Internationale Situationniste, Numéro 5
 
1976

Vorwort zur szenischen Einheit „Niemand und die Anderen“

Nicht auf das Spektakel des Endes einer Welt wollen wir hinarbeiten, sondern auf das Ende der Welt des Spektakels.

Editorische Notizen der Situationistischen Internationale, No. 3

Ist das nicht genug wiederholt worden? Ist das nicht genug vorhergesagt worden? Das Theater ist tot! Eine uninteressante Feststellung, sobald wir „für’s Theater“ schreiben! Die Regisseure werden diese zumindest unangebrachten und schlimmstenfalls unfehlbaren Texte durch künstliche Beatmung wiederbeleben. Was den Verfasser betrifft, welcher hätte nicht seine eigene Vorstellung vom Leichnam, so wie die alten Damen, wenn ihnen mitgeteilt wird, dass der Nachbar vom unteren Stockwerk ertrunken aufgefunden wurde? Wenn jeder so weit ist, wird das Theater ein leichtes Spiel für den — d.h. für niemanden und alle zugleich — der sich zur Regel macht, das Stück als Beerdigungsfeier anzubieten, das diese Kunst endgültig in Vergessenheit bringen wird. Es ist allzu deutlich, dass sich dieser Text der Versuchung eines solchen Ritus nicht entzieht. Man hat auf Gräbern geschrieben. Das ist allzu sichtbar und lässt nur wenig Platz, um das gegen alle Gewissheit, mit der sich die Avantgarde bestimmt ausstaffieren wird, zu sagen, was man wirklich zu tun versucht hat. Also gut! Was wollte ich tun? Und zunächst warum „szenische Einheit“?

Nach Brecht und dem Dadaismus, nach Becketts Erfolg wäre es unangemessen, das Anti-Stück und höchst bekannte Verfahren zu entdecken. Nicht weniger unangemessen wäre es, an umfangreiche Konsequenzen zu glauben. Diese Wiederbelebung kann aufregend oder nebensächlich sein: nie schwingt sie sich zur Höhe der Entdecker auf. Sich auf Brecht oder auf andere zu berufen, würde nicht nur eine gewisse Schamlosigkeit, sondern eine raffinierte Versuchung zu erkennen geben — und zwar diejenige der geduldigen Neuigkeit, den Begriff einer eifrigen, vergleichenden, fleißigen und letzten Endes illusorischen Forschung: Dr. Faust ist nichts weniger als der Schüler des Teufels. Daher die vorsätzliche oder nicht vorsätzliche Didaktik der Avantgarde-Theaterstücke!

Dagegen hat die szenische Einheit nur das Entlehnte zur Geltung zu bringen, egal, ob es offenkundig ist oder ihr durch andere, sich auflösende Kunstformen suggeriert wurde (wie z.B. durch den Roman, eine erschöpfte literarische Gattung, die aber das schönste Schicksal erhoffen darf, wenn sie so auf der Bühne dargestellt wird). Die szenische Einheit ist zuerst ein Roman; natürlich kein übertragener — ganz im Gegenteil: ein dargestellter Roman! D.h. die szenische Vorführung dieser seltsamen Mischung aus einem nirgends erreichten bzw. nur gestreiften Lebensstil und der Asymmetrie unserer Handlungen, der täglichen Kluft der Situationen. Auf der einen Seite unterhält sich der Lebensstil vor uns und auf der anderen Seite kann er diese Gebärden, Entschlüsse, Bewegungen und Aufbrüche nicht selbst ausdrücken — das ist die szenische Einheit, wenn die Entscheidungen bzw. Umstände der Darstellung (wie z.B. die Abschaffung der Pause) berücksichtigt worden sind.

Die szenische Einheit besteht aus vier Elementen. Alle tragen zur globalen Konzeption des Spektakels bei, in welchen Augenblick des Dialogs es auch sein mag: keines ist bei der Gliederung dieser Dialoge, deren Progression (außerhalb jeder Dramatisierung) und linearer Wirksamkeit unbeteiligt. Diese wird in dem Masse tiefer, wie jeder Zuschauer begreift, dass sein Leben nicht mehr durch irgendeine Handlung oder erprobte Bühnenmittel, sondern dadurch vor ihm dargestellt wird, dass diese Dialoge in ihm zwei Totalitäten absondern: das Gesagte und das Gemachte.

