Café Critique, Jahr 1998
März
1998

Verteufelung der Juden, Auferstehung des Blutes

Über den Zusammenhang von religiösem Judenhaß und rassistischem Antisemitismus

1. Antike und Moderne

Das Wuchern des Geldes — die Fortpflanzung dessen, was man als reines Mittel des Tausches verstand — erschien ursprünglich als etwas Unheimliches und Bedrohliches: eine unbegreifbare zweite Natur, die sich nicht zähmen und kultivieren läßt. Aristoteles nannte es „naturwidrig“ oder „am meisten gegen die Natur“, wenn Geld gegen Geld getauscht wird und nicht — wozu es erfunden sei — gegen Gebrauchswerte und wandte sich heftig gegen den Preis, der beim Leihen von Geld verlangt wird — also gegen den Zins. „Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich aber durch sich selbst.“ [1] Der Vorbehalt des Philosophen kann sich allerdings noch auf eine Gesellschaft stützen, in der die Kreditnahme im wesentlichen auf den Konsum beschränkt — und darum ephemer blieb; die Kredite flossen nicht in die Produktion (- von Bedeutung für sie waren sie nur als Seedarlehen). Es handelte sich bei der einfachen, mit der Arbeitskraft der Sklaven verstärkten Warenproduktion der antiken Polis um eine Akkumulation ohne Produktivitätssteigerung. So vermag Aristoteles auf realistische Weise die kaufmännische Kunst, deren Ziel der Erwerb von Geld sei und die darum keine Grenzen kenne, mit der Kunst der Haushaltung — der Ökonomie im eigentlichen Sinn — in Schach zu halten.

Da die Bedeutung des Zinses solchermaßen begrenzt blieb, entgingen diejenigen, die ihn kassierten, von vornherein einer Verteufelung. Aristoteles oder auch der Satiriker Aristophanes — ebenfalls ein scharfer Kritiker des Wucherns — kommen nicht auf den Gedanken, die Lasten der Akkumulation einem Sündenbock aufzuladen — einem negativen Plutos, der nicht von Blindheit geschlagen, sondern von bösem Mutwillen gegen Bürger und Polis durchdrungen wäre — um ihn dem scheinbaren Wohle des Staates zu opfern.

Dies änderte sich, als (nach dem, oder besser: im Zerfall des römischen Reiches) in Westeuropa eine neue, seltsame Form des Kredits entwickelt wurde. Sie war zwar ihrem Wesen nach geldlos, floß aber unmittelbar in die Produktion: die Grundherrschaft. Der adelige Herr überließ den mehr oder weniger abhängigen Bauern ein Stück Land zur Bearbeitung (das er selbst — soweit es ein Lehen war — nur bedingt sein eigen nennen konnte) und kassierte den ‚Zins‘ dafür (er seinerseits beglich sein Lehen gegenüber seinem Lehensherrn ausschließlich mit Kriegsdiensten — Vassalität). Das ‚Kapital‘ bestand also in Grund und Boden und wurde nicht in Geld verwandelt — doch der ‚Zins‘, der zunächst in Naturalien (oder zusätzliche Arbeitsleistung auf dem Gut des Herrn) gezahlt wurde, konnte zu Geld werden. Die Steigerung der Produktivität der Arbeit lag damit einerseits im Interesse des Grundherrn, der mehr Rente einnehmen konnte, andererseits aber auch im Interesse des einzelnen abhängigen Bauern oder Pächters, der — weil er kein Sklave mehr war — neben den Abgaben, die er an den Grundherrn zahlte, seinen eigenen ‚kleinen‘ Reichtum akkumulieren konnte. Die Wachstumsdynamik, die Westeuropa seit dem 11. Jahrhundert erfaßte, entsprang dieser feudalen Form des ‚Kredits‘. [2]

Voraussetzung war wohl die Auflösung des Staats im engeren Sinn — eine eigenartige Parzellierung des Gewaltmonopols: der Grundherr übernahm auf seinem Territorium staatliche Funktionen (z.B. Gerichtsbarkeit) — die Revenuen, die er eintrieb, entsprachen insofern auch einer Steuer. Und doch waren sie keine Steuer mehr, denn der einzelne Adelige fungierte ebenso selbst als ‚privater‘ Käufer und Verkäufer von Waren unter anderen solcher Käufer und Verkäufer: größeren oder kleineren Grundrenteneintreibern (Klöster, Ritterorden etc.) und eben auch unmittelbaren Produzenten (Bauern, Handwerker). Je intensiver sie alle am Marktgeschehen teilnahmen, desto mehr einte sie nun — im Unterschied zur antiken Polis — das Interesse an der Steigerung der Produktivität — und aus ihm erwuchs letztlich der neue, absolutistische Staat. Doch die Lasten dieser Steigerung trugen allein die unmittelbaren Produzenten.

Der wirkliche Kredit — das Verleihen von Geld gegen Zins —, der in die Produktion investiert wird, konnte vermutlich nur auf der Basis der Grundherrschaft entstehen; er ist in bestimmter Hinsicht nichts anderes als deren Übersetzung in die Geldform. Diesen Zusammenhang aber zu kaschieren — Grund und Boden und ‚bodenständiges‘ Handwerk vom Wucherkapital zu trennen —, um die Lasten der Grundherrschaft und die Leiden der Produktivität auf das Wucherkapital zu projizieren, brauchte es eines neuen religiösen Topos — eines Sündenbocks, dem die allen gemeinsame Abstraktion des Geldes aufgeladen werden konnte; auf den der Grundherr verweisen mochte, wenn er neue Abgaben einführte — und die christliche Religion hielt diesen Sündenbock bereit. Sie schuf die Voraussetzungen eines Rituals der Repräsentation, das vom alten Opferkult auf charakteristische Weise abwich: Hatten die ‚heidnischen‘ Priester bei einem Brandopfer einen winzigen oder ungenießbaren Teil des Reichtums vom übrigen isoliert und feierlich den Göttern dargebracht, um ihren eigenen Genuß des restlichen Mehrprodukts zu legitimieren — so isolieren die christlichen Grundherrn und die grundbesitzenden Kirchenherrn eine Gruppe der Bevölkerung, verbieten ihr den Besitz von Grund und Boden und die Ausübung anderer Berufe, machen sie auf diese Weise mit dem Geld identifizierbar und lassen sie schließlich als repräsentativen Teil des Reichtums vertreiben oder hinschlachten, um weiterhin ungestört die Früchte der steigenden Produktivität zu konsumieren. Der Antisemitismus, schreiben Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung, ist das „Ritual der Zivilisation, und die Pogrome sind die wahren Ritualmorde“ [3]. Wieviel aber von dem, was sie tun, wird den Tätern bewußt? Welchen Sinn gaben die mächtigen und die ohnmächtigen Akteure dieser Rituale ihrem Tun? Hier zeigt sich das christliche Bewußtsein wie eine camera obscura, in der sich alles verkehrt.

2. Exkurs: Wie rassistisch ist der religiöse ‚Antijudaismus‘?

In den alten Kulturen blieb die Schlachtung des Opfertiers den Priesterkönigen und Priestern vorbehalten, am christlichen Opferaltar wird zu dieser Handlung das Judentum beschworen — es dient dem christlichen Bewußtsein als negativer Opferpriester. Das Neue Testament legt das Ritual fest: die Juden sind es, die Jesus geißeln und schließlich töten lassen; und die christlichen Priester ihrerseits erinnern nur mehr an das einmalige Opfer, wenn sie mit ihrer Gemeinde die Eucharistie feiern.

Es ist anzunehmen, daß dem Judentum diese Rolle erst zufiel, als das Christentum sich außerhalb Palästinas unter nicht-jüdischen Bevölkerungsgruppen verbreitete. Ja das Christentum selbst, das Christentum des Neuen Testaments, entstand eigentlich erst in dieser Verbreitung — seine zentralen Glaubensinhalte sind nur aus dem Eindringen der konkreten Praxis des heidnischen Opferkults in die abstrakte Gottesvorstellung des Judentums — aus der Verkörperung des Messias durch Dionysos — zu verstehen. Was als Konkurrenz verschiedener jüdischer Glaubensrichtungen begonnen hatte (die nicht mehr rekonstruierbare Vorform des Christentums, die vor dieser Begegnung und vor der Entstehung des Neuen Testaments liegt, könnte etwa gewisse Ähnlichkeit mit den Essenern von Qumran gehabt haben), schlug bei den Heiden des hellenistischen Raums in fundamentale Abgrenzung um — und diese Abgrenzung vom Judentum strukturierte die im Neuen Testament festgelegten Mythen und Riten, deren historischer Stoff paradoxerweise rein jüdischen Ursprungs ist.

Sigmund Freuds Bemerkung über die mittel- und osteuropäische Bevölkerung des frühen Mittelalters hat deshalb auch schon für die mediterrane der Antike und für die Urkirche selbst Bedeutung: „Man könnte sagen, sie sind alle ‚schlecht getauft‘, unter einer dünnen Tünche von Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben ihren Groll gegen die neue, ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben ihn auf die Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam. Die Tatsache, daß die Evangelien eine Geschichte erzählen, die unter Juden und eigentlich nur von Juden handelt, hat ihnen eine solche Verschiebung erleichtert. Ihr Judenhaß ist im Grunde Christenhaß (...).“ [4] Das Problem ist nur, daß die ‚schlechte Taufe‘, die dünne Tünche und auch der Christenhaß — als Selbsthaß — genuin christlich sind! Sie bilden gewissermaßen den Kern des Christentums: die bekehrten ‚Barbaren‘ konnten ihre Vorbehalte gegen die neue Religion in den Mythen und Riten eben derselben Religion ausleben und ausagieren — weil sie darin ein Ersatzobjekt für ihre Selbstverleugnung und ihren Haß fanden.

