Heft 1-2/2005
Mai
2005

Wer die Wahl hat ...

... und seine Stimme abgibt, nimmt Stellung

Es ist der Morgen des 30. Januar, Wahltag im Irak. Seit 12 Stunden darf sich kein Privatfahrzeug mehr auf den Stra­ßen bewegen. Jeder Polizist in der Region ist im Einsatz, die Wahllokale sind aus Angst vor Selbstmord­attentaten herme­tisch abgeriegelt.

Auch hier, im kurdischen Nordirak, der im Ver­gleich mit dem Rest des Landes als sicher gilt, wur­den schärfste Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Am Abend vor der Wahl wurde deshalb Straße für Straße eine Ausgangssperre verhängt, bis sich kein Fahrzeug außer denen der Sicherheitskräfte mehr bewegen kann. Die Hauptstraßen Suleymanias, in denen in den Nächten zuvor die kommende Wahl mit Autokorsos bis in die frühen Morgenstunden gefeiert wurde, sind leer. Aber die Ausgangsperre hat nichts bedrohliches, die an jeder Straßenecke postierten kurdischen Poli­zisten dienen dem Schutz der Stadt und ihrer Bevöl­kerung. Noch Tage zuvor hatte Musab Abu Zarkawi im Namen der Al Qaida-Irak der „Demokratie den Krieg erklärt“ und angekündigt, am Wahltag würden seine Truppen die Straßen des Irak mit Blut waschen. Kurdistan könnte, so fürchtet man, ein vorrangiges Ziel von Anschlägen werden. Noch am Vortag warn­te der kurdische Sicherheitsdienst Asayisch die weni­gen internationalen Wahlbeobachter eindringlich vor möglichen Gefahren.
Die Stimmung am Abend vor der Wahl ist gespannt und festlich zugleich. Niemand weiß, wie der Irak in 24 Stunden aussehen wird, ob Tausende sterben wer­den müssen, ob die Wahlbeteiligung hoch oder nied­rig sein wird. Die hysterische Stimmung, die in europä­ischen Medien geschürt wird, teilt allerdings niemand. „Warum berichten sie in Europa nur von Anschlägen und Toten?“, fragt Abdullah Sabir, Leiter einer loka­len Organisation, die Minen räumt. „Verfolgt man die BBC, dann entsteht der Eindruck, der ganze Irak ver­sinke in Chaos. Menschen, die seit Tagen in Arbil und Suleymania feiern, werden dagegen nicht erwähnt.“

Zwar herrschte in Kurdistan nicht, wie im Süden des Landes, seit Monaten eine euphorische Stim­mung, aber die letzten Tage des Januars wurden von den Parteien intensiv zum Wahlkampf genutzt. Seinen eigenen Beitrag hatte Zarkawi und der so genannte „irakische Widerstand“ zur Mobilisierung der Kurden geleistet. „Wenn Zarkawi der Demokratie den Krieg erklärt, gehe ich wählen, auch wenn ich die kurdischen Parteien nicht mag.“ Wie der Student Feridoon Amin denken viele: Zwar ist man der beiden großen Parteien Kurdische Demokratische Partei (KDP) und Patriotische Union Kurdistans (PUK), die Kurdistan seit 1991 regieren, überdrüssig, wünscht aber eine starke kurdische Präsenz in der neuen Bagdader Nationalversammlung. „Ich werde die kurdische Einheits­liste für Bagdad wählen, aber für den Stadtrat ungültig stimmen. Dies ist mein Protest.“ Drei Wahlscheine sollen die Kurden ausfüllen, den fast DIN A1 großen für das neue irakische Parlament, der äußerst unüber­sichtlich gestaltet, mehreren hundert Listen, Parteien und Kandidaten Platz bietet, den für das kurdische Regionalparlament in Arbil und schlussendlich den für die Parlamente in den Gouvernements. Nur hier treten die beiden kurdischen Parteien gegeneinander an, selbst für Arbil kandidieren sie auf einer Einheits­liste. „Diese Einheitsliste für das kurdische Regional­parlament ist ein Witz, ganz so als würden Kerry und Bush gemeinsam gegen Nader antreten“, meint dazu Akram Abdullah, der in einem kurdischen Ministeri­um arbeitet, „aber immerhin bekämpfen sie sich so nicht.“ Frisch sind noch die Erinnerungen an den jahrelangen innerkurdischen Parteienkrieg, dem Tau­sende zum Opfer gefallen sind und der Irakisch-Kurdistan Mitte der 90er Jahre paralysierte. Nun planen nach Jahren der Trennung beide Parteien ihre Ver­waltungen zusammenzulegen und bislang ist es ihnen gelungen, zumindest nach Außen, also gegenüber den Amerikanern und den arabischen Parteien, weit­gehend mit einer Stimme zu sprechen. Intern aber ist das Misstrauen weiter groß. Im Vorfeld der Wahlen berichtete die unabhängige Zeitung Hawlati mehr­mals von Versuchen der Parteien, Stimmen zu kaufen und ihren Einfluss im Herrschaftsgebiet des jeweils anderen auszudehnen. Der Norden Irakisch-Kur­distans mit der Hauptstadt Arbil steht bislang unter Kontrolle der KDP, der Süden wird von der PUK kontrolliert. Alle Ministerien gibt es entsprechend in doppelter Ausführung, selbst zwei nach Parteilinien getrennte Mobilfunknetze sind in Betrieb.

