Robert Zöchling
Oktober
1990

Vorsatz

Einmal im Vertrauen gefragt:

Wer glaubt eigentlich noch an die demokratische Legitimation des Nationalrates? Wir wissen es freilich nicht — wir wissen nur daß die Zahl derer, die das ernsthaft tun, immer geringer wird. Wahlen als einziges Kriterium der Legitimation haben bei vielen bereits ausgedient in Zeiten, in denen die fundamentale Inkompetenz des zu wählenden Gesetzgebers zur Herstellung von so etwas wie „allgemeinem Wohl“ offenbar wird. Der Unmut des Volkes kann sehr unterschiedliche Formen annehmen — manifest wird er darin jedenfalls: Nichtwähler, Weißwähler und schließlich Protestwähler verweigern sich dem, was die herrschende Politik ihnen als Politik für ihre Interessen vorführt („Uns geht es um Österreich“ oder „Der Aufschwung — mit uns ist er sicher“, hieß es). Jene, die dabei eine grundlegend unpolitische Haltung einnehmen, befinden sich allerdings nicht in der Lage, politische Alternativen zu entwerfen, die auf eine Überwindung des gesellschaftlichen Rahmens gerichtet sind, der sie einengt, in den Möglichkeiten ihrer Lebensverwirklichung materiell und ideell beschneidet und somit die eigentliche Grundlage ihres Unmutes bildet. Sie sind in ihren Möglichkeiten bereits so weit beschnitten, daß sie für solche Entwürfe gar kein Verständnis mehr aufbringen können. Stattdessen halten sie sich an Demagogen, die so tun, als ob sie jeden Rahmen sprengen könnten, dabei aber nichts anderes verheißen, als diesen Rahmen am radikalsten einzuengen — aber nur für die anderen. „Wien darf nicht Chicago werden“: für AusländerInnen, sozial deklassierte, wirtschaftlich „Unwerte“, „Giftler“, „Schwule“ und andere, die sich gegen ihre Ausgrenzung nicht wehren können. Solche Demagogen sitzen nicht nur in einer Partei, die sich etikettenschwindlerisch „liberal“ nennt, sondern auch — und gehäuft — in rechtsstaatlichen Institutionen der Republik: Innenminister und Bundeskanzler sowie subalterne Angehörige ihrer Ressorts beherrschen in vorbildlicher Weise jene Art von Humanismus, die geradezu zum Mythos der zweiten Republik wurde und sich gerne allgemein gibt, tatsächlich aber Schranken aufrichtet (diese Formulierung ist von Seite 37 entlehnt). Womit unsere „unpolitischen“ Freundinnen und Freunde noch nicht rechnen ist, daß auch sie nicht verschont bleiben werden von jeder Rahmen-Verengung und Klima-Verschärfung in diesem Land. Für Immobilienspekulanten und Polizisten darf Wien nämlich Chicago werden. Am deutlichsten erkennbar wird dies schon jetzt am Entwurf eines neuen Sicherheitspolizeigesetzes, von dem im JURIDIKUM ja schon des öfteren die Rede war und der die polizeiliche Behelligung praktisch jedes Menschen in diesem Land aus praktisch jedem Grund ermöglichen wird, den sich der amtshandelnde Organwalter aus den Fingern zuzelt. Dieses Polizeigesetz wird vom neu zusammentretenden Nationalrat wahrscheinlich schon im Herbst beschlossen werden. Womit wir wieder bei der Legitimation angelangt wären: bei der Legitimation eines von einer Mehrheit in einem besonderen Rahmen gewählten und besondere Interessen vertetenden Gesetzgebers — und bei der Legitimation von Minderheiten, die aber allgemeine Interessen vertreten (dazu der Beitrag von Gabriel Liedermann auf Seite 9).

Nie wirklich durchgesetzt

hat sich dagegen hierzulande die Auffassung, daß eine Verfassung mehr wäre, als eine formale Spielregel der Republik. Anders als etwa in Frankreich, wo die moderne Verfassung durch eine Revolution vom neuen Souverän, dem Bürgertum, geschaffen wurde und die Verfassungsordnung zunächst einmal als eine inhaltliche begriffen wird, kann in der Alpenrepublik jeder dahergelaufene Bundespräsident, Bundeskanzler oder Landeshauptmann von Tag zu Tag leichthin überlegen, ob nicht (etwa aus Anlaß der Anbiederung an die „Europäischen Gemeinschaften“) das eine oder andere tragende Prinzip, die eine oder andere politische Vorgabe der Verfassung fallengelassen werden könnte: die immerwährende Neutralität, die Absicherung gegen faschistische Betätigung im öffentlichen Dienst, die föderalistische Stellung der Länder — und wer weiß, was ihnen morgen noch einfällt. Ich will nicht behaupten, daß derartige Überlegungen nicht auch in anderen Ländern vorkommen können. Aber anderswo wäre das wenigstens noch ein mittlerer Skandal. Bei uns schert sich anscheinend niemand darum. Seinesgleichen geschieht eben, und wenn es einen Skandal gibt, dann wird der bestenfalls von „gewissen Kreisen“ im Ausland provoziert. In der politischen Praxis hatte gerade die Neutralität schon bisher eher die Bedeutung einer Werbemasche für die Konferenztouristik (in Österreich auch Außenpolitik genannt). Politisch wurde und wird sie bei jeder Gelegenheit (oder wenigstens bei jeder zweiten) mißachtet. Eine weitere Episode in der Serie dubioser Neutralitätsinterpretationen liefert der Beitrag von Katharina Echsel: Völlig neutrale Überflugsgenehmigungen.

Aber so allein sind wir

mit der Preisgabe angeblich festgeschriebener Werte auch wieder nicht: An der bislang hehren Genfer Flüchtlingskonvention wird auch schon gesägt. Was schon jetzt von den meisten europäischen Staaten praktiziert wird, darunter Österreich und die Schweiz als Avantgarde, schreit nach einer formellen „Anpassung“ des Rechtstextes: Zu erwarten ist vor allem die Umdefinition von Flüchtlingen in „Wirtschaftsflüchtlinge“, also zum mindesten eine Einengung des Flüchtlingsbegriffs, die es dann ermöglicht, Flüchtlinge ab- und rückzuschieben, ohne sich dafür auch noch vor internationalen Instanzen rechtfertigen zu müssen.

Die Entwicklung dieses Blattes

ist demgegenüber Ausdruck dessen, daß sich nicht niemand für diese Entwicklungen interessiert. Nicht nur Abo-Bestellungen langen ununterbrochen bei uns ein, sondern auch Angebote für Beiträge, Themenvorschläge und Informationen. Davon können wir indes nie genug bekommen.

Wie auch dem nebenstehenden Inserat zu entnehmen ist, suchen wir auch stets MitarbeiterInnen für nicht-redaktionelle Tätigkeiten (dafür gibt es in diesen Bereichen auch finanzielle Vergütungen). InteressentInnen wenden sich vertrauensvoll an den Verlag.

aus: Juridikum 4/90, Seite 3

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