Darum wird in der Stillstellung des Opferkults durch das Christentum mit einem Schlag auch die Rolle des Judentums fixiert: es ist dazu verdammt, den negativen Opferpriester zu spielen, damit die Christen ihre Hände nicht mehr mit Blut beflecken müssen. Der Begriff des heiligen Schlächters — „sacred executioner“ —, den Hyam Maccoby [5] für diese eigenartige, den Juden zugeschriebene Stellvertreter-Funktion geprägt hat, ist etwas mißverständlich. Besser wäre vielleicht, vom unheiligen, vom verdammten Schlächter zu reden: War nämlich das Opfer in der alten Gesellschaft ein ethisch neutraler Vorgang mit einem bestimmten Zweck (Versöhnung mit den Göttern, d.h.Versöhnung der durch den Reichtum gespaltenen Gesellschaft) — so wird der Vorgang nun ethisch besetzt. Die historische Frage nach dem ‚Täter‘, die Frage ‚Wie kam es dazu?‘, die aufgeworfen wird, sobald sich das Opferritual nicht mehr ‚automatisch‘ wiederholt, erhält eine eindeutige Antwort: die das Opfer herbeiführten, sind das absolut Böse — der es erlitt, ist der absolut Gute. Eine solche ethisch-ethnische Fixierung war noch der klassischen Antike durchaus fremd: die Transformation des Opferkults im griechischen Theater ersetzte die ethische Indifferenz des Rituals durch ambivalente Bewertungen, wie sie in den Dialogen der Protagonisten dargelegt wurden. Die christliche Überlieferung jedoch gründet auf einer endgültigen Bezichtigung — und der sie vorbringt, verbindet damit offenbar das Interesse, sich selber aus der Verantwortung zu stehlen. Sigrun Anselm hat diese ethische Strategie prägnant beschrieben: „Gott hat sich in seinem Sohn geopfert — die Juden haben Christus ermordet. In jedem Falle aber gilt: Die Christen tragen keine Verantwortung für das Opfer, doch sind sie die Adressaten von dessen sühnender Wirkung, deren sie teilhaftig werden kraft ihres Glaubens.“ [6]

Bereits im ersten Brief an die Thessaloniker spricht Paulus — es handelt sich um eines der ältesten überlieferten Zeugnisse des Christentums — von „den Juden“, welche „Jesus den Herrn [...] getötet“ hätten (1 Thess 2, 14-16), — und nicht von einer bestimmten Gruppe der Juden, den Pharisäern oder den Hohenpriestern. Die später entstandenen Evangelien haben dann den Vorwurf des Gottesmordes — wie Karl-Erich Grözinger festhält — in den „Rahmen ihrer Jesusdarstellungen, insbesondere in die Passionsgeschichte einbezogen. Gerade in den letzteren ist die zunehmende Belastung der Juden und die Entlastung der römischen Behörden deutlich zu erkennen.“ [7] Der römische Statthalter Pontius Pilatus etwa erscheint von Evangelium zu Evangelium in stets milderem Licht. Hier zeigt sich ein dem Christentum eigentümlicher Mechanismus in der Abstimmung aufs Gewaltmonopol — er bahnt die friedliche Koexistenz des imaginären Staats mit dem realen an: antijüdische und prorömische Tendenzen steigern sich wechselseitig; je deutlicher die Juden als Jesusmörder gekennzeichnet werden, desto entschiedener kann der römische Staat exkulpiert, desto versöhnlicher den jeweiligen Machthabern gegenübergetreten werden.

Satan wird dazu ausersehen, die Juden zu negativen Opferpriestern zu weihen. Es ist gerade die Motivierung des Geschäfts zwischen Judas und den Hohenpriestern, die im Lukas- und im Johannes-Evangelium seinen Auftritt erfordert: Der Satan „ergriff Besitz“ von Judas (Lk 22, 3), er „fuhr in ihn“ (Joh 13, 27) — so verkaufte er Jesus an die Hohenpriester. Die Stigmatisierung der Juden läßt den Teufel als eine kontinuierliche Erscheinung und einen substantiellen Glaubensinhalt überhaupt erst notwendig werden [8]. Während er im Alten Testament nur sporadisch auftaucht, erhält er im Neuen eine gänzlich neue Mission, die seine ständige Präsenz erfordert: er fungiert im Grunde als Präfiguration des Rassebegriffs. Am deutlichsten werden die Juden im späten Johannes-Evangelium gekennzeichnet: eine kompakte Gruppe wird konstruiert, die von Jesus und den Jüngern sich scharf abgrenzen läßt — und wenn Satan hier in Judas fährt, so ist dies keine punktuelle Dämonisierung mehr, sondern ganz einfach die schnellste Art und Weise, Judas zum Juden — ja zur Personifikation des Judentums — zu machen. Denn wie sagt Jesus hier zu „den Juden“: „Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an.“ (Joh 8, 44).

Theodor Reik sieht in Judas „das alter Ego des Erlösers, das einer Ichspaltung entstammt und von Schuldbewußtsein geboren wurde“. Als „Sündenbock“ vereinige er alle als peinlich empfundenen Impulse auf sich und entlaste so die Jünger und Jesus. „Judas erscheint (...) als das genaue Gegenstück Christi (...) Jesus vertrieb die Schacherer und Zöllner aus dem Tempel, sein späterer Vertreter mußte den Vorwurf des Diebstahls tragen.“ [9] Tatsächlich wächst Judas eine zentrale Rolle zu bei der Darstellung des Judentums und seiner Differenz zu Christus und den Jüngern: „das christliche Altertum und Mittelalter bekennt sich zu Christus und projiziert seinen Haß gegen Jesus auf den bösen Judas. In beiden Projektionsschöpfungen aber wird der Anteil der unbewußten Reue und des Schuldbewußtseins ersichtlich. Beide setzen also eine ambivalente Einstellung gegen das als Gott verehrte Wesen als ursprünglich voraus; gerade die Projektion beweist den Gefühlskonflikt.“ [10] Worin aber geraten die Christen in Konflikt? Woher kommt die ambivalente Haltung zu Jesus? Für Theodor Reik liegt die Antwort ähnlich wie für Freud im heimlichen Wunsch, den Vatergott zu stürzen. Der Anschlag auf die Händler im Tempel hätte demnach ursprünglich dem Hausherrn selbst gegolten und wäre dann auf die Händler abgelenkt worden. Wenn dies zutrifft, bleibt noch immer die Frage, warum gerade die Händler den Haß wie magnetisch auf sich ziehen konnten — und was Judas mit ihnen verbindet.

Ehe das Lamm geopfert wird, muß es gekauft werden — zusammen mit Satan fährt ein anderer Teufel in Judas: „Darauf ging einer der Zwölf namens Judas Iskariot zu den Hohenpriestern und sagte: Was wollt ihr mir geben, wenn ich euch Jesus ausliefere? Und sie zahlten ihm dreißig Silberstücke.“ (Mt 26,14f.) Das sei „der Preis, den er den Israeliten wert war“ (Mt 27,9). In der Gestalt von Judas kehren offenbar die von Jesus aus dem Heiligtum vertriebenen Händler in den Tempel zurück und üben mit ihren ureigenen Mitteln Rache an Jesus — mit Geld. Das späte Johannes-Evangelium zeigt dabei von Anfang an eine deutlicher ausgeprägte Fixierung auf das Tauschmittel: allein der Auftritt von Jesus im Tempel mit seiner Aktion gegen die Händler wird hier mit merkbarer Betonung als Austreibung des Geldes dargestellt und als wahre Action-Szene vor Augen geführt. Als Verwalter der Kasse der Jünger ist Judas in diesem Evangelium von vornherein mit Geld in Zusammenhang gebracht und damit verdächtig. Wenn er zu bedenken gibt, das Öl, mit dem Maria Magdalena die Füße von Jesus salbt, doch lieber zu verkaufen und das Geld an die Armen zu verteilen, wird der Zweck seines Ansinnens sogleich bestritten, und er selber durch das Mittel, das Geld, definiert: „Das sagte er aber nicht, weil er ein Herz für die Armen gehabt hätte, sondern weil er ein Dieb war; er hatte nämlich die Kasse und veruntreute die Einkünfte.“ (Joh 12,4-6; siehe auch Joh 13,29) In dem Moment, da der Verräter seine Tat bereut, vermag er sich im Matthäus-Evangelium vom Geld zu emanzipieren: der Vertreibung der Händler aus dem Tempel nacheifernd, kehrt Judas zu den Hohenpriestern zurück und wirft die Silberstücke in den Tempel — „dann ging er weg und erhängte sich.“ (Mt 27,3-5; hier zögern selbst die Hohenpriester, das Geld anzunehmen und sagen: „Man darf das Geld nicht in den Tempelschatz tun; denn es klebt Blut daran.“ Mt 27, 6-8). Die Möglichkeit, das Geld abzuschütteln und seine Tat zu sühnen, erhält Judas in den anderen Evangelien nicht mehr.

