EuropaKardioGramm, EKG 5-6/1995
Oktober
1995
EU-Verfassung

Verfassungsdiskussion von unten

Die Erfahrungen der GSoA [1] und die Zukunft Europas liegen einander näher, als manche annehmen: Eine Zivilisierung der Sicherheits- und Friedenspolitik Europas ist ganz wesentlich abhängig von der Demokratisierung der europäischen Entscheidungsprozesse. Solange die Regierungen in Europa die Innen- und Außenpolitik der EU bestimmen, ist eine Entmilitarisierung unwahrscheinlich. In einer europäischen Verfassung müssen deshalb Möglichkeiten von direkter BürgerInnenbeteiligung verankert werden.

Eine europäische Verfassung ist ohne eine transnationale demokratische BürgerInnenbewegung unwahrscheinlich, weshalb viel für die These spricht, wonach Friedensarbeit in Europa in den kommenden Jahren im wesentlichen auch das Engagement für eine europäische Demokratie bedeutet. Zwei Einsichten bringen einen zur Erkenntnis, daß eine europäische Verfassung und damit die Konstitution einer transnationalen, demokratischen Machtstruktur eine notwendige — wenn auch nicht hinreichende — Voraussetzung für die Friedensarbeit in Europa während der kommenden Jahrzehnte darstellt.

Zwei Einsichten

Die eine Einsicht: Friede ist national nicht zu gewinnen. Denn Friede bedeutet weder für den einzelnen Menschen noch für einen Staat, daß er in Ruhe gelassen wird. Friede ist vielmehr Ausdruck einer Beziehungsstruktur zwischen Menschen und Staaten, in denen keiner der Beteiligten unter dem Eindruck leidet, es werde ihm, beziehungsweise ihnen, Gewalt angetan.

Die zweite Einsicht: Demokratische Rechte sind Rechte, welche allen betroffenen Menschen ermöglichen, sich Gehör zu verschaffen mit ihren Überzeugungen und Vorschlägen, sowie das Recht, die letzte Entscheidung bei der Gestaltung ihrer Lebensgrundlagen zu treffen. Sie sind wesentliche Voraussetzungen für den Aufbau von Verhältnissen und Beziehungen, welche friedlich genannt werden können.
Beide Einsichten lassen sich mit Erfahrungen aus den vergangenen Wochen und Jahren kurz erläutern. Zur Notwendigkeit der Europäisierung der Friedensarbeit beispielsweise folgendermaßen: Der Krieg auf dem Balkan hat nicht nur viele GSoA-SympathisantInnen in ihrem 89er Elan gebremst und der hiesigen Armee die Beschaffung von neuen F/A-18-Kampfflugzeugen ermöglicht, sondern — was für unsere Zukunft noch etwas wichtiger ist ganz wesentlich mit dazu beigetragen, daß der Integrationsprozeß Europas in eine tiefgreifende Krise geriet und sich in vielen Staaten unseres Kontinents vermehrt wieder nationalistische Tendenzen durchsetzen. Denn Nationalismus und Militarismus gehen Hand in Hand: Nicht nur der antirepublikanische französische Präsidentschaftskandidat de Villiers verbindet seine Ablehnung der europäischen Integration mit der Forderung nach Erhöhung der ohnehin schon überdurchschnittlichen Ausgaben Frankreichs für die militärische Landesverteidigung.

Keine Entmilitarisierung ohne Demokratisierung

Zur Illustration des Zusammenhangs zwischen Demokratisierung und Entmilitarisierung können GSoAtInnen bei ihren ureigensten Erfahrungen anknüpfen: Gäbe es keine direkte Demokratie in der Schweiz — was den Schweizerinnen und Schweizern heute das Recht gibt, ein klein wenig mehr und entschiedener in die politischen Auseinandersetzungen einzugreifen, als wenn sie nur ihre VertreterInnen in die Parlamente wählen dürften — gäbe es weder eine GSoA noch GSoA-Initiativen, und die offizielle Schweiz würde immer noch die Existenz einer kleineren anderen Schweiz, die ohne Armee auskommen könnte, leugnen können. Erst unser Recht, allen BürgerInnen eine Frage aufdrängen zu können, die Diskussionsprozesse, welche verborgene Realitäten ans politische Tageslicht beförderten, erlaubten zu zeigen, wieviele SchweizerInnen sich von den konstitutiven Mythen der Nachkriegsschweiz emanzipiert hatten und somit zukunftstauglicher sind, als die offizielle Schweiz ihnen zutraut.