  1. Auflösung der Intrige: bisher beruhte die theatralische Dramatisierung vor allem auf der Eigenart des Helden und auf seiner mehr oder weniger großen Macht, bei jeder neu eintretenden Situation so zu handeln, als ob er sich selbst wiederholte. Eine wirksame Theaterrolle ist zuerst eine wiederholte Rolle. Damit wurde durch die zusammenhängende Verwirklichung eine mehr oder weniger bewusste Dialektik verdeckt, die sich tatsächlich bei jeder Rolle entwickelt, sobald der Akteur anzuerkennen bereit ist, bzw. dazu bewegt wird, dass er genauso gut in einer anderen sein könnte. Da braucht er nicht einmal zur Persönlichkeitsspaltung oder zur mehrfachen Untersuchung der Wahrheit der Rolle, wie Pirandello oder Strindberg es versucht haben, zu greifen. Die wirkliche Verwirklichung ist die des Gewissens — sie ist die austauschbare Eigenart der Rollen. Die szenische Einheit ist also keineswegs dramatisch (wenn man die Intrige als das Fortschreiten der Rollen auf ein „Schicksal“ zu versteht); sie ist dagegen dialektisch, da sie ihrem Anspruch gemäß die totale Darstellung aller Augenblicke einer dargestellten Handlung gegen bzw. trotz ihrer chronologischen Reihenfolge anstrebt.
  2. Zyklische Funktionen der Rollen: der Zuschauer würde nur unter der Bedingung begreifen, dass die Handlung auf der Bühne verfremdet wird, dass nichts von diesen immer wieder für sich selbst neuen Rollen verloren geht. Wenn wir eine szenische Zeitspanne betrachten, in der alle Akteure der szenischen Einheit vor uns bleiben, ob sie etwas zu tun haben oder nicht, wo sie weder auf der Bühne erscheinen noch von der Bühne abtreten dürfen und außerhalb des von anderen gesprochenen Dialogs intervenieren, so entfernt sich die Funktion der Rolle zugleich von dem, was diese darstellt, und von dem, was sie in einem anderen sie eventuell betreffenden Dialog, in einer anderen Zeitspanne gemacht hat oder machen wird. Das ist die zyklische Funktion der Rolle. Sie ist so weit von ihrer Leidenschaft entfernt wie von der des Zuschauers. Es handelt sich um eine Rolle, die darüber höchst verwundert ist, nicht mehr nur eine Rolle zu sein, und die die in der Wirklichkeit des alltäglichen Lebens vorhandene Verzerrung betont. Wir fühlen wohl, dass es nie eine Identität oder sogar Identifikation gibt zwischen dem, was wir sagen und dem, was wir tun — bisher war es aber Zweck des Theaters, uns das Gegenteil glauben zu lassen. Die szenische Einheit ist nichts anderes als eine Widerlegung — und zwar die absoluteste, die es gibt: die Widerlegung des Alltäglichen durch die Mittel des Alltäglichen selbst (denn keiner kann dem Alltäglichen entgehen).
  3. Beteiligung und Lebensstil: das auf der Bühne Dargestellte gehört zum Lebensstil — eigentlich zum Unerreichbaren, wenn man wirklich das Leben betrachtet. Die Rollen sind auf diese scheinbar im Zufälligen liegenden Handlungen nicht vorbereitet. So wie die Rollen bei Tschechow. Durch die neue, der Bühnenzeit zugemessene Dimension und die absolute Abschaffung der Verwirklichung wird aber die Beteiligung des Publikums unmöglich gemacht — über das hinaus, was Tschechow versucht hat. Hier ist nichts zu erwarten weder Läuterung des Zuschauers noch Brechtsche Beweisführung usw. Es handelt sich um Rollen, die nichts über sich selbst aussagen, höchstens durch andere, wie wir etwas über uns selbst nur durch das ausdrücken, was uns am wenigsten betrifft. Sie gehören zu einem furchtbaren, entfremdeten und unleugbar falschen Leben, das jeder von uns vom Morgen bis zum Abend erlebt.
  4. Dialog und Zeitlichkeit: hier besitzt der Dialog nicht die Macht des Traumes, sondern nur die, die man wiederfindet, wenn man nach der Vorstellung hinausgeht — die, mit der jeder sich zu beruhigen sucht, ohne überzeugt zu sein, dass er es nötig hat, als ob die nachträglich gewechselten Worte unsere Taten beschwören würden. Hier hat also der Dialog den Wert und den Nicht-Wert der Kommunikation, je nachdem. Er modifiziert die Existenz, indem er sie außerhalb der Reichweite der von ihr angeregten Handlungen setzt, die jeden Augenblick dafür plädieren, wie man sie sich ersparen könnte. Als einziger Träger der szenischen Einheit wäre im äußersten Fall der Dialog ein direktes, aber unerträgliches Eingreifen in das tiefste Gefühlsleben, das der zyklischen Wiederholung dieser Handlungen bzw. Nebenhandlungen permanent entgegengesetzt ist. Durch diese hören die Rollen auf, eine wirklich szenische Bedeutung zu haben. Uns werden diese Episoden weder vertraut werden, noch näher kommen, wohl aber stärker erschüttern, da wir sie nicht mehr erleben möchten und es eigentlich sogar könnten — wenn das Alltägliche die Kommunikation nicht in Klammern setzen würde: wie zwischen zwei Schlafenszeiten.
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