Im Gegensatz zu den Göttern der antiken Welt und dem Gott des Judentums scheint der christliche Gott nicht mehr imstande, den Reichtum unmittelbar zu repräsentieren — zu abstrakt ist dieser Reichtum geworden, zu allgemein die Geldform, die er angenommen hat. So benötigt er als Vermittlung eine neue Form des Opfers: er adoptiert gleichsam das Opfertier, damit dieses Wesen als Gottes Sohn das Unmögliche möglich machte. Es genügt nicht, die Händler aus dem Tempel zu vertreiben und den Reichtum im allgemeinen abzuwerten: Gott selbst muß den Händlern zum Opfer fallen, um das Schicksal des konkreten Reichtums (der für das Bedürfnis geschaffenen Lebensmittel), der immerzu dem Geld geopfert wird (sobald etwa Zinsen zurückgezahlt werden müssen), glaubhaft zu verkörpern. Und darum bedarf es des unheiligen Schlächters, der die Abstraktheit des Geldes auf sich nehmen muß wie eine unsühnbare Schuld.

Der Zusammenhang zwischen der Vertreibung der Händler und der Kreuzigung des Austreibers blieb freilich hypothetisch — ebenso die Identifikation des Judentums mit dem Geld. Der Antisemitismus behielt gleichsam Möglichkeitsform. Das Neue Testament war im wesentlichen abgeschlossen, ehe die Krise des römischen Reichs begann, die Städte an Bedeutung verloren, der Handel nachließ und die Geldwirtschaft verebbte. Als aber an die Stelle des römischen Reichs das „heilige römische“ — das „Sacrum Imperium“ — trat, die Städte wieder an Bedeutung gewannen, der Handel zusehens florierte und die Geldwirtschaft überhaupt erst in Schwung kam, entstand im Christentum der merkwürdige Zwang, die Phantasmagorie einer jüdischen Racheaktion gegen Jesus Christus immerfort und immer konkreter sich auszumalen und vorzuspielen.

Der Zusammenhang des Geldes, mit dem das Opfer gekauft wird, und des Blutes, das man ihm sodann abzapft, entwickelte sich dabei zum Scharnier, mit dem der christliche Opferkult im Prozeß der ursprünglichen Akkumulation funktional gemacht werden konnte: dieser phantasierte Zusammenhang bildet die Grundstruktur von Blutbeschuldigung, Ritualmordlegenden und Passionsspielen und lieferte die wichtigsten Motive für die Pogrome. Mit seiner Hilfe wurde auch die Metapher des ‚Aussaugens‘ praktikabel: die Aneignung des Reichtums in Form des Zinses kann mit der phantasierten Tötung von Christus bzw. von Christen gekoppelt werden. Die Juden — signalisiert die antisemitische Dramaturgie — ‚saugen‘ die Christen aus, sie ernähren sich von ihrem ‚Blut‘. Blut wird zum heiligen Saft der Akkumulation, es fungiert als christliches Pseudonym für die Arbeit, die sich in Geld verwandelt.

Unter diesem Pseudonym konnten Christen sich mit Christus identifizieren — das Blut von Jesus verwandelte sich in ihr eigenes, und der Gottesdienst wurde zum Dienst an der ‚Rasse‘ — ihrer ‚Rasse‘, während die der anderen vom Teufel markiert wurde. Indem das Christentum die Juden zur Taufe zwang, trieb es diese Schlußfolgerung aus sich selbst hervor: Überall dort, wo Juden dem Druck nicht standhalten konnten und auch nicht bereit waren zu sterben — und sich also taufen ließen, wurde die christliche Blutmetapher als abendländischer Rassebegriff ausgeprägt. So zuerst im Spanien der Reconquista und der Inquisition: der Fetisch der Reinheit des Blutes — limpieza de sangre — richtete sich gegen die Neuchristen, gegen die getauften Juden, seien es es nun überzeugte Conversos oder heimlich am Judentum festhaltende Marranen. Seine Wirkungsmacht besaß er zunächst vor allem im Bürgertum der Städte — erst in zweiter Linie bei den Ritterorden.

In Deutschland reformierte die Reformation vor allem auch den Antisemitismus: sie arbeitete im Begriff des Blutes den neuen Geist des Kapitalismus heraus. Noch in Luthers 1520 publiziertem Sermon von dem Wucher werden die Juden mit keinem Wort erwähnt — doch die Erstausgabe dieser Schrift zeigt auf dem Titelblatt einen Wucherer mit relativ großer, gebogener Nase und einer Armbinde, auf der hebräische Schriftzeichen zu erkennen sind. Während Luther zu dieser Zeit aber noch bereit war, die Juden zu verteidigen (so in seiner Schrift von 1523 Daß Jesus ein geborener Jude sei), ging er später dazu über, die Assoziation des Wuchers mit dem Judentum bis ins kleinste phantasierte Detail auszuformulieren — und dies geschah zweifellos in der Absicht, es den deutschen Junkern recht zu machen und Bauern und Handwerker auf sie einzuschwören. Luthers Antisemitismus ist höchst aktiver Natur: der ganze Ton seiner Schrift läuft auf praktisches Tun hinaus — sein „treuer Rath“, wie denn nun mit den Juden zu verfahren wäre, lautet: „Erstlich, daß man ihre Synagogen oder Schule mit Feur anstecke [...] damit Gott sehe, daß wir Christen seien. Zum andern, daß man auch ihre Häuser desgleichen zerbreche und zerstöre [...] Dafur mag man sie etwa unter ein Dach oder Stall thun, wie die Zigeuner, auf daß sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserm Lande [...] sondern im Elend und gefangen.“ Des weiteren empfiehlt Luther, man solle den Juden „das Geleit und Straße ganz und gar verbieten, denn sie haben nichts auf dem Lande zu schaffen“, — und natürlich soll ihnen der Wucher verboten werden „und nehme ihnen alle Baarschaft und Kleinod an Silber und Gold“. (S.234) [11] In einer frühen Konzeption der Zwangsarbeit sieht Luther schließlich vor, daß man unter den solchermaßen gefangen gehaltenen Juden „den jungen, starken Juden und Judin [...] Flegel, Axt, Karst, Spaten, Rochen, Spindel“ in die Hand geben soll — „und lasse sie ihr Brot verdienen im Schweiße ihrer Nasen“. Doch er selbst ist skeptisch über den Erfolg seines Arbeitslagers; er glaubt nicht recht, daß sich durch solche Maßnahmen das Wesen der Juden ändern lasse — beteuert er doch, er habe gar nicht vor „die Juden zu bekehren, welchs eben so möglich ist, als den Teufel zu bekehren (..) Summa es sind junge Teufel, zur Hölle verdammt“ (S.276); und er würde an dieser Stelle wohl aus dem Arbeitszwangssystem bereits eine Vision des Vernichtungslagers entwickeln, hätte er die Mittel dazu und wäre da nicht die nächstliegende Möglichkeit offen, die Vertreibung: „Besorgen wir uns aber, daß sie uns möchten an Leit, Weib, Kind, Gesind, Viehe Schaden thun, wenn sie uns dienen oder arbeiten sollten, weil es wohl zu vermuthen ist, daß solch edle Herrn der Welt und giftige, bitter Würme, keiner Arbeit gewohnet, gar ungern sich so hoch demüthigen würden unter die verfluchten Gojim: so laßt uns bleiben bei gemeiner Klugheit der andern Nation, als Frankreich, Hispanien, Böhemen und mit ihnen rechen, was sie uns abgewuchert; und darnach gütlich getheilet, sie aber immer zum Land ausgetrieben. [...] Drumb immer weg mit ihnen.“ (S.238)

In dem Arbeitslager, das Luther für die Juden sich ausdenkt, kündigt sich deutlich ein neues Ethos an — es mobilisiert die Arbeit gegen das Geld, gegen den Wucher, gegen ‚den Juden‘. Im Unterschied zu Calvinisten und Puritanern, die das Geld gemeinsam mit der Arbeit aufwerten, hält Luther an der negativen Transsubstantiation des Christentums fest: der Identifikation der Juden mit dem zinstragenden Kapital, der abstrakten Seite der Warenproduktion. Seine Bibelübersetzung transferiert in diesem Sinn sogar den Ausdruck „Blutgeld“ ins Alte Testament — an der Stelle, da der Prophet Amos die Oberschicht in Israel anklagt: „Darumb / weil jr die Armen vnterdrückt / vnd nemet das Korn mit grossen lasten von jnen / So solt ir in den Heusern nicht wonen / die jr von Werkstücken gebawet habt / vnd Wein nicht trincken / den jr an den feinen Weinbergen gepflantzt habt. Denn ich weiß ewr vbertretten / des viel ist / vnd ewer sünde / die starck sind / Wie jr die Gerechten drenget / vnd Blutgelt nemet.“ (Am 5,11). Diese Übersetzung, die als Ausgabe letzter Hand gilt, erschien 1545 in Wittenberg, zwei Jahre nach der Schrift gegen die Juden; 11 Jahre davor, in der ersten Ausgabe seiner Bibel (Wittenberg 1534), hatte Luther die Stelle noch ganz anders übertragen: statt „Blutgeld“ heißt es hier „Geschencke“. [12]