Oder mit anderen Worten und zusammengefaßt: Müßten wir auch in der Schweiz die Politik den BundesrätInnen und BundesparlamentarierInnen überlassen, würden diese wohl immer noch — wie 1986 — behaupten, die Schweiz hätte nicht nur eine Armee, sondern sei gar eine, und Kriegsdienstverweigerer müßten auch im Jahre 2000 bei uns noch ins Gefängnis.

Weshalb eine Verfassung?

Doch was hat dies alles mit einer europäischen Verfassung zu tun, mag sich nun die eine oder der andere LeserIn fragen. Meines Erachtens sehr viel. Denn in einer Verfassung einigen sich die BürgerInnen eines Staates darauf, wer wann wieviel zu sagen hat bei der Gestaltung dieses Staates. In einer Verfassung steht gleichsam geschrieben, wieviel Demokratie in einem bestimmten, von dieser Verfassung erfaßten Raum gilt.

Nun wissen wir aber, daß bisher demokratische Rechte nur national garantiert werden. Denn es gibt auch nur nationale Verfassungen. Gleichzeitig ist uns aber bewußt geworden, daß zur weiteren Vertiefung, Festigung, ja überhaupt zur Etablierung friedlicher Verhältnisse, der Staat nicht mehr genügt und wir dies auf transnationaler Ebene angehen müssen. Eine transnationale (außenpolitische) Ebene, die bisher nicht durch Verfassungen, deren zentrale Subjekte die BürgerInnen sind, gestaltet wurde, sondern durch Staatsverträge, die von Regierungen und ihren Chefbeamten ausgehandelt werden, denen alleine aber die Friedensarbeit nicht überlassen werden kann, wenn diese aus dem militärischen Gewalt- und Gegengewaltdenken herausführen soll.

Folglich liegt die Konsequenz auf der Hand: Die Friedensarbeit im Sinne des Entmilitarisierungsprozesses und der Emanzipation von Gewaltbeziehungen muß ein Interesse haben an der Verfassung auch transnationaler, kontinentaler wie globaler Räume. Auch transnationale Politik muß von den Bürgerinnen und Bürgern direkt mitgestaltet werden können, damit diese weniger von militärischem und gewaltsamem Denken geprägt werden. Oder eben: Friedensarbeit ist nicht nur innerstaatlich, sondern vor allem auch europaweit Arbeit für die Vertiefung der Demokratie, für ihre „Restauration“ (ein Ausdruck des Münchner Soziologen Ulrich Beck) auf der europäischen, kontinentalen Ebene.

Übrigens nicht, um eine europäische Nation oder gar einen europäischen Nationalismus zu konstituieren, sondern als wesentlicher Beitrag zur Frage, wie die Welt global verfaßt werden könnte. Denn selbstverständlich ist angesichts der Globalisierung der entscheidenden Ökonomie auch Europa trotz seiner Weltmächtigkeit zu klein, um global friedliche Verhältnisse zu ermöglichen. Doch weil für viele von uns „eurotopia“ schon fast zu groß ist, dürfen wir uns mit „Globotopia“ (noch) nicht überfordern.

Zusammenfassen ließe sich dieses Plädoyer für eine europäische Verfassung durch die These, daß das institutionelle Korsett gegenwärtiger Politik für den Bau des Friedens zu klein und zu dünn geworden ist. Oder, was der Berliner Politologieprofessor Wolf-Dieter Narr kürzlich für Deutschland meinte, gilt auch und ganz besonders für Europa: „Die institutionelle Frage, genauer: die institutionellen Fragen stellen zweifellos das zukunftsentscheidende Problem dar. (...) Das, was an neuer Politik notwendig ist, wird nur dann möglich, wenn man nicht das „Volk“, sondern die Bevölkerung, d.h. die einzelnen Bürgerinnen und Bürger, ernster nimmt, sie informiert und beteiligt, um mit ihnen eine lösungsorientierte Politik zu betreiben. (...) Deswegen ist ein Repolitisierungsprozeß in dem Sinne vonnöten, daß Bürgerinnen und Bürger als zoa politika wiederentdeckt werden und sich die größte Ressource der Politik, ihre allgemeine Legitimation nämlich, endlich wieder eigenständig nutzen läßt“. [3]

Was soll eine europäische Verfassung?

Die Einsicht in die Notwendigkeit einer europäischen Verfassung und einer Verfassung für Europa — das sind übrigens über 500 Millionen BürgerInnen in etwa 50 Staaten und mit der EU, die in diesem Sinn ein guter Anfang bedeutet, nicht gleichzusetzen — läßt einen sofort zwei Fragen stellen: Wie sieht eine solche Verfassung aus? Und wie kommen wir dazu?

