FORVM, No. 192
Dezember
1969

Verhängte Welt

Über Theodor Kramer

Seine Eltern waren Juden, und so war auch er Jude, weithin sichtbar, von großer Statur und schweren Gliedern. Sein Gesicht war breit, die Nase kurz und eingesattelt, die Lippen wulstig. Sein runder schwarzer Kopf war hutbedeckt. Er hatte Augen wie Vogelkirschen, die im Schatten der breiten Krempe glitzerten. So sah er aus wie Moses Vogelhut, und jeder sah ihn, wenn er, mit scheuen Gebärden, auf schweren schaukelnden Sohlen dahinging.

Mit den Zeichen seiner Herkunft versehen, kam Kramer, als er schon zur Schule ging, vom Dorf Niederhollabrunn nach Wien. Das war, wie wenn das Kalb zum Metzger gebracht wird. Es war der Einstieg in den Kanal. Geboren 1897 in Niederhollabrunn, gestorben 1958 in Wien, war Kramer lebenslänglich ein dunkler Pendler zwischen Dorf und Stadt; er ging mit der Stadt auf dem Dorf, mit dem Dorf in der Stadt hausieren. Mitten in Wien und im Londoner Exil fand er sich immer wieder auf dem Dorfplatz, im alten Dunstgemisch von Haus und Feld, Mensch und Vieh.

Er sah das Dorf an den Hügel gebaut: niedere Häuser, lange Ställe, schlammige Wege; obenan, vor der freien Höhe, steht die Kirche, dahinter das weite Land: überall auftauchende und verschwindende Wege, Baumreihen und Ruschhaufen, vom Himmel abgezeichnet finstere Bäume. In tiefen, ständig abbröckelnden Erdfurchen gehen die Flüsse.

Bei Niederhollabrunn verläuft die Grenze zwischen Weinland und Rübenland. Ostwind und Westwind stoßen dort zusammen. Aber näher als der Westen schaut der Osten herein. Kramer hat das beiderseitige Wehen des Geistes, die gekreuzten Blicke, gespürt, er sah sich auf jene Grenze gestellt, und er hat sein Gesicht immer mehr dem Osten zugewendet.

Er stand immer „am Rand“. Sein Meridian war die Peripherie. Stadt war für ihn Stadtrand; das Stadtzentrum, das Spezifische der „Inneren Stadt“, hat er nie in Betracht gezogen. Da war eine unsichtbare Schranke, die er nur mit dem Rücken streifte. Er fühlte sich ganz dem armen Volke zugehörig, das von der bürgerlichen Kultur nichts zu erwarten hatte. Seine politische Hoffnung war die Revolution. So hat er in jungen Jahren, in Rußland und Italien, den Krieg erlebt. Er sah die Umkehr des Krieges von der äußeren zur inneren Front, den Krieg der Reichen gegen die Armen, die Vermehrung von Hunger und Krankheit. Er sah das Land zuletzt als Sperrzone, darin die Kriegsführer Marodeure assentieren, für den Tod an der Front und durch Henkershand.

Nun könnte der Eindruck entstehen: Jedes seiner Gedichte spricht von Agitation und Klassenkampf! — das ist aber nicht der Fall; die meisten zeigen nichts als melancholische Einsamkeit: die Einsamkeit des Arbeiters, des Arbeitslosen, des Trinkers, die Einsamkeit der Krüppel und Kranken: Existenzen, die vor dem Ende sind und fast verlangend um Spital, Gefängnis, Armenhaus kreisen. Einsamkeit im Haus und auf der Straße, im Schmerz und in der Lust, und oft ein blinder Zorn, der aus dem leeren Magen „mit Schnaps“ aufsteigt. Dann „wohnt“ das Messer, im Hosensack, „bereit zum Stich“; der Kopf ist ein „ausgekratzter Plutzer“.

In Kramers Lyrik, die so oft krankhafte Zustände darstellt, finden sich, neben weniger Krampfhaftem, auch Strophen primitiv wie Pflasterzeichnungen. Und dann gibt es noch einen Übergang zu einem friedlichen Ausgleich mit der Natur: Gedichte auf Weinland und Stromland, Steinbruch und Schottergrube, Schrebergarten, Kräuter und Gras. Auch einige seiner Trinklieder und Sterbegedichte gehören dazu. Aber das freundlichste Bild ist nur ein zarter Flor; dahinter Not und Tod, Schweiß, nasse triefende Angst, und Agonie.

Für Kramers Selbstblick und Selbstgewahrung, die er unter den verschiedensten Gegenständen zu objektivieren suchte, fällt ein melancholischer, exzedierender Geschlechtstrieb besonders in Gewicht. Er fühlte sich mißraten und verstoßen. Dieses Würgende und Stoßende in seiner sinnlichen Natur geht Hand in Hand mit der Sehnsucht nach Frieden, er preist die Behaglichkeit bukolischer Verhältnisse. Seine von Anfang an quälende Selbstschau ist mit einem naiven utopischen Weltblick gepaart, der an der Stelle des Olymps, der Altäre und Throne, die grüne burgenländische Wiese sieht, auf der Gänse weiden und ein freies Volk um den Maibaum tanzt.

