FORVM, No. 487-492
Dezember
1994

Versalzen

Die Mächtigen, der Geist und die Gespenster des Zeitgeists im Spiegel der Eröffnungsreden zu den Salzburger Festspielen 1994

»Europa beginnt in doppeldeutiger Magie.« Mit diesem Satz leitete der Philosoph George Steiner seine Festrede ein. Bevor auf seine Ausführungen und Schlußfolgerungen eingegangen wird, sollen aber die deutlichen Rekurse auf Europa und Tradition, Tradition und Europa sowie, am Rande, die Festspiele, welche die Politiker als beflissene Besucher und Festredner den beflissenen Gästen, Besuchern und Zuhörern offerierten, angezeigt werden.

Katschthalers »Grundprinzipien«

Der Salzburger Landeshauptmann Katschthaler eröffnete den Reigen der Redner und gab die Generallinie vor: Tradition, alte Geschichte. Und dann noch das Kunststück, das als Teil des Fortschritts zu sehen. Er zitierte das Festspielkuratorium mit dem bemerkenswerten »Bekenntnis zur Reform der Salzburger Festspiele unter Beachtung ihrer Grundprinzipien, eines gebotenen Fortschritts und ihrer guten Tradition.« Wer kennt die Grundprinzipien? (Das Wort »Prinzip« heißt »Grundsatz«; der Pleonasmus »Grundprinzip«, also Grund-Grundsatz entblößt den Jargon. ) Hat wer die Konzepte von Friedrich Gehmacher und Heinrich Damisch gelesen, will jemand nur die Überlegungen von Max Reinhardt und Hermann Bahr bzw., später, Hugo von Hofmannsthal als eigentliche Konzeption gelten lassen? Das Bild vom »gebotenen Fortschritt« im Verein mit »guter Tradition« wäre sicher einige Reflexion wert. Dazu fehlte aber die Zeit. Also wurde ein anderes Bekenntnis zitiert, dasjenige des verstorbenen Landeshauptmannes Lechner, der vor zwanzig Jahren sagte,

Salzburgs erklärtes Ziel ist es, in allen Bereichen die Vielfalt zu erhalten und zu fördern ... und daher auch den eigenständigen Kulturformen junger Menschen Raum zu geben: Nicht nur am Rande — sondern ganz zentral.

Der Politiker ging schon damals von einer existierenden Vielfalt aus. Dies sowie die reklamierte Förderung wären kritisch zu würdigen! Das Anbiedern an die Jugend zur damaligen Zeit (Siebzigerjahre!), ihr Raum sei nicht am Rande, sondern zentral, während doch das zentrale Ereignis eben nicht die Jugend war, auch nicht sein mußte, demaskierte die freundliche Politikersprache.

Einen ganzen Abschnitt lang stellt der Landeshauptmann den Festredner George Steiner vor: Als Mann der Weltkultur, der in Salzburg schon lange kein Unbekannter mehr sei. Als einer, der im deutschsprachigen Raum nach 1970 als Kulturkritiker bekannt wurde. Das klingt nicht nur freundlich, ist es auch. Stimmt es? Ich verfolge mit Interesse das Werk dieses Autors seit den späten Siebzigerjahren. Immer frappierte mich seine geringe Verbreitung im deutschsprachigen Raum. Der Suhrkamp Verlag verweigerte mir die Auflagenzahlen der bei ihm erschienen Bücher von Steiner; der Hanser Verlag war nicht so ängstlich und nannte sie: 21 Tausend im Total für vier verschiedene Publikationen inklusive der Nachdrucke. Das ist immerhin ein Indikator. Ein weiterer wäre der, daß, als Steiner 1992 einen Einführungsvortrag zu Messiaens »Saint Francois d’Assise« hielt, nur kurze Artikel darüber erschienen. Aus dem Ausland zurückgekommen, fragte ich im ORF Wien und Salzburg nach, ob dieser Vortrag aufgezeichnet worden war. Man wußte nichts vom Vortrag, man kannte keinen Herrn Steiner. Das Festspielbüro war geschlossen, der Journaldienst kannte keinen Herrn Steiner. In den Salzburger Nachrichten teilte mir schließlich ein Redakteur mit, er habe den Vortrag gehört und darüber geschrieben, aber nicht aufgezeichnet. Jetzt, als Festredner, liegt sein Text natürlich veröffentlicht auf!

Das eigentliche Thema war Europa. Nicht nur der Festredner, vor allem die Politiker konzentrierten sich darauf. Es taugt trefflich zur Legitimation, zur Begründung der Aufgabe, der Pflicht (weil wir ja so pflichtbewußt sind). Der Landeshauptmann:

Europa ... wird uns fordern ... ein Kulturland, eine Kulturstadt zu sein. Wir müssen uns vor Augen halten, daß wir einen Ruf zu bewahren, zu verteidigen und zu verlieren

haben.

Wie? zu verteidigen? Verteidigung ist eine Abwehr gegen Angriff. Wer greift den Ruf an, wer ist Gegner? Wo sind die Feinde? Oder ist das nur rhetorisch gemeint? Der Redner spezifiziert nicht, welchen Ruf es zu bewahren gilt.

Doch die kulturpolitisch bedeutsamste und wichtigste Erklärung folgt erst: im Rekurs auf die Tradition die Forderung nach stärkerer, weiterer Musealisierung und Geschichtsaufarbeitung bzw. Präsentation. Der Landeshauptmann beklagt ganz offen, daß in Salzburg die Salzburger Geschichte versteckt gehalten werde:

Eindeutig fehlt uns jedoch eine qualitätsvoll gestaltete kulturhistorische Museumslandschaft zur Geschichte unseres Landes, eines Landes, das wie kein zweites in Österreich über Jahrhunderte als geistliches Fürstentum souverän und von hohem Rang gewesen ist. Alles, was wir am Antlitz unserer Stadt bewundern, ist genau jene Geschichte, die in ihrer gesamthaften musealen Präsentation nicht auf Dauer fehlen kann, sondern noch in diesem Jahrtausend erreicht werden muß. Salzburg versteckt seine Geschichte, erfreulicherweise nicht seine Zeitgeschichte, diese ist wissenschaftlich besser aufgearbeitet als anderswo, wohl aber jene der regierenden Fürsten ... Solcherart werden Sichtweisen für die Gegenwart verstellt und Perspektiven für die Zukunft erschwert.