In der Mobilisierung der Arbeit berührt sich der modernisierte Judenhaß mit dem Feindbild des „Zigeuners“, das als Negativ des Arbeitsethos im 16. Jahrhundert ausgeprägt worden ist: „wie die Zigeuner“, sagt Luther, solle man die Juden behandeln und sie „unter ein Dach oder Stall thun, auf daß sie wissen, sie seien nicht Herrn in unserm Lande [...] sondern im Elend und gefangen.“ Als negative Abspaltung des neuen Ethos und der neuen Rationalität der Arbeit kann wohl auch das Phantombild der Hexe (und des Zauberers) gelten — das in Luthers Predigten ebenfalls breiten Raum einnimmt: mit ihm soll personifiziert und haftbar werden, was sich dem Zugriff des neu formierten Arbeitsparadigmas entzieht, ja ihm zuwiderhandelt — vor allem unerklärliche und unbeeinflußbare Phänomene, die sich im Stoffwechsel mit der Natur einstellen. Wie die Juden werden die Zigeuner und Hexen stets in engsten Zusammenhang mit dem Teufel gebracht — jene als „Teufelsbrut“, diese als „Teufelshuren“ gekennzeichnet. Im Unterschied jedoch zu den Juden werden weder Hexen noch Zigeuner systematisch mit dem sich selbst zeugenden Geld identifiziert. Und wie die Entwicklung der Geldwirtschaft der modernen Organisation der Arbeit (deren Abstraktion von den Produktionsmitteln und -bedingungen) vorausging, so setzte die massenhafte Verfolgung von Hexen und Zigeunern erst nach den ersten Wellen der Vertreibung und Vernichtung der Juden ein. Nicht selten wurden dabei Methoden und Begriffe der Judenverfolgung übernommen: die Frauen etwa wurden verteufelt, indem man ihnen unterstellte, daß sie einen Hexensabbat in einer Hexensynagoge feierten.

Zigeuner- und Hexenverfolgung verweisen zum andern bereits auf die Ausprägung des Rassismus gegenüber der kolonial unterworfenen Bevölkerung. Die Stigmatisierung der Schwarzen und der Indianer, der Asiaten und der Slaven als spezifische ‚Rassen‘ — die nicht selten ebenfalls mit dem Begriff des Teufels operiert — diente dazu, die Dominanz der Eroberer auf den Körper und Geist der Eroberten zu projizieren, deren Arbeitsproduktivität es jedoch gleichzeitig einzuschätzen galt. „Den Opfern des Rassismus wird nicht ihre Überlegenheit, sondern ihre Unterlegenheit vorgeworfen. Nicht gegen ihre Allmacht, sondern gegen ihre Ohnmacht wendet sich der Rassismus. Jüdinnen und Juden hingegen gelten als allmächtig. [...] Ihre Identifikation mit der abstrakten Seite der kapitalistischen Warenwirtschaft, mit dem Wert, macht sie zur Personifikation des globalen Prinzips subjektloser Herrschaft.“ [13] Aber die durch den Sklavenhandel in Bewegung geratenen Bewohner fremder Erdteile erscheinen dem christlich-abendländischen Bewußtsein kaum weniger bedrohlich: ihre Unheimlichkeit gewinnen sie darin aber nicht wie die Juden als Repräsentanten des Marktes, als Verkörperungen des Wertes, sondern im Gegenteil als die willenlosen Objekte des Marktes, als Verkörperungen des Gebrauchswerts — als Natur.

3. Die ursprüngliche Akkumulation des Antisemitismus

Bei den Lehrmeistern und Predigern der Kirche zeigte sich früh schon ein regelrechter Horror vor dem sich selbst vermehrenden Geld, das sich nun in ganz anderen Dimensionen des Wachstums bewegen konnte als noch in der Antike. Mit Verboten und Regelungen versuchte man, die Funktion des Geldes auf den Austausch mit Gebrauchswerten, also die unmittelbare Bezahlung von Waren, zu beschränken und damit Zinsnahme, ‚Wucher‘, zu verhindern. Beim Leihen von Geld durften demnach Christen keinen Zins verlangen, weil hier keine Sachgüter produziert oder getauscht werden. Nicht verboten aber wurde das Verleihen von Geld gegen ein Pfand — ein Eigentum in Gestalt von Grund und Boden etwa, das als Entschädigung für das Geld und bis zur Rückzahlung genutzt werden durfte. Mit dieser christlich abgesegneten Methode des Wucherns gelang es der Kirche, den Klöstern und anderen frommen Körperschaften immensen Reichtum anzuhäufen. Aber auch für Christen, die unmittelbar das Geld wuchern ließen, mußte Abhilfe geschaffen werden.

Jacques Le Goff hat dokumentiert, wie eng die Imaginationen von Hölle und Fegefeuer mit dem Schrecken, den die Akkumulation von Geld hervorrief, zusammenhingen [14]. Fenus pecuniae, funus est animae (Des Geldes Zinsgewinn ist der Seele Tod), sagte Papst Leo I im 5. Jahrhundert. In den späteren Schriften und Predigten erhielt dieser Seelentod einen besonderen Raum: die Hölle. An einer exemplarischen Predigt von Jakob von Vitry läßt sich verfolgen, wie die Geld-Akkumulation buchstäblich das Material für die Hölle liefert: das wachsende Geld setzt sich unmittelbar um in wachsende Höllenqual — „Gott verfügte, daß drei Menschenarten sein sollen: die Bauern und die anderen Arbeiter, um das Überleben der übrigen zu sichern, die Ritter, um sie zu verteidigen und die Geistlichen, um sie zu regieren; aber der Teufel setzte eine vierte Art ein: Die Wucherer. Da sie nicht an der Arbeit der Menschen teilhaben, werden sie nicht bei den Menschen, sondern bei den Teufeln bestraft. Denn der Menge Geldes, das sie durch Wucherzins erwirtschaften, entspricht die Menge Holz, die dem Höllenfeuer aufgelegt wird, in dem sie verbrennen sollen.“ [15] Doch während für die christlichen Wucherer sogar das Fegefeuer erfunden wurde, um sie vor der ewigen Verdammnis zu retten, beginnt für die jüdischen die Hölle bereits auf Erden: der Antisemitismus säkularisiert gewissermaßen die Höllenqualen.

Manchmal kamen die von der obskuren Fruchtbarkeit des Geldes verstörten, christlichen ‚Intellektuellen‘ sogar dem Tauschwert ein wenig auf die Spur, von der sie ihr Gottesbegriff freilich wieder wegzulocken verstand: so etwa, wenn sie den Wucher als Diebstahl begriffen, und zwar als Diebstahl an der Zeit — da diese Zeit aber im Unterschied zu den vom Menschen produzierten Gütern Gott gehöre, sei der Wucherer ein ganz besonders großer Sünder. „So leiht der Wucherer dem Schuldner nicht, was ihm gehört, sondern nur die Zeit, die Gott gehört — sed tantum tempus, quod dei est.“ (Thomas von Chobham) [16] Aber das bevorzugte Mittel, den Horror vor dem sich selbst zeugenden Geld zu bannen, war die Identifikation des Geldes mit dem Judentum: das real Abstrakte, das sich vom menschlichen Tun verselbständigt hatte, konnte in dieser Weise wieder menschliche Konkretheit erhalten: die des Unmenschen. Wucherer und Jude wurden Synonyme. In den Schriften des 12. Jahrhunderts ist zum ersten Mal vom „jüdischen Wucher“ die Rede. Und der geistige Führer des Zweiten Kreuzzugs — der wie der Erste vor allem auch ein Kreuzzug gegen das Judentum war —, Bernhard von Clairvaux, ersetzte in seinen Predigten das Geldverleihen gegen Zinsen einfach mit dem Wort Judaisieren, lat. iudaicare.

Wucher nennt man landläufig einen besonders hohen Zins. Verglichen mit dem späteren Zinsfuß aus der Welt des Manufaktur- und Industriekapitals stieg der Zins in der alten Welt tatsächlich oft in extreme Höhen — ihm haftete etwas Willkürliches an: die jeweilige Höhe des Zinses differierte stark von Land zu Land und innerhalb jedes Landes. Es findet sich „in keinem Land ein allgemeiner Zinsfuß“ und „grosse Verschiedenheit in Ansehung der Zinsen und der Begriffe vom Wucher“: Marx hat für den dritten Band des Kapitals die verschiedenen ‚Zinsfüße‘ zusammengetragen — „Zu Karls des Grossen Zeiten galt es für wucherlich, wenn 100% genommen. zu Lindau am Bodensee, 1344, nahmen einheimische Bürger 216 2/3 %. In Zürich bestimmte der Rath als gesetzlichen Zins 43 1/3 %. In Italien mußten zuweilen 40% gezahlt werden, obgleich vom 12-14 Jhh. der gewöhnliche Satz nicht 20% überschritt. Verona ordnete als gesetzlichen Zins an 12 ½ %. Friedrich II in seiner Verordnung 10%, aber dieß bloß für die Juden. Für die Christen mochte er nicht sprechen. 10% im rheinischen Deutschland schon im 13. Jahrhundert das Gewöhnliche.“ [17] War demnach dem Eigentümer von Wucher- oder Kaufmannskapital ein im Vergleich zum modernen Industriekapitalisten wesentlich größerer Handlungsspielraum gegeben? Hat er selbst bestimmen können, wie sehr er den Käufer oder Schuldner ausbeuten wollte? Wäre also der Wucherer oder der Handelsherr noch nicht als Charaktermaske des Kapitals, sondern als moralisch autonom handelndes Individuum zu sehen? Diese Sichtweise aber würde ausklammern, daß der Souverän — der Feudalherr oder der Stadtrat — von den Inhabern des Geldes und den Verkäufern der Waren seine Abgaben verlangte, die wiederum im Gutdünken des jeweiligen Herrn lagen — und wie man weiß, hatten z.B. Juden besonders hohe Abgaben zu leisten, um überhaupt leben zu dürfen.