Aber das ist Chimäre. Kramers Leben hat sich früh umnachtet, zuerst in der Pubertät und gleich darauf durch den Krieg. Wie die krepierende Granate ist der Krieg in sein Leben eingebrochen, er hat ihn seelisch und körperlich verwundet und ihm sein Brandmal aufgedrückt. Kramer hatte dem Grauen kein Kriegsziel entgegenzusetzen; nichts, nur sein vibrierendes Nein! — seine bloße, haltlose, sinkende Hand. So blieb er, als die Glorie endlich zusammenbrach, gleich vielen andern, die nicht gefallen und nicht gestorben sind, invalid und krank auf seinem Gesicht liegen.

Kramer hat nie Prosa geschrieben, keine Erzählung, keinen Zeitungsartikel; sein Werk besteht nur aus zahllosen lyrischen Gedichten, von denen erst ein kleiner Teil veröffentlicht ist. Er hat täglich mindestens ein Gedicht gemacht, und er hat eines nach dem andern, Tag für Tag, wie in einen Kalender, in Hefte eingetragen; es ist wunderbar zu sehen: vom 1. Jänner bis zum letzten Dezember fehlt kein einziger Tag!

Sämtliche Gedichte sind gereimt; die Reime sind in der Mehrzahl nicht bloß klangvoll, sondern auch substantiell. Die meisten Strophen sind vierzeilig. Die Gedichte umfassen in der Mehrzahl drei, vier, fünf und sechs Strophen; es gibt wenige, die länger sind. In den letzten Jahren sind auch Zweizeiler und Vierzeiler entstanden. Besonders charakteristisch ist für Kramer das zyklische Gedicht, der Marschtakt, die Kunst eines eindringlichen, streichelnden, schürfenden, schütternden Refrains sowie seine Neigung zu Provinzialismen.

Kramer ist unser letzter Volksdichter. Er steht dem Volkslied nahe, und es ist bemerkenswert, wie die vielfach krude Stofflichkeit und die politische Farbe seiner Gedichte mit diesem Ideal zusammenklingen. Das Volkslied spricht unreflektiert von den Dingen, und so spricht, in seiner besten Art, auch Kramer. Politischer Glaube und Psychologie haben bei ihm bloß zu einer Erweiterung und Differenzierung in der Thematik geführt; den musikalischen Grundgedanken, den eigentlich romantischen Grundbaß seiner Dichtung und das Kreatürliche berühren sie nicht. Das hat den revolutionär gesinnten Dichter gegen seinen Willen und ohne sein Wissen wieder von der Zeit getrennt; vielen ist er schon zu seinen Lebzeiten verblaßt.

Betrachten wir, was ihn künstlerisch angeregt und gefördert hat. Zunächst, ganz allgemein, das Volkslied. Es gibt Anklänge bei ihm, die uns an deutsche, slawische und jüdische Lieder denken lassen. In „Des Knaben Wunderhorn“, in Herders „Stimmen der Völker“, im „Schi-king“ ist das hier Mustergültige gesammelt: eine Fülle von Beispielen für bloß sinnende, für klagende, aufregende und anklagende Gedichte. Außerdem kommen für Kramer zwischen 1917 und 1927 Georg Heym und, hinter diesem, Baudelaire in Betracht. Noch stärker vielleicht ist der Einfluß von Chamisso und Bürger, an die niemand mehr denkt; auch Claudius’ Lob der Frugalität war für Kramer verehrungswürdig, so sehr er das „Aufhaun“ und „Prassen“ liebte. Je weiter wir zurückgehen, zu den Vergessenen und Anonymen, um so deutlicher erkennen wir Einflüsse. Ein altfranzösisches Gedicht fängt so an: „Als Jean Renaud vom Kriege heimwärts fand / trug er sein Eingeweide in der Hand.“ Bleibt noch zu erwähnen, daß die „Schlesischen Lieder“ des tschechischen Dichters Petr Bezruč auf eine fast landmannschaftliche Art für ihn wegweisend waren.

In einem seiner Gedichte aus dem Krieg, „Abgang an die Front“, heißt es: „So feierlich genährt vom letzten Mahle, / blüh’ unser Fleisch tief ins Vergessen ein.“ Diese Vorstellung, vom „Einblühn des Fleisches ins Vergessen“, ist bereits typisch, vollkommener Selbstausdruck. Aber erst nach dem Krieg tritt Kramer in die Kunst der Dichtung ein.