Man sollte diese Worte langsam lesen und sich den Gehalt klar vor Augen führen. Salzburg, wo einem auf Schritt und Tritt die Geschichte der geistlichen Herrn entgegenblickt, braucht noch mehr solcher Ausweise, braucht die museale und wissenschaftliche Aufbereitung, Präsentation, Bestätigung und wissenschaftliche Verbrämung! Es scheint, der Kulturwert der hohen Katholiken verblaßt oder verliert an Bedeutung angesichts aufklärerischer Geschichtsbetrachtung. Dem ist entgegenzuwirken. Die Angst, Salzburg und seine -Burger könnten der Zukunft nicht ins Auge blicken, weil sie die alte Geschichte vergaßen bzw. zu gering erachten, weil eben nicht so (museal) präsentiert, gipfelt in der Forderung nach mehr wissenschaftlicher Aufarbeitung, nach Museumslandschaft: Das ist die Ausrichtung einer modernen Tradition auf Europa: im Bewußtsein der katholischen Vergangenheit wird Europa, wird die gefahrenvolle Moderne eher im Blickfeld einnehmbar. Die Aussage, die Zeitgeschichte sei in Salzburg besser als anderswo auf gearbeitet, möchte ich, ohne die Arbeit der Salzburger damit zu schmälern, in diesem Sinn doch in Zweifel ziehen. Aber verbirgt sich dahinter nicht ein Ärger? Man hat genug mit der Zeitgeschichte, die ja die Nazizeit und das Danach (inklusive Waldheim und das nach ihm benannte Syndrom) behandelt.

Das Monieren des Mankos eines Geschichtsbewußtseins des »dreizehnten bis zum neunzehnten Jahrhundert und die Jahrzehnte danach, sowie die Jahrhunderte davor« indiziert eine Vergangenheitsorientierung, ein Rückwärtsschauen, das eher mit dem resignierten Geist Hofmannsthals korrespondiert, als mit der Moderne, die auch der Landesmann anruft. Eine Moderne, die revidiert gesehen wird, weil einige ihrer Charakterzüge und Forderungen nach Meinung Konservativer seiner Art unheilvoll sind. Der Redner zitiert eine Passage einer hervorragenden Formulierung von Ulrich Beck (Humanismusgespräche), merkt aber nicht, daß die Umsetzung des darin Artikulierten ihn bzw. seine Gedanken in Frage stellte, zum Überdenken oder zur Korrektur zwängen:

Überall täuscht die Gleichheit der Wortfassaden über völlig veränderte Realitäten hinweg. Wir denken, handeln und forschen in Phantomsprachen.

Die Täuschung erfolgt im Denken à la Katschthaler durch den Jargon bzw. durch Klischees: »Ich plädiere für eine neue Gesprächsbereitschaft zwischen Kultur, Politik und Gesellschaft.« Gab es eine alte? Wie lange und welcher Art? Gesprächsbereitschaft ist oder wäre noch nicht Gespräch. Bereitschaft als Ersatz? Weiters: Zwischen Kultur, Politik und Gesellschaft. Zwischen wem? Sind dies so separate Bereiche?

Später hören wir den Bundespräsidenten genau das Gegenteil behaupten. Pluralismus. Die Funktionszuordnung, die Hierarchisierung wird verständlicher mit der Rollenzuweisung, die der Politiker kraft seines Amtes nicht nur der Politik erteilt, sondern eben auch der Kunst. So meint er, Künstler könnten visionär und korrektiv auf ihre Zeit einwirken (wer, wann, wie?) und erklärt gleich, wie das zu verstehen ist:

So sehe ich das Verhältnis von Kunst und Politik und trete für eine Kunst ein, die nicht nur die private, sondern auch die öffentliche Sphäre — und diese nicht nur in extremen Utopien — künstlerisch betreut.

Jetzt ist die Katze aus dem Sack. Kunst als Betreuung. Versorgungseinrichtung. Nach dem Muster der Seniorensozialeinrichtungen. Und: nicht nur extreme Utopien! Schickt sich nicht. Widerspricht der künstlerischen Betreuung. Die Quintessenz dieser Aussage rückt das Vorangesagte ins rechte Licht. Jetzt müssen die Verbindungen zur Moderne als Kaschierung verstanden werden, jetzt zeigt sich, welche Bedeutung seine Begriffe von Vielfalt und Bewußtsein, von Kunst und Wirklichkeit haben. Von hier läßt sich die geforderte »neue« Gesprächsbereitschaft besser verstehen: eine, die unter strikter Beachtung der zugewiesenen Rollen und Standorte erfolgt, also nach Regeln, die schon (von ihm und dem, was dahinter steht) bestimmt sind.

Hat der Landeshauptmann, trotz der von ihm konstatierten tadellosen zeitgeschichtlichen Aufarbeitung, die Überlegungen von Dolf Sternberger, Gerhard Storz und W. E. Süskind, unmittelbar nach dem letzten großen Krieg publiziert (aus dem Wörterbuch des Unmenschen), übersehen oder vergessen? Die dadurch ausgelöste Kontroverse lieferte auch berechtigte und wichtige Kritik. Trotzdem ist der normativen Sprachkritik von Sternberger und anderen nicht einfach der Sinn abzusprechen. Dem Wort »Betreuung« wurde eine eigene Betrachtung gewidmet:

Was der Unmensch in allen seinen Gestalten zu erreichen strebt, ist dies: daß keiner unbetreut bleibe und daß der Mensch auch zu keiner Zeit seines kurzen Lebens unbetreut bleibe.

Am Ende löscht die Betreuung den Jemand als Jemand, als eigenes Wesen, aus, dem sie gilt oder zu gelten scheint.

Diese Beobachtung könnte doch vortrefflich in einen Vergleich mit Hofmannsthals »Jedermann« gebracht werden, nicht? Sternberger nahm die Kritik von Kolb und Polenz zur Kenntnis, erwiderte sie auch und bekräftigte nochmals:

Freien aber und in ihrer Freiheit als gleich geachteten Menschen geschieht Unrecht, wenn sie betreut, behandelt, auch beliefert und so irgendwie beherrscht, nämlich abhängig gemacht werden oder werden sollen. ... Der Betreuer aber geht daran, freie und für gleich geachtete Personen in dieselbe Abhängigkeit zu versetzen und sie darin zu erhalten.

Aber auch die Kenntnis einiger Werke des in Salzburg so bekannten Autors George Steiner hätten den Redner vielleicht vorsichtiger werden lassen, überlegter. Zwar ist der Essai »The Hollow Miracle« aus dem Jahr 1959 von George Steiner selbst als fragwürdig und heftig kritisiert worden (Steiner relativierte und korrigierte später einige darin unhaltbar eingenommene Positionen), entspricht aber dem kritischen Geist, wie ihn die Autoren des Wörterbuchs des Unmenschen repräsentieren, aber auch Vertreter der Kritischen Theorie, die vielleicht bei uns auch nicht so bekannt sind, weil sonst solche Rollenzuweisung der Kunst nicht so glatt vor sich ginge (Adorno, Horkheimer, Benjamin).

