Grundrisse, Nummer 37
März
2011
Jens Benicke:

Von Adorno zu Mao

Über die schlechte Aufhebung der anti-autoritären Bewegung

Freiburg: ça ira, 2010, 20 Euro

Nach dem Scheitern der „anti-autoritären“ StudentInnenbewegung in Westdeutschland schlossen sich viele ihrer AktivistInnen Anfang der 1970er Jahre leninistischen K-Gruppen an, die eine kommunistische Partei „neuen Typs“ aufbauen wollten. Anstelle der Kritischen Theorie wurden nun die „Klassiker des Marxismus-Leninismus“, inklusive Josef Stalin und Mao Zedong, zum theoretischen Bezugspunkt. Ein Grund für die Abkehr von der Kritischen Theorie war sicherlich, dass ihre Hauptvertreter in Deutschland wie Horkheimer, Adorno und Habermas sich gegen die Revolte der StudentInnen stellten oder sie nur bedingt unterstützten. Für die K-Gruppen waren nicht mehr „Randgruppen“ wie „Schwarze“ in den Ghettos oder aus Heimen geflohene Jugendliche das revolutionär Subjekt, sondern das Proletariat. Dieser historische Bruch ist bis heute nicht einfach zu erklären. Jens Benicke untersucht in seiner Doktorarbeit „Von Adorno zu Mao“, die schlechte Aufhebung der anti-autoritären Bewegung vor dem Hintergrund der Rezeption der Kritischen Theorie und von Faschismus-Theorien. Der Titel ist etwas irreführend, da das Buch den Einfluss der chinesischen Kulturrevolution (1966-1977) nur kurz erwähnt.

Benicke hat dabei nicht die Mühe gescheut, sich durch die ungeheure Publikationsflut der K-Gruppen durchzuarbeiten, selbst wenn manche ihrer Pamphlete heute eher satirische Qualitäten haben. Benickes zentrale These ist, dass mit der radikalen Abkehr von der Kritischen Theorie die konkrete Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Deutschland aufgegeben und durch einen generalisierten und polemischen Faschismusbegriff ersetzt wurde. Die leninistischen Kader reduzierten Faschismus auf eine „offene Diktatur der reaktionärsten Teile des Finanzkapitals“ und wendeten den Begriff im globalen Kontext inflationär an (S.10). Dadurch hätten auch die K-Gruppen dazu beigetragen, den Nationalsozialismus zu verdrängen und den Anspruch der frühen 1968er aufgegeben, auch den eigenen „autoritären Charakter“ zu überwinden,. Um diese These zu bestätigen, nennt er einige Beispiele: Der SDS (Sozialitische Deutsche Studentenbund) startete 1959 eine bundesweite Kampagne gegen die Verjährung von NS-Verbrechen und organisierte die Wanderausstellung „Ungesühnte Nazijustiz“. Außerdem wurde die Frage nach der individuellen Schuld der eigenen Eltern und damit auch der einfachen deutschen Bevölkerung immer wieder aufgeworfen. Die K-Gruppen hätten sich hingegen für die juristische und politische Aufarbeitung der NS-Verbrechen und die Frage nach persönlicher Schuld nicht mehr sonderlich interessiert. Eine Zäsur sieht Benicke schon in der Bewegung gegen die Notstandsgesetze von 1968, als der Faschismus-Begriff immer mehr als Polemik zur aktionistischen Mobilisierung gegen die angeblichen NS-Gesetze eingesetzt wurde. Auch die K-Gruppen interessieren sich mehr für die Frage, ob sich die BRD auf den Weg in den Faschismus befände, als für die Aufarbeitung der NS -Vergangenheit. Die Frage der „Faschisierung“ des Staates oder auch der SPD wurde endlos debattiert, so Benicke. Diese Argumente sind sicher nicht falsch, trotzdem stellt sich die Frage, ob es nicht verständlich ist, dass sich Gruppen, die glaubten, die Revolution stehe in ein paar Jahren bevor, wenig mit der deutschen Vergangenheit befassten? Die heutige Auffassung der „Anti-Deutschen“, dass die Aufarbeitung des Holocausts die Kardinalfrage der Menschheit sei, war damals außerdem noch nicht weit verbreitet, selbst in Israel nicht. Außerdem gab es neben der imaginierten faschistischen Gefahr in Westdeutschland auch reale Erfahrungen mit Faschismus oder zumindest mit rechten Diktaturen wie im Kampf der ETA und der Linken gegen die Franco-Diktatur in Spanien, mit dem Putsch in Griechenland 1967 und dem Fall dieser Militärdiktatur 1974 wie auch dem Putsch von Pinochet in Chile 1973. Interessant wäre in diesem Zusammenhang die Reaktion der K-Gruppen auf Publikationen aus der DDR gewesen, die in „Graubüchern“ die Nazivergangenheit von Beamten aus den verschiedenen Ministerien der BRD systematisch dokumentierten.

