, besetzen und „killen“ wird – es wird den Terror so wenig vernichten wie die Bombardierung von Coca-Bauern in Bolivien und die Festnahme des panamesischen Drogen-Generals Noriega den Suchtgifthandel unterbunden hat.

Die staatlichen Gewaltmaschinen planen Krieg, stellen die eigene Bevölkerung unter Polizeiaufsicht und bereiten militärische und polizeiliche Operationen vor gegen einen Feind, den sie in Staaten und in Camps, in Häusern und Vereinen verschanzt sehen wollen, der mit Gefängnis und Exekution auszurotten, mit militärischer Gewalt zu vernichten ist.

Sie begreifen nicht, dass der Terror aus der Verwesung genau der Welt-Gesellschaftsordnung wächst, auf der auch ihr „Kreuzzug“ und seine „Killer“ wuchern. Solange die Leiche nicht bestattet ist, bleibt der Terror unbesiegbar und die Vergeltung bleibt oberstes Gesetz.

Die verteidigte „Normalität“ ist nämlich auch für ihre Verteidiger keine mehr. Die Prognosen sind trist bis rabenschwarz. Auch ganz ohne Attentat sind die Türme der Profitwirtschaft, die Börsen, schon eingebrochen, . Was dort seit Jahren als Wert spekuliert und simuliert wurde, ist dabei, auf dem Boden der Realität unsanft aufzuschlagen. Von der Fed und Weltbank abwärts beteuern Experten und Politiker, dass die kommende Rezession nicht kommt. Und doch hat keiner von ihnen eine Ahnung oder einen Vorschlag, wie man sie verhindern könnte.

Keine Eroberung und Besetzung ist mehr ein Beutezug, sie rechnen sich nicht mehr, selbst die Zerstörung eines ganzen Lands reicht nur mehr für ein schwaches Zwischenhoch von Rüstungsaktien, für ein paar Aufträge, bezahlt aus Steuermitteln. Wo gerade die Industriealisierung auf dem Altar des Weltmarkts verbrannt ist, wächst keine Industrie mehr nach.

Kein Markt, keine Rohstoffquelle muss für „Anleger“ mit Gewalt geöffnet werden wie vor 150 Jahren China, Indien und Afrika. Im Gegenteil: die Welt steht offen, doch sie ist wie eine Auster ohne Perle – das Kapital befindet ein Land nach dem anderen für ungeeignet, sich dort noch zu vermehren.

Die Gesetze der Geldvermehrung und des unendlichen Wachstums kennen nicht nur keine Rücksicht auf die Menschen, sie sind auch blind für die Natur. „Klimaschutz schadet der Wirtschaft“ ist z. B. ein Grundprinzip, nach dem vom Konzernchef bis zum „nationalen Befreier“ („das Erdöl den Arabern! „) jeder handelt, auch wenn es einem Geistesriesen wie Präsident Bush vorbehalten blieb, das offen auszusprechen. Alle tun mit, auch wenn man schon sehen, hören, riechen, tasten und schmecken kann, dass damit nicht nur das Überleben der Marktwirtschaft, sondern das der Menschheit aufs Spiel gesetzt wird.

Wenn kein Ausweg mehr gangbar scheint, holt hüben und drüben die „Moral“ zum Befreiungsschlag aus, und sie „werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt“ und würden vermutlich bis zum bitteren Ende Welteroberung und Endsieg halluzinieren.

Runter vom sinkenden Schiff!

Diese Zuspitzung der Entwicklung macht zugleich deutlicher als bisher, worauf es heute ankommt:

Runter vom sinkenden Schiff! , Bruch mit der nunmehr historisch bis ins Letzte ausentwickelten menschenfeindlichen Logik der Ware und des Kapitals: Das Wachstum stößt an seine Grenzen, die Krise von Profit und Geldvermehrung führen in Verarmung und Hoffnungslosigkeit, die Konkurrenz schnappt über in eine Spirale von Terror und Kreuzzug.

Die Kräfte für die Verteidigung der schwindenden „Errungenschaften“ schwinden mit diesen. Wann, wenn nicht jetzt sollen wir am Ausweg bauen, der sich aus der Krise selbst ergibt: (je)der Mensch statt dem Profit als Zweck, freie Kooperation statt zwanghafte Konkurrenz als Methode für die Gestaltung unseres (Zusammen)Lebens.

  • Verweigerung des Schulterschlusses mit der „Vergeltung“ (in Österreich – wie üblich – an der Neutralität vorbei mit NATO und EU und – wie überall – in der brutalen Illusion, man könnte doch noch über genügend Leichen und Ruinen unverwundbar werden),
  • Verweigerung der Parteinahme im „nationalen Befreiungskampf“ (der Nationalstaat ist nur mehr die Fata Morgana eines Auswegs, der Kampf gegen den Imperialismus wird zur scheiternden Symptomkur mittels Terror, wenn nicht zu verstecktem Antisemitismus),
  • Parteinahme für die Opfer der doppelten Paranoia,
  • flexible und elastische Kooperation aller „Ausstiegswilligen“ gegen den Zugriff von „law and order“,

— das alles sind Hilfsmaßnahmen, die es zu entwickeln gilt für ein Weiterleben in der Krise jeder bisherigen „Normalität“.

Eine „bessere Politik“ in der alten Ordnung findet mit deren Verfall kaum noch Träger. Der „Kampf gegen den Terror“ ebnet die Unterschiede der Parteien weiter ein. Er wird auch teuer, „wir alle müssen Opfer bringen“: in Deutschland zahlen sie für den Anfang schon mehr Steuern, in Österreich neue Abfangjäger.

Kollektiver Ausstieg und Kampf um Ressourcen statt individuellem Abstieg in einsame Armut kann heißen: ganz alltägliche, praktische Kritik am Arbeits- und Profitsystem durch Entfaltung der Kooperation gegen die Konkurrenz auf allen Gebieten des alltäglichen Lebens: Von der Kultur über die (Anti)Politik bis zum Essen und Wohnen, von kleinsten Teillösungen bis zu umfassenden Projekten, von lokaler gegenseitiger Hilfe bis zu internationalen Verbindungen ist nichts „unwichtig“. Alle Sekten sind gründlich blamiert, jeder Vorschlag ist zu prüfen, jeder Versuch, den Griff von Markt und Staat durch Kooperation zu lockern, kann uns weiterführen.

Wir sollten die Erfahrungen von Projekten mit unseren Mitteln publizieren, studieren, diskutieren, Vorschläge und Kritik ermutigen, was immer sinnvoll scheint, umsetzen und unterstützen. Wir wissen nicht, wie weit wir damit kommen – aber es ist wohl das, was wir tun könne was wir tun können – für uns, für Menschen statt für den Profit.

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