Klestils »Magna Charta Europas«

Der Bundespräsident ging noch konsequenter auf Europa ein. Das ist sein Thema, das behandelt er immer und überall. So auch hier. Der Herr Bundespräsident zeigt Geschichtssinn, er zitiert einen Politiker einer jungen Ostdemokratie »Für uns Europäer geht jetzt ein völlig unnützes Jahrhundert zu Ende!« und kommentiert gleich:

Kürzer und im Grunde furchtbarer läßt sich kaum beschreiben, was dieser Kontinent an Kriegen, an millionenfachem Blutzoll, an ideologischen Verirrungen und humanitären Rückschlägen erlebt und durchlitten hat.

Die Passivwendung eliminiert den oder das Aktive, lagert damit Verantwortung aus, versachlicht in der »Leideform« und erzeugt damit das Vorstellungsbild eines Leids, eines Erlebens als etwas, das einem zugekommen, zugestoßen ist, nicht notwendigerweise von außen, vielleicht sogar endogenen Ursprungs, nie aber als Resultat von (eigener) Tat, eigener Aktivität. In solchem Denk(bild) gibt es keine Ursache, nur Wirkung. Also: keine Aktiven oder Tätigen (Täter), nur noch Erlebende (Erleidende = Opfer). Das hat doch Tradition, nicht nur in Österreich, aber hier ganz speziell! Der Herr Bundespräsident fährt weiter:

Nichts davon ist letztlich wiedergutzumachen — und es wird schwer sein, dem Geschehenen einen späten Sinn zu geben. Aber ist daraus wenigstens zu lernen — und wenn ja, sind wir dazu fähig und bereit? Und wie wird die Schlußbilanz dieses europäischen Jahrhunderts aussehen?

Mutige Feststellungen, viele Fragen. Dr. Klestil sieht Schwierigkeiten für einen »späten Sinn«. Welchen frühen sieht er, verstehen wir? Aber wie sollen wir lernen, wenn es keinen Sinn gibt? Es muß also einen geben. Ist nicht im Lernen ein Sinn bedingt, wird nicht, falls der Sinn nicht aus sich existiert (was er ja nicht tut), er generiert, allein in der Praxis des Lebensfortgangs und der Lebenserfüllung, die nie, auch entgegen möglichen nihilistischen Formulierungen, sinnlos ist oder sein kann?

Der Redner scheint mit seiner rhetorischen Frage und implizierten Antwort nur das Feld zu bereiten für die politischen Ausführungen:

Ich stelle diese Frage ganz bewußt am Beginn der Salzburger Festspiele, die sich ja von allem Anfang an die Aufgabe gestellt haben, den Glauben an Europa zu stärken.

Dem wäre rein faktisch zu widersprechen. Profanere Gründe waren Motor und Motivation zur Installation der Festspiele; insbesondere nach dem Schock der Staatskastration, nach dem Verlust der geliebten Ordnung war wenig da, das als Glaube an Europa (wem bedeutete damals Europa Europa?) interpretiert werden könnte. Aber der Redner braucht diese Chimäre des Ursprungs, des (alten) Europas, um einen Kontrast zu zeichnen, um spätere Folgerungen als Programm, als Lösung, verkaufen zu können: Zuerst reklamiert er Europa als geistigen Begriff. Dann fragt er wie’s damit heute steht und liefert die Antwort: »Wenn wir ehrlich sind, nicht gut.« Damit gibt er nicht nur eine Antwort, sondern liefert zugleich den Beweis seiner und der Hörer Ehrlichkeit. Jetzt folgen die Ausführungen:

Nach wie vor sind im Osten die seelischen Verwüstungen jahrzehntelanger Diktaturen, die nachklingende Erschöpfung, die Enttäuschungen und Frustrationen spürbar.

Klar. Aber ich meine, mehr als das ist »spürbar«, wahrnehmbar. Es beschränkt sich nicht auf das Seelische! Leider zieht er nicht den Vergleich, der so einladend winkt: Europa im Osten heute, Österreich als Schrumpfstaat damals, auch nicht nur seelisch zerstört, zudem noch erschöpft von Verwüstungen nicht nur jahrzehntelanger Diktatur, sondern jahrhundertelanger Habsburgerregime. Aber das würde zu weit in die alte Geschichte führen und in einer Weise, die auch dem Salzburger Landeshauptmann nicht so angenehm wäre, entrollte man das Szenario der damaligen Malaise. Gegenwarts- und zukunftsorientiert schafft der Redner deshalb die Brücke:

Und im Westen liegen die Schatten des Mißtrauens der Bürger schwer über den demokratischen Institutionen.

Wen meint er? Die Italiener? Die Franzosen? Gar uns selbst, die Österreicher? Ganz gleich wen er meint, was meint er damit? So, wie er’s sagt, klingt’s, als ob der Bürger wieder Schuld trägt, weil er »demokratische Institutionen« mit schwerem Mißtrauen belegt und damit stört. Seine Formulierung gibt nicht Raum für die Überlegung, daß das Mißtrauen nicht den demokratischen Institutionen gilt, sondern Politikern oder Amtsinhabern, die solche Institutionen jenseits demokratischer Kontrolle (miß)brauchen. Der Satz des Herrn Bundespräsidenten stellt zudem dieses Bürgermißtrauen als Last in direkten Vergleich mit den Verwüstungen der Diktatur. Nun, das kann dem Ghostwriter im schnellen Formulieren so passiert sein. Oder schreibt der erfahrene Beamte Klestil als Bundespräsident seine Reden, die jetzt Texte eines Politikers sind und nicht eines Berufsdiplomaten, selbst? Gleichwie, er legt dieser obskuren Gleichung ein Schäuferl nach:

Überall hat sich die offene Gesellschaft durchgesetzt — aber gerade in ihrer Offenheit und Unverbindlichkeit liegt auch ihre Gefährdung.

Ich nehme an, er bezieht sich nicht auf die »Offene Gesellschaft und ihre Feinde«, wie sie Sir Karl Popper visionierte. Er sieht überall offene Gesellschaften. Ich wäre froh, dem wäre so. Aber er sieht sie nur, um die Gefahr des Zuviel zu beschwören. Vor lauter Freiheit kein Erbarmen, nur Unverbindlichkeit. In der Freiheit liegt die Gefährdung, deshalb brauchen wir Normen, Grenzen, Kontrolle, Expertise, ja, im Katschthalerschen Sinne: Betreuung. »Zur Freiheit, zur Sonne«, das mag auf dem Spielboden auch von Festspielen angehen, nicht aber in der maßgebenden Wirklichkeit. Die Bedrohung ist so stark, so akut, daß der Redner mit Furor fordert:

Und wir dürfen nicht tatenlos Zusehen, wenn unter dem Vorzeichen der totalen Offenheit und Freizügigkeit ganz neue, unkontrollierte und demokratiefeindliche Machtmonopole entstehen.