Das alte Wucherkapital eignete sich in der Form des Zinses — wie das Kaufmannskapital in der des Preises — allen Überschuß über die Subsistenzmittel der Produzenten an (was etwa den Betrag des späteren Arbeitslohns ausmacht) — also, von Staatsabgaben abgesehen, allen Mehrwert — , während der Zins im modernen Sinn nur einen Teil des Mehrwerts bildet, der hier vor allem in Form des Profits angeeignet wird. (Marx bezeichnet es darum als „höchst abgeschmackt“, den Zinsfuß des alten Kaufmanns- und Wucherkapitals mit dem der industrialisierten Zeit zu vergleichen. [18]) „Der Wucherer aber kennt durchaus kein Maaß ausser der Leistungsfähigkeit oder Widerstandsfähigkeit der Geldbedürftigen.“ [19] Der Zins der vorindustriellen Welt drückt demnach die Rate der ‚normalen‘ Ausbeutung in Geldform aus, gewinnt jedoch im Unterschied zum modernen Zinsfuß den Anschein einer abnormen Proportion, wird als unverhältnismäßiger Expropriationsgrad erfahren. Gegen diese besondere Sparte oder spezialisierte Funktion der Aneignung richtet der unmittelbare Produzent, der zünftige Handwerker, der freie oder unfreie Bauer, seinen Zorn; auf diesen Schauplatz der Kapitalakkumulation konzentriert er sein Ressentiment und vermeidet so die direkte Konfrontation mit Handelskapital und Feudalherrn — so formiert sich die mittelalterliche ‚Volksgemeinschaft‘, bestehend aus Handelskapital, Feudalherrn und unmittelbaren Produzenten, gegen das ‚jüdische Wucherkapital‘.

Tatsächlich ist aus der Perspektive des einzelnen Produzenten die Exploitierung durch das Kaufmannskapital nicht konzentriert wie jene durch das Wucherkapital. Denn die einzelne Ware sich nicht leisten können, weil ihr Preis zu hoch ist, erlaubt immerhin noch die Aussicht, irgendwo eine billigere des gleichen Gebrauchswerts zu erstehen oder auf sie zugunsten anderer Gebrauchswerte überhaupt zu verzichten; während der Zwang, das Geld als Zins abzuliefern, womöglich bedeutet, sich überhaupt keine Ware mehr leisten zu können. Gegenüber der ‚zerstreuten‘ Ausbeutung durch das Kaufmannskapital gilt darum das Geldgeschäft, in dem die Ausbeutung fukussiert erscheint, als Kapital par excellence. Außerdem vermittelt der Warenverkäufer Gebrauchswerte, was — bei aller Preis-Prellerei — als Arbeit interpretiert werden mag. „Dagegen stellt sich im Zinstragenden Capital der selfreproducing Charakter des Capitals, der sich verwerthende Wert, die Production des Mehrwerths, als occulte Qualität rein dar.“ [20] Für solchen Okkultismus ist als Medium der Antisemitismus wie geschaffen: vor den Augen der staunenden Christenheit ‚materialisiert‘ sich darin das Wucherkapital im ‚jüdischen Blutsauger‘.

Das Medium machte unsichtbar, daß die Juden auch auf diesem Nebenschauplatz der Akkumulation de facto keineswegs eine Monopolstellung besaßen. Nachdem ihnen ein Beruf nach dem anderen verboten worden war, erwuchs ihnen gerade hier seit den Kreuzzügen — die das Christentum in die Kunst der Kapitalakkumulation einführten — eine mächtige christliche Konkurrenz. Man verstand es, das Wucherverbot der Kirche zu umgehen — wie ihrerseits die Scholastiker des 13. Jahrhundert nach Möglichkeiten suchten, das Zinsnehmen und das Geldgeschäft für Christen doch irgendwie zugänglich zu machen, so daß also Kapital in christlichen Händen akkumulieren konnte und nur die jüdischen schmutzig schienen. Denn stigmatisiert als diejenigen, die Christus aus dem Tempel vertrieb und die an ihm und an der Christenheit Rache übten, die einzigen mithin unter den Völkern in Europa, die nicht aufgingen in der großen christlichen Gemeinschaft, sondern ihr sich widersetzten, eigneten sie sich wie keine andere gesellschaftliche Gruppe zur Versinnlichung des Geldes, das nicht aufging in der christlichen Liebe und sich der Subsistenzwirtschaft widersetzte.

Und immer wenn die Produzenten zu feige sind, ihren Herrn entgegenzutreten, richtet ihr Haß sich auf die Stigmatisierten. Die Feigheit hat systematischen Charakter: sie beruht auf einem Fetisch, der vorgibt, alle Fetische aufzulösen — das real Abstrakte, das mit dem Austausch in die Welt gekommen ist, als Konkretes zu überführen, den Tauschwert als Juden. Die Juden werden eben nicht bloß als Repräsentanten des Marktes angesehen, ihr Erscheinungsbild soll vielmehr das undurchschaubare und ungreifbare Marktgeschehen durchschaubar und greifbar machen. Ihre Vertreibung, ihre Vernichtung bleibt moralisch doppeldeutig, heuchlerisch, weil es sich niemals nur um soetwas wie Aberglauben, ein eingeschränktes Erkenntnisvermögen, sondern immer auch um eine moralische Entscheidung handelt: die Handwerker und Bauern des 14. und 15. Jahrhunderts, die — als die Akkumulation ins Stocken geriet, das Bevölkerungswachstum in Hungersnot umschlug — die Ghettos in ihren Städten stürmten und die Juden verfolgten und auf die Scheiterhaufen schleppten, wollten wohl daran glauben, daß sie den Wucher, den Zins selbst vertreiben und verbrennen. Doch eben auf diese Weise eigneten sie sich mit vollem Bewußtsein das Geld der Vertriebenen und Verbrannten an. Die moralische Zweideutigkeit geht einher mit einem Manichäismus des Geldes, der es erlaubt, zwischen einer guten, konkreten und einer schlechten abstrakten Seite der Warenproduktion zu unterscheiden, die schlechte mit den Juden zu identifizieren, die gute aber für sich selbst einzubehalten. Als man in Wien nach dem Sturm auf das Ghetto im Jahre 1421 — der mit dem Vorwurf einer Hostienschändung von allerhöchster Stelle legitimiert worden war — über zweihundert Juden verbrannte, wühlten — wie berichtet wird — die Christen noch in ihrer Asche, um Gold und Silberstücke zu finden. [21]

4. Die politische Ökonomie der Toleranz

Bereits bei Calivinisten und Puritanern hatte das Geld seinen magischen Charakter weitgehend verloren. In einer Art Verinnerlichung des absolutistischen Staats band man seine Bedeutung an Gottes Vorsehung, koppelte es aber zugleich ab von den Bedürfnissen des Geldbesitzers. Das Geld wurde also im Gegensatz zur ursprünglichen christlichen Religiosität als Selbstzweck anerkannt — allerdings insgeheim, und niemand geringerer als Gott selbst war es nun, der den Selbstzweck heiligte. Die innerweltliche protestantische Askese wirkte, so Max Weber, „mit voller Wucht gegen den unbefangenen Genuß des Besitzes, sie schnürte die Konsumtion, speziell die Luxuskonsumtion ein. Dagegen entlastete sie im psychologischen Effekt den Gütererwerb von den Hemmungen der traditionalistischen Ethik, sie sprengte die Fesseln des Gewinnstrebens, indem sie es nicht nur legalisierte, sondern [...] direkt als gottgewollt ansah. Der Kampf gegen Fleischeslust und das Hängen an äußeren Gütern war, wie neben den Puritanern auch der große Apologet des Quäkertums, Barclay, ausdrücklich bezeugt, kein Kampf gegen rationalen Erwerb, sondern gegen irrationale Verwendung des Besitzes.“ [22] In Übereinstimmung mit dem Alten Testament sah der Standpunkt der Askese „zwar in dem Streben nach Reichtum als Zweck den Gipfel des Verwerflichen, in der Erlangung des Reichtums als Frucht der Berufsarbeit aber den Segen Gottes.“ [23]

In der Neubewertung des Geldes aber unterschieden sich Calvinisten und Puritaner wesentlich von Luthers Protestantismus, der nicht zuletzt durch die enge Anlehnung an den deutschen Feudaladel die Dämonisierung des Tauschwerts weiterhin betrieb. Während bei Luther das neue Arbeitsethos dem Antisemitismus sogar neuen Schwung verleihen konnte, mußten sich innerhalb des calvinistischen und puritanischen Christentums zentrale Motive des Judenhasses erübrigen. Die Ermahnungen eines Benjamin Franklin in seinem Vaterunser des Geldes von 1748 legen dies etwa nahe: „Bedenke, daß die Zeit Geld ist [...] Bedenke, daß Kredit Geld ist [...] Bedenke, daß Geld von einer zeugungskräftigen und fruchtbaren Natur ist [...] Wer ein Mutterschwein tötet, vernichtet dessen ganze Nachkommenschaft bis ins tausendste Glied. Wer ein Fünfschillingstück umbringt, mordet alles, was damit hätte produziert werden können: ganze Kolonnen von Pfunden Sterling.“ [24]

Bei Lessing und den besten Vertretern der deutschen Aufklärung wird diese vom Puritanismus gepflegte allgemeine Hochschätzung des Reichtums beibehalten, aber gleichzeitig die innerweltliche Askese verneint: das Geld erscheint hier nicht mehr als von Gott geheiligter Selbstzweck, sondern als Mittel, um in die Bildung zu investieren. Und die Bildung ist es, die von den ‚Vorurteilen‘ befreit und die Menschen einander näherbringt, ohne sie identisch zu machen. Gerade diese nüchterne, nicht dämonisierende Einschätzung des Reichtums verstellt jemandem wie Lessing aber den Blick auf die Triebfeder des Antisemitismus — auf das, was dessen Gefährlichkeit wesentlich ausmacht und unterscheidet von anderen ‚Vorurteilen‘: die Dämonisierung des Reichtums in Gestalt des Juden.