Durch das idiotische und unmoralische Verhalten vieler Schriftsteller und Dichter im Krieg sah Kramer den „Glauben an das Wort“ erschüttert. Naiv, wie er war, hat Kramer die Wirkung der geistigen Prostitution auf das Volk zwar weit überschätzt, für sich selbst aber die Anwendung darauf gemacht: wahrhaftig und konsequent zu sein. Er mußte sich sagen: Nur bei genauester Kenntnis aller Umstände und völliger Identifikation mit seinem Elend wird ein Armer und Heruntergekommener es verzeihen, daß ihm Mitgefühl entgegengebracht, daß er zum Gegenstand künstlerischer Darstellung wird. Er begann „systematisch“ zu arbeiten, seinen Stoff zu erforschen und sich einen Stil zu schaffen. Entscheidend für das Ergebnis war aber doch weniger seine „Objektivität“, sondern vielmehr der Umstand, daß er selbst doppelt elend war: ein wirklicher und ein eingebildeter Kranker. Sein Verfahren war mit Trieb und Zwang gepaart. Neben der sozialen Anklage macht sich das Bedürfnis nach Selbstbefriedigung geltend. Das hat ihn stofflich und psychologisch vom Hundertsten ins Tausendste geführt, in der Form aber mehr und mehr beschränkt. Er machte Gedichte „wie man sich betrinkt oder Drogen nimmt“. So ist seine Lyrik zuletzt ein großer Leierkasten.

Kramer hatte das Gefühl, die Welt sei über ihn „verhängt“. Erde und Himmel saugen an ihm wie eine Glasglocke, aus der die Luft abgezogen wird. Die volle Straße ist leer, die Ohren sausen, die Achseln „tosen“, in der Ferne verschwindet ein Mensch wie ein „schwarzer Strich“. Ein schwarzer Besen kehrt um ein Hauseck herum, gleichfalls furchteinflößend.

Gras, Blumen und „kleines Kraut“, behandelt er scheu wie Totenkrönlein und Leichenschmuck. Immer wieder malt er die auf dem Schanktisch prangenden oder am Spiegel der Hure aufgesteckten Papierblumen. Die Welt ist ein „Staubrevier“, seine Dichtung eine „Orgel aus Staub“. Kramer war kein Trinker; in seinen Gedichten aber wird sehr viel Wein und Schnaps „verspeist* und verschüttet; ein ganzes Volk spiegelt sich im Wein; das Trinkglas ist der durchsichtige Behälter einer Welt, voll von Traum und Verzweiflung.

Der Mensch ist ein Wesen, das „wahllos“ Ekstasen sucht, Rausch und Vergessen, um „aufzugehn in ihrer Tausendkraft“. Er ist „in der Bittgestalt gebettet“, und zwar „allezeit“. Er ist durch sich selbst wie durch andere in die Ecke getrieben und an die Wand gestellt — in jeder Verworfenheit und selbst in der Vernichtung eine Rechtfertigung suchend. Vieles sonst kaum Beachtliche oder aber schön Erscheinende, wie die Liebe, ist „wie ein Hieb über den Schädel“. Darum soll auch, was im Gedicht erscheint, wie ein Hieb sein: niederschlagend, betäubend, aufreizend. Der Mensch steht immer da „wie nicht in der Welt“. Seine Selbstgewahrung ist somnambul. Mörder und Selbstmörder spüren Befriedigung wie einer, der trinkt, bis er sich erbricht und umfällt, „um im Erbrochnen dumpf und gut zu ruhn“. Der Gehetzte „fleht“; zu wem und um was wissen wir nicht. Aber er „fleht mit Schnaps“, er faltet seine Hände „flehend um ein Beben“, er hat „schluchzende Fäuste“. So ist jede Gestalt schwarz umrandet und mit unheimlich leuchtenden Tinten ausgefüllt.

Kramers erstes Buch, „Die Gaunerzinke“, ist 1928 erschienen. Wer es einmal auf sich wirken ließ, vergißt es nicht. Es ist das Musterexemplar der ganzen Gattung. Jeder einzelne Titel darin bezeichnet ein Modell.

Dem unvergleichlichen Erstling folgen die zum Teil viel umfangreicheren Bände: „Kalendarium“ 1931; „Wir lagen in Wolhynien im Morast“ 1932; „Verbannt aus Österreich“ London 1942; „Die Grünen Kader“, Wien 1938, „Die untere Schenke“ 1946; „Vom schwarzen Wein“ 1956. Zwei Sammelbände, „Lob der Verzweiflung“ und „Der Mitwisser“, hat Kramer selbst noch zusammengestellt; sie sind nicht erschienen.

Mit Winseln und mit Jammern, daß er, arm, krank und hilflos wie er sei, nicht mehr die Möglichkeit habe, sein Werk zu ordnen, und daß er es nimmer gedruckt sehen werde, ist Kramer seinem Ziel zugerannt. Es war ihm, bald nach seiner Rückkehr aus dem Exil, am 3. April 1958 in Wien gesetzt.

Ein „Tröpfchen Orgelblut“ ist verspritzt, vertrocknet und mit Staub bedeckt, und viele Füße gehen darüber hin, aber niemand weiß, daß da, mitten auf der Straße, unter den Schuhen ein Herz stäubt. Man kann ruhig sagen, daß Kramer jetzt vergessen ist. Aber er ist nicht tot, und einst wird er wieder erscheinen. Dann wird man seine Gedichte zu jenen Liedern vergangener Zeiten zählen, die für ihn vorbildlich waren.

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