Irgendwie ist mir die Sprache des Herrn Bundespräsidenten zu ungenau. Nie läßt sich sagen, was er genau meint, wen er womit nicht nur bezeichnet, sondern im Sinn hat. Es klingt so, als ob er was sage, klopft man es aber ab, findet man nicht die Substanz, die eine Referenz ermöglichte. Er liefert Politjargon. Die Wortverbindung von der »totalen Offenheit« mag ja von jenen, denen der »totale Krieg« noch im Ohr ist, verstanden werden, nur, wo ortet er sie? Wo leiden wir an totaler Freizügigkeit? Bei uns dürfen Ehefrauen keinen eigenen Namen tragen und die Homosexuellen bewegen sich, soweit sie geschlechtlich verkehren, verkehrt. Gerade Herr Dr. Thomas Klestil müßte doch die existierende, akzeptierte, praktizierte Freizügigkeit zu schätzen wissen, war sie doch Voraussetzung für das breite Verstehen in der Bevölkerung für seine Beziehungs- und Familienprobleme. Wo existieren bei uns unkontrollierte Machtmonopole? Wir haben viele Machtmonopole, aber alle kontrolliert, nach Plan, in Sozialpartnerschaft, nach Vertrag. Alles österreichisch geregelt. — Er fährt fort:

Außer Zweifel steht, daß wir durch eine Zeit großer Ratlosigkeit gehen. Alte Werte sind entleert. Die Sehnsucht nach dem Magischen, dem Mystischen wird trivialisiert oder bleibt unerfüllt.

Sollte die Sehnsucht nach dem Magischen erfüllt werden, authentisch? Wie wäre das in einer aufgeklärten Gesellschaft möglich? Wie wäre die Sehnsucht nach dem Mystischen nichttrivialisiert zu artikulieren? Hier könnten Antworten, wenn nicht selbst gegeben, bei unterschiedlichen Autoren gefunden werden, z.B. bei Roland Barthes, Theodor W. Adorno oder, ganz naheliegend, George Steiner. Vor allem Adorno hätte aber der Sehnsucht nach dem Magischen eine Absage erteilt und die Sehnsucht nach dem Mystischen kritisch hinterfragt. Für den Redner muß die Problematik herhalten für eine Kurzverbindung: Große Ratlosigkeit, weil Entzauberung (die alte Enttäuschung über die Aufklärung, die Moderne), Lösung durch Sehnsuchtserfüllung nach dem Magischen und Mystischen. Da harrt nicht nur ein weites Programm seiner Exekution, da werden Aufgaben verteilt für Programmerfüller. Bevor er sie anführt, verstärkt er noch seine Art von Kulturkritik mit dem Hinweis, zu vieles sei auf Unterhaltung und zu wenig auf Inhalt und Dauerhaftigkeit angelegt. Das alte Lied. Aber eines mit Lösungen, serviert wie ein Schlagerpotpourri:

Unser Kontinent kann und wird seine künftige Identität und seinen Frieden nur dann finden, wenn er sich im Kern als eine Kultur- und Wertegemeinschaft versteht!

Schön wär’s. Der Bundespräsident scheint die Essays des bekannten Kultur- und Literaturkritikers Steiner nicht gelesen zu haben. In einem stellte Steiner nämlich fest, daß Kultur offensichtlich keine Garantie darstellt(e), die (kultivierte) Gesellschaft vor Barbarei zu bewahren. So einfach scheint die Anrufung der Kultur als Werkzeug oder Mittel für einen Frieden oder Humanismus nicht zu funktionieren. Ja, in seiner nachfolgenden Rede ging Steiner nochmals aktuell auf dieses Moment ein und beschwor einige dunkle Seiten unserer Kultur und Geschichte. Andrerseits muß gefragt werden, was der Bundespräsident wieder meint. Welche Identität des Kontinents? Wenige Sätze später stellt er doch richtig fest:

Es gibt keine gemeinsame europäische Kultur — und schon gar keine Kultur der Europäischen Union.

Aber eine Identität gibt’s? Oder soll es künftig geben? Damit diese Konstruktion hält, muß eine Festlegung, eine Einengung erfolgen, die sich wie folgt anhört:

Aber es gibt so etwas wie eine geistige ›Magna Charta Europa‹ — ungeschrieben, immer unfertig — und voller Spannungen und Gegensätze. Viele haben an ihr mitgewirkt — die vier Evangelisten und viele Philosophen, die Humanisten und Reformatoren, die Päpste und Kaiser, Ost-Rom und West-Rom.

Die zweite Katze ist aus dem Sack. Wer’s nicht wußte, dem wird’s jetzt klar: Ost-Rom, West-Rom, Kaiser, König, Vaterland, die Päpste, natürlich und göttlich, die vier Evangelisten. Alles Europäer, alles Konstrukteure der ungeschriebenen Magna Charta Europas. Danke. Die Okkupation eines Begriffs mit christlicher Geschichtsbrille. Nicht nur Eurozentrik, sondern pures Christentum als Auftrag des Okzidents: da liegt die Wurzel unserer Identität: wer da nicht hinein paßt, wer da nicht rein will, ist selber fremd. So einfach ist das. Übertreib ich jetzt? Um keine Zweifel aufkommen zu lassen, die ich gutgläubig zugunsten des Redners mir einzureden versuchte, fährt dieser aber weiter: dreimal beginnt er Sätze mit

Wer sich zu diesem Kultur-Europa bekennt, wer an dieses Europa glaubt, wer dieses Europa will!

Dreimal wird klar: dieses Europa, nicht ein anderes! Wer dieses nicht will, wer daran nicht glaubt, wer sich dazu nicht bekannt, stellt sich abseits, ist nicht Europäer, ist Barbar, Fremder. Punkt.

Um nicht im Mystisch-Magischen oder Geschichtlichen sich zu verlieren, besinnt sich der Bundespräsident der politischen Aufgabe:

Ich halte es für ganz entscheidend, den Kulturbegriff rasch zu erweitern. ... Auch Demokratie ist Teil der Kultur.

Fein gesagt. Doch wie soll die Erweiterung aussehen? So, wie seine Hauspostille, ›news‹, Journalismus als Teil unserer Kultur versteht? Also eine Kultur für Halbgebildete, Kurzdenker, Konsumenten und Mitläufer etc. Gerade die Kulturindustrie beweist, daß die Erweiterung des Kulturbegriffs durchaus möglich ist in einer Weise, wie sie (anders) Kultivierten unangenehm ist. Die Erweiterung ist ja nicht dahingehend gesucht oder gefordert, daß sie höhere Mündigkeit, breiteren Freiraum bedingte und gewährte, sondern als erweiterte Bedürfnisbefriedigung in einer betreuten Gesellschaft. Wobei die größten Teile der Programmerfüllung, der Bedürfnisbefriedigung, durch berufene Animateure, Künstler, Wissenschaftler, Beamte, Politiker erfolgen, ein ganz geringer durch die Betreuten selbst im Akt des Konsums, des Verzehrs bzw. davor im Erfüllen der Produktionsfunktionen.