Der Reichtum, verstanden als ein beliebig anwendbares und fungibles Werkzeug, das von der Vernunft nur in die Hand genommen zu werden braucht, ist ein signifikantes Vorurteil der Aufklärung; es entspricht einem gegenüber der ursprünglichen Akkumulation wesentlich veränderten Verhältnis von Staats- und Warenform. Was Puritaner und Calvinisten ihrem alten Gott zuschreiben, tritt schließlich als sachliche Kompetenz des neuen Staates in Erscheinung. „Das merkantilistische System des Absolutismus — und noch dessen Metternichsches Auslaufmodell — dürfte den Untertanen wie den Bürokraten selber durchaus als Rationalisierung des Marktes, als Beherrschung des Tauschwerts, erschienen sein. Nimmt aber der Staat das Geschehen auf dem Markt in die Hand, dann wird niemand mehr benötigt, dessen undurchschaubare ‚irrationale‘ Mechanismen als Gestalten des Bösen zu verkörpern [...]. Insofern beruhte die Toleranz auf einer ganz bestimmten, gleichsam transitiven Vernunft: auf der Rationalität des absolutistischen Staatsgebildes. Von der Seite des Staates bestand vor allem das Interesse, die Juden aus der Isolation der reinen Finanzspähre — in die man sie einst verbannt hatte — hinauszuführen und als Investoren für produktives Kapital zu gewinnen. Dies aber setzte die rechtliche Gleichstellung mit allen anderen Bürgern zumindest in einigen Bereichen voraus. Auf der anderen Seite aber konnte in dieser Geburtsphase des Industriekapitals offenbar ein von Antisemitismus unverstelltes, ein revolutionäres Bewußtsein relativ spontan entstehen: die aufständischen Massen von 1789, von 1830 und 1848 identifizierten durchwegs Staat und Kapital.“ [25] Hinzu kommt, daß mit dem vielfach vom Souverän eingeleiteten und kommandierten Übergang des Kaufmanns- und Wucherkapitals in ‚produktives‘ Manufaktur- und Industriekapital der extreme Zins herabsinken muß: er fällt, wie Fernand Braudel konstatiert, „in Europa vom 15. bis zum 18. Jahrhundert fast stetig“, ist etwa „in Genua um 1600 lächerlich niedrig“ und geht „in Holland im 17. Jahrhundert und in der Folge auch in London aufsehenerregend zurück“. [26] Auch Marx hebt die Niederlande — eine der Hochburgen des Calvinismus — als Beispiel für die „Niedrigkeit des Zinsfusses“ im 17. Jahrhundert hervor und spricht geradezu von einem „Musterland der ökonomischen Entwicklung“: hier „hatte sich mit dem Handel und der Manufactur der commercielle Credit und der Geldhandel entwickelt und war das Zinstragende Capital dem industriellen und commerciellen Capital durch die Entwicklung selbst untergeordnet worden. [...] Das Monopol des altmodischen Wuchers, der auf der Armuth basirte, war dort von selbst über den Haufen geworfen.“ [27] Während Braudel und den meisten anderen Sozialhistorikern und Ökonomen der Hinweis auf den wachsenden ‚Überschuß‘ an Geld genügt, um das Sinken der Zinsrate zu erklären [28], spricht Marx von einer grundsätzlich geänderten Form des Kapitals: Der Zins ist demnach nicht mehr die einzige Methode, mit der sich das Kapital den Überschuß über die Subsistenzmittel der Produzenten aneignet; nicht wenige Produzenten sind bereits zu Lohnabhängigen geworden, und in dieser Form der Abhängigkeit bildet der Zins nur einen gewissen Teil des Mehrwerts, der andere wird als Profit kassiert. [29] Der Zins drückt damit nicht mehr die Rate der ‚gesamten‘ Ausbeutung in Geldform aus, und verliert weitgehend den Anschein einer abnormen Proportion, er wird — je mehr die Zinsrate fällt — umso weniger als unverhältnismäßiger Expropriationsgrad, als halsabschneiderischer Wucher erfahren.

In den holländische Provinzen wurde 1658 der Zinsfuß offiziell zur Sache der weltlichen Macht erklärt. [30] Der Umstand, daß jemand Geld gegen Zins leiht, war damit keine religiöse, ethische Frage mehr, die Höhe des Zinses jedoch wurde zu einer politischen: „Während des ganzen 18. Jahrhunderts ertönt (und die Gesetzgebung handelt in diesem Sinn), mit Hinweis auf Holland, der Schrei nach gewaltsamer Herabsetzung des Zinsfusses, um das Zinstragende Capital dem commerciellen und industriellen unterzuordnen, statt umgekehrt.“ [31] Der Schrei wurde meistenteils erhört; den Kampf, den die Kirche gegen den Zins ‚an sich‘ geführt hatte, setzte der Staat fort als Kampf gegen ‚zu hohen‘ Zins. Der politisch gesenkte Zinssatz übt von selbst einen Zwang aus, das Geld unmittelbar produktiv zu investieren (in Manufakturen, Verlage etc.), statt zu verleihen. Das Feindbild des jüdischen Wucherers — als Inkarnation des Zinses — scheint damit seine Schuldigkeit getan zu haben. Konnte es darum verschwinden?

Wenn irgend eine Macht als bedrohlich empfunden werden mußte, so war es der Staat — der große Regulator, der nicht nur die Zinsrate in die Hand genommen hatte, sondern auch die Rechte der Zünfte beschnitt und Monopole errichtete; aber gerade er handelte dabei nicht willkürlich, sondern nach vernünftigen Prinzipien und konnte also beim Wort genommen werden. Im Unterschied zum Wucherkapital, dessen Macht obskur bleibt, verkörpert sich seine Herrschaft (soweit es sich um Monarchien handelte) in der stets sichtbaren barocken Gestalt des Souveräns, seines Hofes und seiner Armee. Das Feindbild des jüdischen Wucherers — als Inkarnation des zinstragenden Kapitals — scheint damit also seine Schuldigkeit getan zu haben. Seine Erfolgschancen sanken — pointiert gesprochen — mit der Rate des Zinses. Konnte es darum verschwinden?

5. Deutscher Volksstaat, jüdische Weltverschwörung

Die Verschwörung gegen den Rest der Menschheit — ein Rest, den zu verkörpern die Deutschen ausersehen werden —, das Streben nach der Herrschaft über die Erde oder nach der Vernichtung von Menschheit und Welt: das scheint der neue Inhalt zu sein, der dem Judentum im 19. Jahrhundert zugeschrieben wird. Dies geschieht auf der überkommenen Grundstruktur, die nun vielfach andere Namen erhält: der „wuchernde Jude“, mit dem man stets die abstrakte Seite der Warenproduktion identifiziert hat, wird mit „raffendem Kapital“ übersetzt und auf die expandierenden Börsen- und Aktiengeschäfte bezogen; der „christliche Handelsmann“, dem immer zugute gehalten worden ist, daß er lediglich die Gebrauchsgüter vermittelt, kehrt wieder in der Bezeichnung des „schaffenden Kapitals“. Diese aber enthält nicht allein die Imagination eines ausschließlich auf die Produktion von Gebrauchswerten abonnierten ‚Wirtschaftsführers‘: der Fetisch des ‚schaffenden Kapitals‘ schließt vielmehr die Lohnarbeit mit ein. So kann, wie Moishe Postone schreibt, „das industrielle Kapital als direkter Nachfolger ‚natürlicher‘ handwerklicher Arbeit auftreten und im Gegensatz zum ‚parasitären‘ Finanzkapital, als ‚organisch verwurzelt‘. Seine Organisation scheint der Zunft verwandt zu sein“ [32]. Und darum wird es möglich, daß die romantisch ‚rückwärtsgewandte‘ Verherrlichung der ‚Natur‘, des Blutes, des Bodens, der konkreten Arbeit ohne weiteres mit der ‚fortschrittlichen‘ Idealisierung der modernen Technologie und des industriellen Kapitals zusammengeht. Diese Symbiose des ‚schaffenden Kapitals‘, die sich vom ‚raffenden‘ abgrenzt, zielt auf einen neuen Staatstypus. Es handelt sich um einen spezifisch deutschen Typus, insofern hier Luthers Arbeitsethos auf der Basis der Lohnarbeit modernisiert wird: der Staat beansprucht, im selben Maß Sachwalter des Kapitals wie der Arbeit zu sein — ja er möchte die Identität beider realisieren. Die antisemitische Projektion, die in den früheren Jahrhunderten auf die Frage von Reichtum und Armut im unmittelbaren Sinn, auf das Verhältnis von akkumuliertem Kapital und enteigneten Kleinproduzenten beschränkt blieb, droht jedenfalls nun auch das Staatsbewußtsein jener neuen großen Klasse zu prägen, die ihre Arbeitskraft verkaufen muß.