Laut Benicke vollzog sich auch eine Wende in der Haltung zu Israel. Vor dem Sechstage-Krieg von 1967 zwischen Israel und arabischen Staaten war die Solidarität mit dem jüdischen Staat sowohl bei vielen im SDS als auch bei prominenten Linken wie Ulrike Meinhof und Herbert Marcuse noch selbstverständlich. Nach dem Sechstage-Krieg setzte sich zunehmend eine Sichtweise durch, den Nahostkonflikt durch die Brille eines Anti-Imperialismus und nicht mehr durch die des Holocausts wahrzunehmen. Benicke wirft der militanten Sponti-Szene und den K-Gruppen einen „Schuldabwehrantisemitismus“ vor, der Israel mit Nazideutschland und das Vorgehen gegen die palästinische Guerilla mit der Ermordung der europäischen Juden verglich (S. 177). Als fleißiger Leser der damaligen Publikationen hat Benicke jedoch wenige Zitate gefunden, um den Vorwurf des Antisemitismus gegenüber den K-Gruppen zu belegen, auch wenn damals sicher viele unpassende oder auch dumme Vergleiche gezogen wurden. Die krassesten Zitate im Buch stammen alle aus dem Umfeld der Spontis und RAF (Rote Armee Fraktion). Am 9. November 1969, dem 31.Jahrestag der Reichspogromnacht, verübte die Gruppe „Schwarze Ratten/Tupamaros Westberlin“ einen Anschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Berlin. Kritik an der Aktion tat z.B. der Ex-Kommunarde Dieter Kunzelmann in der Sponti-Zeitung „Agit 838“ (Nr.42) als Folge der „Vorherrschaft des Judenkomplexes“ und eines psychischen „Judenknax“ ab (S.117). Dieses Zitat wurde auch schon in der Schmähschrift „Unser Kampf: 1968“ (2008) von Götz Aly ausführlich präsentiert und sogar als Kapitelüberschrift benutzt. Weder die Tatsache, dass einige Aktionen der „Stadtguerilla“-Gruppen durchaus antisemitischen Charakter hatten, noch die meisten Zitate die Benicke als Beleg anführt, waren bisher unbekannt. An einige Stellen verliert sich das sonst gut recherchierte Buch allerdings in denunziatorischen Entgleisungen.

Neu dagegen ist die ausführliche Besprechung der Rezeption der Kritischen Theorie durch die K-Gruppen. Erstaunlich ist vor allem mit welcher Intellektuellen-Feindlichkeit sich Chef-Theoretiker der K-Gruppen bei ihrer Kritik an Adorno und Horkheimer austobten. In den K-Gruppen entbrannt ein regelrechter Kult um den aktivistischen „Macher“. Joscha Schmierer, damals Generalsekretär des KBW (Kommunistischen Bund Westdeutschlands), schrieb zum Beispiel: „Die Kritische Theorie ist auf die Entwaffnung der Arbeiter aus. Ihr Hass gilt der Arbeit, von der sie lebt und die sie scheut.“ (S.146). Eine Lesart von Theorie wie 1968, die im Marxismus, Linkskommunismus, Anarchismus und auch der Kritischen Theorie nach subversiven Elementen suchte, war nicht mehr erwünscht, ebenso wie der „arbeitsscheue“ Intellektuelle abgelehnt habe. Benicke glaubt, dass sich durch die K-Gruppen der „autoritäre Charakter“ bei den AktivistenInnen wieder durchgesetzt hätte.

Benicke hat zu den Debatten um die Geschichte der westdeutschen Linken einen lesenswerten Beitrag geleistet. Bei der Fokussierung auf Kritische Theorie und Faschismusanalyse bleibt die Frage offen, ob die K-Gruppen bezüglich Betriebsarbeit, Solidarität mit Vietnam und Chile sowie mit „Gastarbeitern“, Kampf gegen Berufsverbote und staatliche Repressionen nicht doch emanzipatorische Positionen vertreten haben. Vielleicht hat Benicke die Bedeutung der Kritischen Theorie für 1968 überschätzt. Wird von TheoretikerInnen wie Hans-Jürgen Krahl abgesehen, wurden die Texte der Frankfurter Schule 1968 nur sehr oberflächlich rezipiert und oft auf eine platte Manipulationstheorie („Springer verblödet die Arbeiter“ usw.) reduziert. Eine gewisse Oberflächlichkeit bezüglich der Theorie trifft sowohl für die „Anti-Autoritären“ als auch die „Parteisoldaten“ zu. Im Handgemenge der Bewegung und als Folge der Überschätzung der globalen Auswirkungen der Revolutionen in der 3.Welt hielten viele AktivistInnen Praxis für wichtiger als Theorie. Viele K-Gruppen gaben ernst spät eigene Theorieorgane aus und ihre Programme waren in der Regel von Dokumenten der Kommunistischen Internationalen aus den 1920er Jahren abgeschrieben. Für eine psychologisierte Erklärung, dass sich der „autoritärer Charakter“ in Form der K-Gruppen in der Linken wieder durchgesetzt habe, gibt es im Rahmen der Diskursanalyse im Buch wenig Belege. Die äußerst hohe Fluktuation der Mitglieder der K-Gruppen zeigte, dass viele nicht treue „Parteisoldaten“ werden wollten. Zudem wäre der Massenübertritt von den K-Gruppen zu den anfangs basisdemokratischen Grünen Anfang der 1980er Jahre kaum zu erklären. Auffällig ist auch, dass Benicke sich stärker auf Gruppen wie die KPD/ML (Kommunistische Partei Deutschland/Marxisten-Leninisten) konzentriert, die zeitweise einen üblen deutschen Nationalismus propagierten. Gruppen wie der KB (Kommunistischen Bund), die gegenüber den sozialitischen und nationalistischen Bewegungen in der 3.Welt weniger dogmatische Positionen einnahmen, werden nur am Rande behandelt. Das ist erstaunlich, da die „antideutsche“ Linke auch aus dieser K-Gruppe hervorging. Der Stil, in dem „Anti-Deutsche“ gegen Linke polemisieren, die ihre Ansichten nicht teilen, ist dem aggressiven Ton der „stalinistischen“ K-Gruppen gar nicht so unähnlich.

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