Lange spricht der Präsident dann von der Kulturfriedensarbeit (seine Sprache wäre in diesen Punkten einen spezifischen Vergleich mit dem SED-Jargon wert!) um sich dann zum Abschluß an Hugo von Hofmannsthal zu erinnern und seinen Geist programmatisch zu beschwören:

Vor 70 Jahren hat Hugo von Hofmannsthal wörtlich geschrieben, Österreich sei identisch mit tausendjährigem Ringen um Europa, tausendjähriger Sendung durch Europa und tausendjährigem Glauben an Europas Ein stolzes, aber auch ein verpflichtendes Wort. Der Ausgang der Volksabstimmung vom 12. Juni war ein Signal, daß der Geist von damals nicht erloschen ist. Mehr denn je aber brauchen wir heute die Kraft dieses Geistes und die Macht der Kultur, um durch die Unsicherheit und Unübersichtlichkeit unserer Zeit hindurch in eine größere Gemeinsamkeit zu finden.

Auch wenn Hofmannsthal ein sensibler, sprachempfindsamer Autor war, muß man ihn nicht gleich zum Europaanwalt machen. Nicht nur wegen der obsoleten Tausendjahr-Beschwörungen, die einem Heutigen doch schwer über die Lippen kommen sollten, nach all der Erfahrung der Tausendjahr-Gesellschaft, sondern wegen der Kenntnis der vergangenheitsorientierten Position des Dichters Hofmannsthal, der ein später Repräsentant des vorigen Jahrhunderts ist, wenn er auch im jetzigen noch wirkte und verstarb. Er soll damit nicht abgewertet werden, es soll nur eine falsche Vorwärtsrichtung korrigiert werden. Dafür taugt Herr von Hofmannsthal nicht. Der künstlerischen Wertschätzung tut das keinen Abbruch; George Steiner führt ihn des öfteren als höchst positives Beispiel deutschsprachiger Dichtung an ... Aber der Bundespräsident verwendet Hofmannsthal als Marke, als Ausweis für einen Geist von damals, von welchem Republikaner (ein Begriff, den ich im ursprünglichen Wortsinn verstanden wissen will) hofften, er wäre überwunden. Der Geist der Restauration, wie er auch aus der positiv formulierten Verbindung mit Monarchie und Päpsten etc. antiaufklärerisch spricht, feiert hier dunkle Urständ’ und relativiert das modern klingende Gerede von zukünftigem Europa, Offenheit und Moderne.

Scholtens Kontrastprogramm

Der Bundesminister für Unterricht und Kunst setzte einige andere Akzente, sprach aber auch nicht zu den Festspielen, sondern über Geschichte und Politik. Seine Ausführungen hörten sich nachträglich wie eine Korrektur der beiden anderen Reden an, obwohl er nach dem Landeshauptmann und vor dem Bundespräsidenten sprach. Minister Schölten leitete gleich drei seiner Absätze mit der Wortfolge ein: »Trotz Renaissance und Aufklärung« und befand, daß eben trotzdem Barbarei, Krieg, Mord und Elend möglich war und ist.

Er beschwor Solidarität und Menschlichkeit als Mittel und Programm heutiger Friedenspolitik, bekräftigte das Programm der Moderne, unterstrich deren Ideale der Aufklärung und zitierte nach Albert Camus den Italiener Lampedusa, der in seinem Roman »Der Leopard« Tancredi den bedeutungsvollen Satz sagen läßt »Wenn wir wollen, daß alles bleibt, wie es ist, dann ist es nötig, daß alles sich verändert.« Mit diesem Schlüsselsatz rechtfertigt Schölten eine Politik bzw. Kulturpolitik, als welche er wohl auch seine gesehen haben will. Er differenziert seine Kulturkritik:

Nicht die Moderne steht der Tradition im Wege. Nicht Veränderung stört die Ruhe. Nur die schnellen Bilder verstellen den genauen Blick. Nur die raschen Antworten verhindern die richtigen Fragen.

Das Festhalten an der Moderne, an der Aufklärung im Einverständnis mit Veränderung, gesehen als Leitsatz europäischen Denkens, sieht Schölten eben in diesem Satz von Lampedusa ausgedrückt.

Europa scheint ein Magnet zu sein. Auch der Unterrichtsminister versteigt sich zu Formulierungen wie »Dieses Europa hat uns jetzt auch in seiner Tischrunde aufgenommen und wir haben damit eine große Verantwortung übernommen. « Wo waren wir denn zuvor, als wir keinen Sitzplatz am europäischen Tisch hatten? Draußen vor der Tür. Aber auch das war Europa, wie auch jetzt Europa immer noch mehr umfaßt, als am Tisch Platz zugewiesen erhielten. Und denkt man Europa kulturell, ist die Grenzziehung mit dem Platz an der Sonne, dem Aufgenommensein in die Tafelrunde, untauglich.

Im Gegensatz zu Katschthaler alter Geschichtsorientierung fordert der Unterrichtsminister

die besondere Verantwortung gerade der Politik Österreichs, sich zu konfrontieren mit den Geschichtsbrüchen der Gegenwart, um den internationalen Dialog weiterführen zu können und so die wirklichen Verflechtungsprobleme unserer Zeit aufzuzeigen.

Wahrscheinlich hat auch er den Text nicht selbst verfaßt und sein Ghostwriter brillierte im Jargon. »Geschichtsbrüche« mag ja noch angehen, weniger einsichtig scheint die Begründung des internationalen Dialogs. Noch weniger einsichtig aber die Notwendigkeit »wirkliche Verflechtungsprobleme« aufzuzeigen. Erstens, wem soll weshalb aufgezeigt werden? Weshalb liest man aus der Aufnahme in die Europäische Union schon wieder eine Sonderverpflichtung ab und maßt sich eine solche Rolle an? Allen Politikern ist eigen, daß sie sofort Österreich prädestiniert sehen für zentrale europäische Kulturaufgaben, Vermittlungsaufgaben etc. Bedürfen wir solcher Reklamation wegen eines beschädigten, dürftigen Selbstbewußtseins? Im Jargon stört mich aber auch die Vokabel »wirkliche Verflechtungsprobleme«. Was Scholten damit meint?