Zum Charakter einer europäischen Verfassung: Sie muß meines Erachtens vor allem föderalistisch sein und in demokratisierender Absicht folgende vier wesentlichen Leistungen erbringen: Sie konstituiert politische Macht und setzt diese in ihr Recht gegenüber und zur menschen- und umweltverträglichen Begrenzung der transnationalen wirtschaftlichen oder der nationalen administrativen Macht um; sie schafft und institutionalisiert Verfahren legitimer Willensbildung und Rechtsetzung und läßt somit auch eine transnationale, kritische Öffentlichkeit entstehen; sie ordnet die Geltungsräume, Reichweiten und Abgrenzungen der jeweiligen politischen Körperschaften (Staaten, Regionen, Transnationale Regionen) und schafft dadurch dezentralisierende Gegengewichte zur zentralisierenden Tendenz der Ökonomie; sie regelt die Partizipation, Rechte der Bürger, Gliedstaaten und zentralen Institutionen (Parlament und Senat) und verschafft so durch deren direkte und indirekte Teilhabe und Mitwirkung der Macht Legitimität bei jenen, die ihr unterworfen sind.

Im Rahmen der europäischen Bürgerinitiative „eurotopia“, welche unter der maßgeblichen Mitwirkung von GSoAtInnen seit Frühjahr 1991 tätig ist, [4] haben wir noch konkretere Thesen im Hinblick auf eine europäische Verfassung erarbeitet und diskutieren sie permanent. Ebenso versuchen wir immer wieder, die Anknüpfungspunkte zu finden und aufzuzeigen, wie sich im Rahmen der Europäischen Union und des Europarates oder der schweizerischen Europadebatte Möglichkeiten bieten, um solche Erkenntnisse und Einsichten in praktische Politik umzusetzen. [5]

Wie weiter?

Eines muß uns allerdings bei allen diesen Verfassungsprojekten und Perspektiven klar sein: Eine neue Verfassung, welche den BürgerInnen mehr Demokratie ermöglichen soll, bedeutet eine Neu- und Umverteilung von Macht. Dies gilt auch und ganz besonders für Europa: Heute haben auf europäischer Ebene wenige Menschen und wenige Institutionen zu viel Macht. Das heißt, sie können zu schnell und zu viel so handeln, daß die Handlungsfreiheit von Millionen anderen Menschen allzustark eingeschränkt wird.

Hier würde nun eine europäische Verfassung die Gewichte umverteilen. Das bedeutet aber, daß diejenigen, die heute zu viel Macht haben, etwas abgeben müßten. Dazu werden sie ohne Druck von unten, ohne die Einsicht, daß sie, wenn sie es nicht tun, alle Macht verlieren würden, nicht bereit sein.

Eine Neuverteilung der Macht auf europäischer Ebene, die Verfassung demokratischer BürgerInnenrechte in Europa, setzt also voraus, daß diese EuropäerInnen sehr viel dafür tun. Ohne deren Engagement und Druck wird es nicht möglich sein, eine europäische Verfassung zu kreieren, welche den BürgerInnen mehr Rechte und somit mehr politische Handlungsmacht gibt.

Diese auf Grund der Geschichte der Demokratie in den vergangenen 200 Jahren an sich banale These ist viel zu wenigen EuropäerInnen bewußt: Soll Europa demokratisch verfaßt werden und so in eine bessere Verfassung kommen, dann müssen sehr viele EuropäerInnen selber sehr viel dafür tun. Sie dürfen nicht glauben, diese Arbeit ausgerechnet jenen überlassen zu können, die von dieser Verfassung um ihre Machtmonopole gebracht werden sollen. Deshalb brauchen wir in den kommenden Jahren von möglichst vielen EuropäerInnen getragene europäische Demokratiebewegungen, wenn eine europäische Verfassung und etwas mehr Frieden in Europa keine Utopie bleiben soll. Freilich kann in jedem Dorf Europas und von jeder politischen Gruppe, auch der GSoA, ein kleiner, aber wesentlicher Beitrag, dafür geleistet werden. Denn bekanntlich — ein Slogan aus den Anfängen der GSoA vor zehn Jahren — beginnt auch ein langer Weg mit einem ersten Schritt.

Dieser Artikel erschien in der GSoA-Zitig Nr. 59/95

[1Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee

[2Gesellschaft für eine Schweiz ohne Armee

[3In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 04/95, S. 395

[4vgl. die Artikel in den GSoA-Zitig Nr. 39, 40 und 41 von 1990 und 1991

[5Nähere Informationen bei: eurotopia, Postfach 909, CH-3000 Bern 7

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