Zur Staatsräson hatte der Antisemitismus schon früher gehört — doch das Wesen des Staates änderte sich. Einstmals bestand staatliche Macht in unmittelbaren Formen der Herrschaft: Leibeigenschaft, Lehenswesen und noch der Hofadel bilden solche Herrschaftsstrukturen; mit der Durchsetzung kapitalistischer Warenproduktion zerfielen sie. Wie kann eine Bevölkerung, die in bloße Subjekte des Tausches zerfällt, einerlei ob sie nun ihre Arbeitskraft oder ihre Waren zu Markte tragen, wie kann eine solche Gesellschaft von vereinzelten Produzenten und Konsumenten weiterhin an einen Souverän gebunden werden? Das war das große Problem der Staatsbürokratie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Die Revolutionen zwischen 1789 und 1848 zeigten deutlich, wieviel Kohäsionskraft der Staat verloren hatte. Gleichwohl bedurfte der dem Absolutismus entwachsende Markt einer staatlichen Regulation, einer gewissen Regelung der Rahmenbedingungen, damit die Akkumulation des Kapitals vorangehen konnte. Mehr als alle Klassenkonfrontationen scheint dieses Dilemma das Erkennungszeichen der Epoche zu sein.

Einerlei ob sich die Träger des Staats als Revolutionäre oder als Konservative verstanden, indem sie diese Macht übernahmen, waren sie gezwungen, dem latenten inneren Zerfall von Souveränität entgegenzuwirken. Das Volk mußte staatstreu gemacht werden — auf welche Weise, mit welchen Mitteln auch immer. Große militärische Macht von Nachbarstaaten (Napoleon!) oder die türkische Bedrohung waren günstige Voraussetzungen, um diese Staatstreue als Nationalbewußtsein zu provozieren. Doch wirkungsvoller noch war die Vorstellung einer Bedrohung von allen Seiten, einer Weltverschwörung gegen das eigene Land, das eigene Volk — und am besten, wenn sie durch einen imaginären Feind im Inneren gelenkt wurde, den man lange schon mit der Macht des Geldes identifizierte. Der ‚Hofjude‘ wurde zum ‚Liberalitätsjuden‘ umgetauft, zum Verteter des staatenlosen Reichtums, zum Anti-Staatsbürger schlechthin — „leibhaftiges Menetekel dessen, was der liberale Bürger ist, solange er nicht zum Staatsbürger wird, [...] abschreckendes Beispiel für die egoistische Existenz und anarchistische Isolation, die ihm blühen, sollte er sich aus der staatlich formierten und organisierten Gemeinschaft klassenmäßig exkommunizieren [...]“ [33] Und jene Staaten, die in ihrer Heterogenität besonders bedroht waren vom Zerfall — Deutschland, die Habsburgermonarchie, aber auch das zaristische Rußland, dessen Geheimpolizei ja die Protokolle der Weisen von Zion fabrizierte — bedurften eines solchen Menetekels gewiß in besonderem Maße. [34] Die jahrhundertelange Kontinuität des Antisemitismus sollte gewiß nicht jene „ungeheuerliche Tatsache“ verdecken, auf die Ulrich Enderwitz nachdrücklich aufmerksam macht: „daß es die politische Gewalt selbst, die Staatsmacht höchstpersönlich ist, die den Juden jetzt ihre Rolle verschreibt, die also den Antisemitismus in seiner novellierten Form propagiert und übt.“ Aber sie ist es höchstpersönlich eher im wörtlichen Sinn: der Antisemitismus bewährt sich als private Weltanschauung jener, die in staatlicher Funktion gezwungenermaßen exekutieren, was die Kapitalisierung ihnen vorschreibt: die rechtliche Gleichstellung aller Subjekte des Marktes als Bürger des Staates. Im Antisemitismus kann dieses Staatspersonal seinen Vorbehalt gegenüber dieser Gleichstellung ausleben — ohne die Kapitalisiserung in Frage stellen zu müssen. Er geht also weniger vom Staat an sich, als von dessen Personal aus: „die Junker, Staatspapierrentiers, höheren Verwaltungsbeamten, Gerichtsassesoren, Gymnasiallehrer und Universitätsprofessoren — sie sind es, die im 19.Jahrhundert die Juden aus allen Emanzipationsträumen herausreißen und erneut ins Schußfeld einer gesellschaftspolitischen Feindbildprojektion rücken.“ [35]

Von den im engeren Sinne staatstragenden Zirkeln der höheren Beamtenschaft, des Offizierskorps und des akademischen Mittelstands ausgehend, verschiebt sich das Schwergewicht des Antisemitismus nach unten: auf Angestellten- und Lohnarbeiterschichten, kleinbürgerliche Kreise, untere Beamtenschaft und niedere Militärränge. Indem sie den aus der Sicht des Staates konzipierten Antisemitismus übernehmen, üben sie sich ein in die Rolle einer par excellence staatstragenden Schicht. „In eben dem Maß, wie der antisemitische Affekt auf breitere Volksschichten übergreift, legen diese ihre bisherige, von Indifferenz oder gar klassenspezifischer Ablehnung geprägte Distanz gegenüber dem starken Staat der Junker, Militärs und höheren Beamten ab und fangen an, sich selber in der Stellung einer den starken Staat tragenden Mehrheit zu gewahren. Sie entwickeln mithin Aspirationen darauf, die Junker, Militärs und höheren Beamten in ihrer Eigenschaft als gesellschaftliche Basis des starken Staats sei‘s zu ergänzen, sei‘s gar zu ersetzen.“ [36] Die Staatsbürger und Staatsführer vom alten preußischen oder habsburgischen Schlag standen diesem Prozeß einigermaßen konsterniert, um nicht zu sagen verdattert gegenüber; für sie galt noch das alte Militär als wichtigstes Band zwischen Volk und Staat; und gegenüber den Juden der Grundsatz einer staatlich gewährten Toleranz, also die bürgerliche Verbesserung der Juden zum Nutzen des wirtschaftlichen Wohlstandes. „Ich dulde keine Judenhetze in meinem Reiche“, dekredierte Franz Joseph. „Die Juden sind tapfere und patriotische Männer und setzen ihr Leben mit Freuden ein für Kaiser und Vaterland.“ [37] Und doch mußte der Kaiser die Reden Schönerers und den Aufstieg Luegers dulden. Die christlichsoziale Bewegung wurde in hohem Grade staatserhaltend, ohne sie hätte Franz Joseph vermutlich kaum so lange regieren können. Denn Ideologen und Praktiker wie Stöcker, Schönerer, Lueger und unzählige antisemitische Publikationen und Vereine schufen den für die staatliche Integration nötigen Feind. In der Wissenschaft leisteten auf der linken Seite die sogenannten Kathedersozialisten, auf der rechten Konservative wie Treitschke ähnliche Dienste; im Kulturleben nahm Richard Wagner wie kein anderer die Aufgabe wahr; mit der Titulierung als „Staatsmusikant“ hat Marx seine Bedeutung genauer getroffen, als es ihm selber wohl bewußt war. „Immer wieder zog es mich zu seinen Werken“ [38], schrieb später Adolf Hitler, der Schüler von Lueger und Schönerer, über seine jugendliche Wagner-Begeisterung.

Die totale Realisierung des Antisemitismus war schließlich in Deutschland und Österreich die Antwort auf die große Krise des Kapitals: man praktizierte die deutsche Version des New Deal. An Stelle der zermürbten Kaufkraft der Massen trat der Staat selber als „Großkonsument“ (Enderwitz) [39] auf und organisierte größtenteils auf Kreditbasis eine direkte und indirekte Arbeitsbeschaffung. Durch den überdimensionierten Staatskonsum erschien die Arbeit wie befreit vom Kapitalverhältnis (der Arbeitsdienst wurde dafür zum gefeierten, besungenen und abgefilmten Symbol), obwohl dieses Verhältnis prinzipiell nicht angetastet wurde — und jenen Schein überall zu verstärken, diente die Staats-Ästhetik: von den vielfältigen Aktivitäten der Nazi-Organisationen wie „Kraft durch Freude“ bis zur Gleichsetzung des Arbeiters mit dem Soldaten. „Durch die Vorbereitung der allseitigen Vernichtung enthob der Nazismus die Arbeiter um den Verkauf ihrer einzigen Ware, der Arbeitskraft.“ (Joachim Bruhn) [40] Wenn also dieser NS-Deal zunächst wesentlich erfolgreicher funktionierte als der New Deal in den USA — bereits Ende der dreißiger Jahre wurde die Vollbeschäftigung erreicht —, dann vor allem darum, weil der immer gefräßiger werdende NS-Staat von Anfang an nicht nur auf dem Gebiet der Infrastruktur konsumierte, sondern — worauf ja auch die berühmten Autobahnen hinausliefen — auf dem der Rüstung. Je größer die Schulden wurden, die er damit zwangsläufig, aber auf unübersichtliche und kaum zu durchschauende Weise machen mußte, desto intensiver wurde der innere und äußere Feind beschworen: Weltverschwörung des internationalen Finanzjudentums — so lautete die handliche Übersetzung von inflationistischer Kreditierung und negativer Handelsbilanz, Haushaltsdefizit und Staatsschuld in den NS-Jargon. In anderen faschistischen Staaten wie Italien (ehe auch dort das Dritte Reich Einfluß gewann) oder Spanien war man übrigens nicht bereit, die Finanzierung des Staatskonsums und die Ästhetisierung der Politik mit gesetzlich fundiertem und massenhaft exekutiertem Antisemitismus zu begleichen. Im Dritten Reich jedoch wurde die Einstellung, die der antisemitische Kleinproduzent zum jüdischen Geldverleiher seit einem halben Jahrtausend kultiviert hatte, zum Staatsschicksal totalisiert — und das Pogrom zur „Endlösung“. In seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1939 (die im Völkischen Beobachter erschien und als Sonderdruck verteilt wurde), erläuterte Hitler, wie demgemäß die Verschuldung des totalen Konsumenten abgetragen werden sollte: „Ich will heute wieder ein Prophet sein: Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.“ [41]