Gut und aussagekräftig wurde der Minister, als er nicht zu Europa und Politiken sich klischiert äußerte, sondern von Kunst und Kultur sprach. Da klang durch, daß er oder sein Schreiber kritische Lektüre genossen haben, da erwiesen sich Gedanken als von guter Nachbarschaft:

Kunst wäre ohne den Gedanken an das Neue, an Veränderung und an die Lust auf das Neue durch die Veränderbarkeit des Alten undenkbar. Kunst ist das Neue schlechthin, aber ein Neues, das durch seine Existenz diesen Grundgedanken der Moderne bewahrt. Wer also dem Neuen in der Kunst den Raum zur Entfaltung zu versagen sucht, versucht nichts anderes, als die Kunst in diesem Land von ihren Wurzeln zu entfernen und das zu zerstören, was er vermeintlich zu bewahren glaubt: die Tradition.

Man mag darüber streiten, ob Kunst schlechthin Neues sei. Aber immerhin läge Substanz für eine Auseinandersetzung vor. Die Art, wie hier Grundlegendes mit leidvollen Erfahrungen unserer Alltagskulturpolitik vermengt wird, ist trefflich. Die Signale an die Abwehrkämpfer, die Ultras, deutlich. Ob sie auch Effekt zeigen werden, muß einer späteren Prüfung Vorbehalten bleiben.

Steiners Europa-Mythen

Den Abschluß lieferte George Steiner mit seinem Festvortrag. Er sprach nicht zu den oder über die Festspiele, sondern von Europa und seinen Mythen. Es klang wie nach einem verfehlten Thema. Steiner las deutsch. (Keiner der Redner sprach frei, alle lasen; leider! ) Kennt man sein Werk, enttäuschte er ein wenig. Mir zumindest ging es so. Meine Erwartungen waren hoch, hatte ich doch seine überaus gescheiten Essays mit ihren vielen Hinweisen, Querverbindungen und Assoziationen eines tief kultivierten und belesenen Europäers, mehrerer Sprachen mächtig, gerade wegen ihrer Komplexität genossen. In dieser seiner Rede schien er sich zu bescheiden, dünkte mir, verkaufte er sich unter seinem Preis. Vielleicht bin ich deshalb etwas unfair mit meiner etwas zu einseitigen Kommentierung. Aber die Reaktionen auf seine Rede, sei es die abwertende Bewertung von Kanzler Kohl, Steiner habe einen »Schwanengesang auf Europa« geliefert, sei es das bloße Herausheben seiner Bemerkung von einem »müden Europa, das an einem Zuviel an Geschichte leide« und anderer, ähnlicher kulturkritischer Sätze stimmen mich nicht hoffnungsfroh, seine Intention wäre verstanden worden.

Wovon, wenn schon nicht von Festspielen, spricht Steiner? Von den Wurzeln der Sprache, der Grammatik, als Voraussetzung für die Mythenbildung. Vom Zusammenhang des menschlichen Sprachvermögens nicht nur eine Zukunft formulieren zu können, sondern auch eine Möglichkeitsform, womit Entwürfe, Imaginationen, Gegenwelten, womit eigentlich Schöpfungsakte möglich werden, womit die Spanne des Möglichen, des Denkbaren, sich über Gegenwart und Vergangenheit auf die Zukunft zu richten vermag. Er spricht von den Mythen, von der Vorherrschung der griechischen Mythen, von denen sich das 20. Jahrhundert speist und fragt, ob das auf eine Erschöpfung eigener Mythenbildung weise, ob wir keine eigenen Geschichten mehr zu erfinden imstande sind, ob wir nur noch variieren. Für all das führt er viele überzeugende Beispiele an. Leider versäumt er den Gedanken kritisch weiterzudenken, ob es irrig ist, nur von einer Variation der griechischen Mythen zu sprechen, ob nicht vielmehr die Bedingtheit des Menschseins eine unendliche Zahl verschiedener genuiner Geschichten erlaubt bzw. sie gar nicht nötig werden läßt. Oder, um eine andere Erklärvariante zu bemühen, ob die geringe Verschiedenheit nur ein Resultat vereinheitlichenden Blicks ist bzw. Resultat einer Reduktion auf das Wesentliche, auf den Kern. Was Wunder dann, daß immergleiche Strukturen zu finden sind. Was Wunder, daß es immer um ähnliche Probleme geht. Erstaunt es uns, daß es um Menschen und Götter geht?

Der sensible Kulturkritiker hätte nur sein Sensorium, das er so empfindsam auf Äußerungen und Artikulationen anderer zu richten in der Lage ist, auf sich und seine Gedankenkonstruktionen selbst anlegen sollen, um einen Teil der Fragen nicht zu stellen, die Absenz der Antworten nicht als Manko monieren zu müssen. Die Erinnerung an Überlegungen zum Problem Schein und Sein, Einheit und Komplexität, Sprachbewältigung als Weltaneignung, seiner eigenen Ausführungen wie solcher, die er oft zitiert (Nietzsche z.B.), als auch jener, die er geflissentlich zu übersehen scheint (Adorno), würden einiges an Klärung liefern und korrigierend relativieren, was er heute als vermeintliche Armut hinstellt.

Steiner sieht in den Mythen »Geschichten, die über die erste Geschichte erzählt werden. Eine zirkuläre, eine labyrinthische Wahrheit«, weswegen es »nur eine Geschichte« gäbe. Dieses Fokussieren auf eine Urgeschichte, einen Urtext — ähnlich dem Wunschbild einer Ursprache — führte Steiner wahrscheinlich auch zu seiner umstrittenen Hypothese, welche er in seiner Rede anspricht:

daß die urtümlichen Mythen, welche die Sensibilität und die Erkenntnisgewohnheiten im Denken, in der Literatur und in den Künsten des Abendlandes hervorbringen, in einer elementaren Wechselbeziehung zu den Quellen der indoeuropäischen Grammatik stehen. Diese Mythologie und die Skelettstruktur der Syntax sind irgendwie miteinander verflochten.

Wie wäre mit einer solchen Sicht der Umstand zu erklären, daß es aber in verschiedensten Gesellschaften nichtverwandter Sprachfamilien und entfernter Kontinente gleiche Mythen derselben Struktur gibt? Claude Levi-Strauss kritisierte schon früh diese Denkweise der Mythologieforschung in einem Vergleich zur antiken Sprachphilosophie: Er nimmt die antiken Philosophen und deren damalige sprachtheoretischen Kenntnisse als Beispiel, das Dilemma in der Mythologieforschung zu skizzieren: Ausgehend von der Tatsache, daß »in einem Mythos alles Vorkommen (kann)«, stellt Levi-Strauss fest:

Dennoch entstehen diese anscheinend so willkürlichen Mythen mit denselben Charakterzügen und oft denselben Einzelheiten in den verschiedensten Regionen der Welt.