Von Verlusten zu Gewinnen

Jetzt geht es darum, möglichst großen Einfluss in Bagdad zu gewinnen, nicht alte Rechnungen zu be­gleichen“, fährt Akram fort, „die Wahlen bieten uns eine einmalige Chance.“ Hat es die Geschichte bislang mit den irakischen Kurden selten gut gemeint, so sind sie die großen Gewinner des 3. Golfkrieges. Bislang Spielball regionaler Mächte und den Grausamkeiten der irakischen Regierung vergleichsweise wehrlos aus­geliefert, ist Kurdistan heute das in jeder Hinsicht am weitesten entwickelte Gebiet des Irak.

Das Städtchen Said Zadik am Wahl­tag mag dies verdeutlichen. Mit ungefähr 40.000 EinwohnerInnen eine kurdische Kleinstadt, in der drei Wahllokale einge­richtet wurden, vor denen schon morgens Hunderte in Schlangen anstehen, um ihre Stimme abzugeben, die wie tausende andere Ortschaften auch 1988 durch die irakische Armee ausgelöscht wurde; die Bewohnerinnen brachte man entweder um oder deportierte sie. Zwischen Suleymania und Halabja gelegen war Said Zadik militärisches Sperrgebiet, wer die Region ohne Erlaubnis der Ba’ath-Partei betrat, wurde erschossen. Nun drängeln sich, teils in festlichen Kleidern, Frauen und Männer vor den Wahllokalen, las­sen eine intensive Sicherheitskontrolle über sich ergehen, um dann, oft erst nach Stunden, zu den Wahlurnen vorgelassen zu werden. Vor fünfzehn Jahren stand hier kein einziges Gebäude mehr, nur der Friedhof erinnerte daran, dass sich hier einst eine Stadt befunden hat.

Alle, die hier leben, haben Jahre der Unterdrückung und Verfolgung hin­ter sich. Ein Enkel trägt seine 90jährige Großmutter auf den Schultern, die seit Jahren ihr Haus nicht mehr verlassen hat. Sie wollte unbedingt noch ihre Stimme abgeben. Familienangehörige helfen ih­ren analphabetischen Verwandten bei der Stimmabgabe. Aus allen Städten Kur­distans wird ähnliches berichtet: ein alter Mann in Kirkuk starb nach der Stimm­abgabe, in Rania wurde in einem Wahllo­kal sogar ein Kind entbunden. Wer kann, geht wählen: Es ist erst 10 Uhr morgens und Hamid Ameen, der Leiter des Wahl­lokales, erklärt stolz, schon fast die Hälfte aller registrierten Wähler hätten bereits ihre Kreuze gemacht. Auf dem Weg be­gegnen wir einer Gruppe aufgebrachter Dorfbewohner, die unseren Wagen an­halten und sich beschweren, bislang noch von keinem der Pendelbusse abgeholt worden zu sein. Sie fürchteten zu spät zu kommen und wir sollten ihre Beschwer­de an die Wahlkommission weiterleiten. In diesem Moment kommt der Bus, die Logistik scheint vorbildlich organisiert, zumindest in der Provinz Suleymania.

Aus anderen Orten werden chaotische­re Szenen berichtet, in einigen Gebieten des sunnitischen Dreiecks, wo der „Wi­derstand“ seine Hochburgen hat und die Parteien zum Boykott aufgerufen haben, wurden die Urnen zum Teil nicht ausge­liefert. Vor allem aus Mosul werden sich später VertreterInnen der assyrischen Minderheit bitter beklagen, dass sie am Wahlgang gehindert worden seien. Auch aus Kirkuk wird später berichtet, dass es zu groben Unregelmäßigkeiten gekom­men sei. Die KurdInnen, die die Stadt für sich beanspruchen, hätten dafür gesorgt, dass viele doppelt oder dreifach hätten wählen können.