Der Nationalsozialismus war die größte antikapitalistische Bewegung, die jemals zur Rettung des Kapitals mobilisiert wurde; der Staat, den diese Bewegung hervorbrachte, stellt die Vollendung des Antisemitismus dar: die fetischistische Aufhebung des Kapitals auf der Grundlage des Kapitals. Die gewöhnliche kapitalistische Rationalität aber, die den Vernichtungslagern der Nazis von der Linken immer wieder unterstellt wird, eskamotiert den eigentlichen, ‚antikapitalistischen‘ Sinn, den das antisemitische Bewußtsein der Deutschen und Österreicher der Vernichtung des Judentums beigemessen hat. Er erschließt sich nur im Zusammenhang mit der Geschichte des Antisemitismus — wobei gerade dessen religiöser Ursprung besondere Bedeutung gewinnt. Wenn — wie Moishe Postone sagt — die Vernichtung der Juden in Auschwitz von den Tätern und Zuschauern als „Vernichtung der Personifizierung des Abstrakten“ verstanden wurde [42], dann ist es das Christentum gewesen, das diese Personifizierung eingeübt – und die Grundlagen des eliminatorischen Antisemitismus in Deutschland und Österreich geschaffen hat.

[1Aristoteles: Politik. Übersetzt und hg.v. Olof Gigon. 5.Aufl. München 1984. S. 63. Erstes Buch 1258b

[2Vgl. hierzu Perry Anderson: Von der Antike zum Feudalismus. Spuren der Übergangsgesellschaften. Übersetzt von Angelika Schweikhart. Frankfurt am Main 1981. S.219-237

[3Theodor W. Adorno, Max Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. 5.Aufl. Frankfurt am Main 1978. S.153

[4Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In: Studienausgabe. Frankfurt am Main 1982. Bd.IX. S.539

[5Hyam Maccoby: The Sacred Executioner. London 1982. S.142

[6Sigrun Anselm: Angst und Angstprojektion in der Phantasie vom jüdischen Ritualmord. In: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Berlin 1993. S.257

[7Karl-Erich Grözinger: Die ’Gottesmörder’. In: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen. Hg.v. Julius H. Schoeps u. Joachim Schlör. München Zürich 1995. S.58

[8Vgl. hierzu Joshua Trachtenberg: The devil and the Jews. 2. Aufl. Cleveland, New York, Philadelphia 1961; Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Reinbek 1991. S.151-194; Gustav Roskoff: Geschichte des Teufels. Eine kulturhistorische Satanologie von den Anfängen bis ins 18. Jahrhundert. Leipzig 1869. Reprint Stuttgart 1993. S.166

[9Theodor Reik: Der eigene und der fremde Gott. Zur Psychoanalyse der religiösen Entwicklung. Frankfurt am Main 1972. S.100f. u. S.104

[10Ebd. S.118

[11Martin Luther: Von den Juden und ihren Lügen. In: Dr. Martin Luther’s sämmtliche Werke. Bd.32. Erlangen 1842

[12In der Einheitsübersetzung steht an dieser Stelle: ’ihr laßt euch bestechen’; Martin Buber und Franz Rosenzweig übersetzen hingegen: ’die ihr Zudeckungsgeld nehmt’. (Die Schrift. Verdeutscht von Martin Buber und Franz Rosenzweig. Gerlingen 1997) Der hebräische Ausdruck ’kopaer’, um den es hier geht, ist ein Rechtsbegriff und ’bezeichnet die materielle Gabe, durch die ein gütlicher Ausgleich zwischen einer geschädigten und einer Schaden verursachenden Partei zustande kommt. [...] Im Sakralrecht wird die nachexil., pro Kopf in Höhe von einem Halbschekel erhobene Jerusalemer Kultsteuer als kopaer bezeichnet.’ (Theologisches Wörterbuch zum Alten Testament. Hg.v. G.Johannes Botterweck u.a. Stuttgart usw. Bd.IV. S.316f.)

[13Stephan Grigat: Kritik des Fetischismus. Die Marxsche Werttheorie als Grundlage emanzipativer Gesellschaftskritik. Diplomarbeit Univ. Wien 1997

[14Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart 1988.

[15Jakob von Vitry: ad status 59. Zit. n. Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart 1988. S.59

[16Thomas von Chobham: Summa confessorum. 11. Frage, 1. Kapitel. Hg.v. F.Broomfield. Löwen 1968. S.505. Zit. n. Jacques Le Goff: Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter. Stuttgart 1988. S.40f.

[17Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1863-1867. Teil 2. Karl Marx/Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA) Abt.II. Bd.4. Berlin, Amsterdam 1992. S.650. Vgl. Marx-Engels-Werke (MEW) Bd. 25. Berlin/DDR 1979. S.611. Marx stützte sich hierbei u.a. auf Karl Dietrich Hüllmann: Staedtewesen des Mittelalters. Bd.1-4. Bonn 1826-1827.

[18Marx, Ökonomische Manuskripte 1863-1867, Teil 2, MEGA, Abt.II. Bd.4, S.648; MEW Bd. 25, S.609

[19Ebd. S.651

[20Marx, Ökonomische Manuskripte 1863-1867, Teil 2, MEGA, Abt.II, Bd.4, S. 663; MEW Bd.25, S.622

[21Hans Tietze: Die Juden Wiens. Leipzig Wien 1933. S.39

[22Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. In: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. 9. Aufl. Tübingen 1988. S.190

[23Ebd.S. 192

[24Benjamin Franklin: Advice to a young tradesman (1748). In: Works. Bd. II. S.87; zit. n. der Übersetzung von Max Weber, Die protestantische Ethik, S.31

[25Gerhard Scheit: Hanswurst und der Staat. Eine kleine Geschichte der Komik von Mozart bis Thomas Bernhard. Wien 1995. S.130

[26Fernand Braudel: Sozialgeschichte des 15. — 18. Jahrhunderts. Der Handel. München 1990. S.422

[27Marx, Ökonomische Manuskripte 1863-1867, Teil 2, MEGA, Abt. II, Bd.4, S.654

[28Braudel, Sozialgeschichte, Der Handel, S.422

[29Vgl. hierzu Karl Marx: Ökonomische Manuskripte 1863-1867. Teil 2. Karl Marx/Friedirch Engels Gesamtausgabe (MEGA) Abt. II. Bd.4.2. Berlin, Amsterdam 1992. S.648; die vergleichbare Stelle in der Ausgabe von Engels: Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Bd.3. Hg.v. Friedrich Engels. Marx-Engels-Werke Bd. 25. Berlin/DDR 1979. S.609

[30Vgl. hierzu Braudel, Sozialgeschichte, Der Handel, S.620

[31Marx, Ökonomische Manuskripte 1863-1867, Teil 2, MEGA, Abt. II. Bd.4.2, S.654

[32Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch. In: Kritik und Krise. Nr.4/5 (1991). S.8

[33Ulrich Enderwitz: Antisemitismus und Volksstaat. Zur Pathologie kapitalistischer Krisenbewältigung. Freiburg 1991. S.105

[34In Ländern wie England und Nordamerika, in denen die Bürger nicht zuletzt durch eine kontinuierliche, allen gemeinsame Kolonial-Front gegen die ’Wildnis’ und ihre rassistisch stigmatisierten Einwohner zu Subjekten des Staates geformt wurden, spielte dieser moderne Antisemitismus eine eher untergeordnete Rolle. Man spricht von einem ’gesunden Nationalbewußtsein’ — und besonders, weil revolutionär ausgeprägt, glaubt man es bei den Franzosen zu finden. Doch sollte die Dreyfus-Affäre nicht vergessen werden, um die Latenz des antisemitischen Affekts richtig zu beurteilen. In Rußland, das ein der Habsburgermonarchie vergleichbares ’nationales’ Dilemma besaß, ist zum ersten Mal der moderne Antisemitismus praktisch geworden: der Staat selbst — gefährdet durch Nationalitätenkonflikte und revolutionäre Bewegungen — organisierte die Pogrome, um die Massen zu binden; er scheiterte wenig später auf spektakuläre Weise.

[35Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat, S.104

[36Ebd. S.112

[37Zit.n. Adolf Kessler: Die Juden in Österreich unter Kaiser Franz Joseph I.. Diss. Wien 1932. S.125

[38Adolf Hitler: Mein Kampf. 107.-111. Aufl. München 1934. S.15

[39Enderwitz, Antisemitismus und Volksstaat, S.143

[40Joachim Bruhn: Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation. Freiburg 1994. S.68

[41Max Domarus: Hitler. Reden und Proklamationen. München 1962/63. Bd.2. S.1058

[42Moishe Postone: Nationalsozialismus und Antisemitismus. In: Kritik und Krise. Nr.4/5 (1991) S.9