Dieser Widerspruch muß zuerst erklärt werden. Ein Problem liegt im Verständnis des Mythos, der gegenwärtig so befangen ist, wie die antike Sprachphilosophie. Levi-Strauss:

Die antiken Philosophen redeten über die Sprache wie wir noch heute über die Mythologie. Sie konstatierten, daß in jeder Sprache gewisse Lautgruppen bestimmten Sinngehalten entsprechen, und suchten verzweifelt zu begreifen, welche innere Notwendigkeit diese Sinngehalte und diese Laute verbinden. Das Unterfangen war vergeblich, da die nämlichen Laute sich auch in anderen Sprachen fanden, dort aber mit ganz anderen Sinngehalten verbunden waren. So wurde der Widerspruch erst behoben, als man merkte, daß die Bedeutungsfunktion der Sprache nicht direkt an die Laute selbst gebunden ist, sondern an die Art und Weise, wie die Laute miteinander kombiniert werden.

Und:

Den Mythos mit der Sprache zu vergleichen, hilft gar nichts: der Mythos ist ein Bestandteil der Sprache; durch die Sprache ist er uns bekannt, er hängt mit der Rede zusammen.

Die wichtige Bemerkung aber lautet:

Man könnte den Mythos als jene Art der Rede umschreiben, in der der Wert der Formulierung traduttore traditore (traduttore = Übersetzer, translater; traditore — von tradire = verraten, Pflicht vernachlässigen — verräterisch oder Verräter; HLH) praktisch gegen Null strebt. In dieser Hinsicht steht der Mythos auf der Stufenleiter sprachlicher Ausdrucksweisen der Poesie genau gegenüber, was man auch gesagt haben mag, um sie einander nahezubringen. Die Poesie ist eine Form der Sprache, die nur unter großen Schwierigkeiten in eine andere Sprache übersetzt werden kann, und jede Übersetzung bringt zahlreiche Deformationen mit sich. Dagegen bleibt der Wert des Mythos als Mythos trotz der schlimmsten Übersetzung bestehen. Unsere Unkenntnis der Sprache und der Kultur der Bevölkerung, bei der man einen Mythos entdeckte, mag noch so groß sein, er wird doch von allen Lesern in der ganzen Welt als Mythos erkannt. Die Substanz des Mythos liegt weder im Stil noch in der Erzählweise oder der Syntax, sondern in der Geschichte, die darin erzählt wird.

Und zur Bewertung der Authentizität, der Ursprünglichkeit als »wahrer« oder »wahrerer« Wert, spricht der Ethnologe und Strukturalist von der

Schwierigkeit, die bisher eines der Haupthindernisse für den Fortschritt der mythologischen Forschungen bildete, nämlich die Suche nach einer authentischen oder ursprünglichen Version.

Wir schlagen stattdessen vor, jeden Mythos durch die Gesamtheit seiner Fassungen zu definieren. Mit anderen Worten: der Mythos bleibt so lange Mythos, wie er als solcher gesehen wird.

Hier wird deutlich, wie wichtig die Frage und Bewertung des je aktuellen Verständnisses des Mythos wird, um das Phänomen Mythos erfassen zu können.

Steiner fragte leider nicht nach der gegenwärtigen Relevanz historischer Bezüge. Bedeutsam ist nicht nur, wie er in der Lage ist, die ältesten und alten Mythen und die Geschichten um ihre damalige Funktion und ihr damaliges (kollektives) Verständnis zu ergründen, zu rekonstruieren, sondern, wie heute welcher Rest dieser Mythen noch als Mythos existiert und funktioniert oder ob es sich nur noch um Geschichtsdokumente handelt. Steiner geht von der Annahme existierender Mythen aus (bzw. im konkreten Fall des Mythos Europa). Er führt aber nicht aus, wie er einen solchen festmacht, wie er ihn bemißt und bewertet, aufgrund welcher Merkmale oder Indikatoren er dazu kommt etc. Aber mit Mythen ist es wie mit der Sprache: es gilt das aktuelle Verständnis und es ist sinnlos, einen gegenwärtigen Bedeutungsgehalt gegen einen »ursprünglichen« als falsch oder weniger gültig auszuspielen. Zudem implizierte das die Annahme von Ursprungsbedeutung und unwandelbarem Gehalt im Sinn von eigentlicher »Wahrheit«, der zu widersprechen wäre. Geht man aber von der Veränderungs- und Entwicklungsmöglichkeit aus, kann die Genealogie, die Etymologie, die kulturhistorische Analyse, den Entwicklungsgrund aufzeigen und erklären, immer aber nur im und für ein Verständnis dessen, was gegenwärtig allgemein verstanden wird. Das kollektive Verständnis ist der Maßstab, weil es sich ja nicht um Idiolekte handelt. Dieses ist aber nicht präzis festmachbar.

Levi-Strauss betont das ausdrücklich und stellt die alten überlieferten Formen der Mythen mit Neufassungen oder Interpretationen z. B. von Freud in eine Reihe mit solchen von Pueblos oder Zunis oder Cushing:

Es gibt keine ›wahre‹ Fassung, im Verhältnis zu der alle anderen Kopien oder deformierte Echos wären. Alle Fassungen gehören zum Mythos.

Steiner führt zu Europa weiter aus und postuliert als sicher

die Benennung unseres Kontinents im Einklang mit einem Mythos oder, in strenger dynamischer Symmetrie, die Geburt des Mythos zur Erklärung des Namens.

Nachdem die Funktion des Mythos aber gerade in der Aufhebung der Geschichte liegt durch Herstellung einer falschen Gegenwärtigkeit, einer irrigen Permanenz und Wiederkehr des Immergleichen, darf die Deutung sich nicht im Festmachen eines historischen Aktes der Namenserklärung erschöpfen. Was mit solcher Namenserklärung erreicht worden war, worin ihre (gegenwärtige) Funktion liege, verrät der Kritiker nicht.

Steiner verläßt den Pfad der Reflexion über den Europamythos und stellt fest, daß sich unser 20. Jahrhundert von den griechischen Mythen obsessiv genährt habe. Dann stellt er seine bedeutsame Frage, die er mit seiner gewagten, vorher geäußerten Hypothese verknüpft:

Weshalb diese rätselhafte Sparsamkeit des Symbolischen und des Ikonischen? Sind unsere Kräfte der Erfindung, der narrativen Innovation, der Konstruktion des novum erschöpft? Können wir nicht mehr eigenständig phantasieren und neue Geschichten erzählen? Ist da doch ein Körnchen Wahrscheinlichkeit in der von mir aufgestellten Hypothese, die die urtümlichen Mythen aus dem alten Hellas fast untrennbar mit der Entwicklung und Verinnerlichung unserer Grammatiken verknüpft?

Sind wir sparsam im Ikonischen? Eine Unmöglichkeit, da das Ikonische die nicht symbolische Darstellung mit äußerem Ähnlichkeitsbezug ist und deshalb nicht durch eine Syntax geregelt wird, wie die Sprache und sein Bereich von der Qualität der Abbild- oder Darstellungsmittel abhängt und von der Speicherung, Konservierung. Nachdem wir durch die Computertechnik diesen äußeren, technischen Bereich hochentwickelt haben, kann man von einer Zunahme der Speicherung als auch einer Qualitätssteigerung in »wirklichkeitsnaher« Abbildung oder Darstellung sprechen, also gerade von einer gesteigerten Ikonisierung.

Die Frage nach dem Neuen oder der (Vor-) Herrschaft des Gleichen, des Alten, ist wichtig, wird aber von Steiner leider in eine mir falsch erscheinende Richtung gedeutet. Wie anders diese Problematik befragt, reflektiert und bedacht werden kann, zeigten Horkheimer und Adorno in ihrem Schlüsselwerk »Dialektik der Aufklärung‹, wo die auch von Steiner konstatierte Verarmung der Phantasie auf ganz andere Gründe zurückgeführt wird als auf die Grammatik! Es ist lohnend, in diesem Zusammenhang sich der Lektüre der »Dialektik der Aufklärung‹ zu unterziehen, um speziell im ersten Kapitel »Begriff der Aufklärung« die Ausführungen zu Mythos und Mythologien mit den doch unzulänglichen von Steiner zu konfrontieren.

Lamento lamentabile

Steiner stellt hier keine Überlegungen zur Funktion der Kunst und des Kunstwerks an, wobei gerade daran die Widersprüchlichkeit von Herrschaft und Unterjochung, Wahrheit und Schein, Wissenschaft und Kunst, Zeichen und Bild, exemplifizierbar wäre. Von solcher Kunstkritik könnte zur nötigen Gesellschaftskritik geschritten werden, der sich Steiner versagt, indem er nur Symptome auf zählt. Hätte er die Courage des unabhängigen Denkens, das sich nicht in den Fängen der Religion selbstbescheidet, wären seine Überlegungen zum politischen Mythos Europa fündiger und zur Frage der Mythen generell fruchtbringender.

So aber hört sich seine abschließende, kurze Ausführung als zwar dichte Kulturkritik politischen Gehalts an, aber es fehlt die Verbindung, der Zusammenhang. Was Steiner sonst als Kritiker leistet, nämlich interpretierend Zusammenhänge zu erschaffen, versagt er sich und den Hörern. So gerinnt seine Kritik zu einem Lamento. Es sind nicht zufällig diese Sätze, die in den Massenmedien zitiert werden, obwohl sie im Kontext seines Werkes sich oft anders gewichtet lesen. Die Worte, in so einer Rede gehalten, sind leicht zwei- oder mehrdeutig, sind leicht von verschiedenen Parteien reklamierbar oder angreifbar. Sie sind »interessant«, nur: weshalb zur Eröffnung von Festspielen? Der Vortrag klingt so, als habe er ihn woanders halten wollen, Salzburg aber damit bedient, es hört sich auch an, als habe er schnell was verfaßt. Schonkost. Schade.

Was an Steiners Kritik festmachbar ist, wird wohl von der Öffentlichkeit nicht weiter behandelt oder ernstgenommen; es widerspricht der Intention der Macher, dem Programm der Festspiele, der Generallinie der Politik: Kein Bluff, kein Jonglieren mit Worten als Philosophieersatz, keine theologische Leere (neue Religiosierung?), keine Ausrichtung auf Archivierung, Musealisierung und Festspiele. Keine aufgeblasene, byzantinische Bürokratie.

Das hat Steiner in Essays und Büchern ausgelegt. Die Abgründe des Byzantinismus führte er aus in seinem Buch ›Von realer Gegenwart‹. Im Verein damit ist die Kritik am Ansammeln, Archivieren, Musealisierung zu sehen. Die Kritik an Festspielen ist eine an der übermäßigen Pflege vergangener Meisterwerke.

Sein Werk ›Von realer Gegenwart‹ ist aber nicht nur eine gekonnte Abhandlung der Fragen des Primären und Sekundären, des Texts und der Kritik bzw. des Kommentars, sondern auch das Postulat von der Notwendigkeit der Existenz Gottes, von Kunst als einer Art »Religion«. Steiner unterstrich dies (Interview mit Gabriel Moked in ›Tel Aviv Review‹ 1991):

There are dimensions of art which I regard as dependent on the validity of the question about the existence of God. This is the question of questions. (... ) I think that there is always a mystery within our world which calls for a religious attitude. (... ) I am not convinced that there ever was a great completely secular writer; that there can be a major artist who does not try to struggle with the question of the presence or absence of God.

Diese religiöse Grundausrichtung sollte bei der Bewertung von Steiners Aussagen berücksichtigt werden. Er ist in guter Gesellschaft. Seine gesellschaftskritischen Auslassungen werden in diesem Licht etwas verständlicher.

Wie anders liest sich da z.B. die pointierte Ausführung zum Odysseus-Mythos als gesellschaftskritische Deutung durch Horkheimer und Adorno, welche sich mir aufdrängte, als sich Steiner über Geld, Museen und Festspiele äußerte.

Horkheimer und Adorno interpretieren den Odysseus-Mythos als Parabel, als Beispiel vom Herrn, der sich die gefesselte Freiheit nimmt, der Versuchung sich auszusetzen, aber mit der Sicherheit der Fesselung, die ihm vorm Abdriften bewahrt, während die »Arbeiter«, die Untergebenen, an der Wahrnehmung und Hinwendung gehindert, unfrei vor der Gefahr bewahrt werden. Sie gehen ein auf den Wechselbezug von Herr und Untergebener, beide nicht ohne einander auskommend, Gesellschaft und Kultur, Kultur(industrie) als wohldosierte Kost: kalkulierte Rolle der Kunst. Die Rolle Odysseus’ als die des Zuschauers, Zuhörers, jenes, der nicht aktiv involviert ist, außen, draußen ist:

Der Gefesselte (Odysseus) wohnt einem Konzert bei, reglos lauschend wie später die Konzertbesucher, und sein begeisterter Ruf nach Befreiung verhallt schon als Applaus. So treten Kunstgenuß und Handarbeit im Abschied von der Vorwelt auseinander. (...) Das Kulturgut steht zur kommandierten Arbeit in genauer Korrelation, und beide gründen im unentrinnbaren Zwang zur gesellschaftlichen Herrschaft über die Natur.

Es wäre zu wünschen, daß schlußendlich die konkrete Kritik des Philosophen George Steiner als solche verstanden wird und nicht abgetan wird als Rhetorik eines europäischen Juden.

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