Ein Zeichen an die Welt

Wer aber an diesem 30. Januar über Land fährt und überall die gleichen Szenen sieht: Menschen in langen diszipli­nierten Schlangen, die vor den Wahlloka­len warten, trotz aller Drohungen durch den terroristischen Untergrund, Frauen, die nach Abgabe der Stimme stolz ihren mit blauer Tinte eingefärbten Finger zei­gen, wer das sieht, der weiß, dass dieser Tag, trotz aller später registrierten Unre­gelmäßigkeiten das Gesicht des Nahen Ostens verändern wird, dass diese Wahl ein Erfolg sein wird. Entsprechend lässt überall die Anspannung schon am Mor­gen nach, Radiomeldungen zeigen, dass auch im Süden des Irak und in Bagdad, trotz einiger Anschläge, die Wahlbeteili­gung hoch ist und es zu keinen größeren Zwischenfällen gekommen ist. Es scheint ganz so, als hätte der Ladeninhaber in Su­leymania Recht behalten, der vor seinem Geschäft ein Plakat angebracht hatte mit der Aufschrift „Al Jazeera: Deine Terro­risten werden diese Wahl verlieren.“ Und im Laufe des Tages ändert plötzlich auch dieser arabische Satellitensender, der hier als Sprachrohr der TerroristInnen ver­hasst ist, seine Berichterstattung. Hieß es am Morgen noch, einige Tausend IrakerInnen seien wählen gegangen, sind es jetzt bereits Millionen. Schon jetzt, lange vor dem amtlichen Wahlergebnis, ist klar, wer diese Wahl verloren hat. Es sind jene Gruppierungen, die sich „irakischer Widerstand“ nennen und mit blutigem Terror versuchten, den ersten freien Ur­nengang nach 30 Jahren Diktatur zu ver­hindern. Es sind dies die diktatorischen und autokratischen Nachbarländer des Irak, die diesen „Widerstand“ unterstüt­zen. Und es sind all jene in Europa, die die Iraker nicht für fähig oder willens hal­ten, diese Wahlen abzuhalten.

Dass diese Wahlen, allen Unkenrufen zum Trotz, landesweit erstaunlich profes­sionell vorbereitet worden sind, zeigt sich in jedem Wahllokal, das wir in unserer Funktion als WahlbeobachterInnen be­suchen. Stimmabgabe und Registrierung findet unter den Augen von Vertretern verschiedener Parteien und lokaler Wahl­beobachterInnen statt. Dagegen haben sich nur wenige internationale Beobach­terInnen registrieren lassen. Während die meisten europäischen Hilfsorganisatio­nen, vor allem jene, die sich der Linken zurechnen, sich bewusst geweigert haben, diese Wahl auf diese Art und Weise zu legitimieren, hielten Sicherheitsbedenken viele andere ab.

So ist diese Wahl vor allem von Irakerinnen für Irakerinnen or­ganisiert; auch wenn offiziell die UN für die Vorbereitung verantwortlich zeichnet, waren gerade einmal ein paar Dutzend UN-Mitarbeiterlnnen in Bagdad anwesend und wäre es nach Kofi Annan gegangen, die Wahl wäre abgesagt worden. Es war einzig der Koalition und der irakischen Übergangsregierung zu verdanken, dass der Termin trotz aller Bedenken nicht verschoben worden ist. Und das Risiko war entsprechend groß. Wäre es dem so genannten Widerstand gelungen, wie angekündigt, „Blutbäder“ anzurichten und weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten an den Urnen er­schienen, wäre dies Bestätigung all jener gewesen, die im Vorfeld so lautstark er­klärt hatten, die Irakerinnen seien weder willens noch in der Lage per Stimmzet­tel eine neue Regierung zu bestimmen. Darüber ist man sich auch in Kurdistan bewusst: Immer wieder erklären uns vor den Wahllokalen Leute, diese Wahl sei ein Zeichen an die Welt, dass man die De­mokratie wolle und dem Terrorismus eine Absage erteile.

Beeindruckend sind vor diesem Hinter­grund die Szenen aus Biara, einer kleinen Stadt an der iranischen Grenze, die jahre­lang als Hauptquartier der islamistischen Terrororganisation Ansar al Islam unter Musab al Zarkawi diente. Diese Al Qaida nahe stehende Organisation hatte sich Ende der 90er Jahre in dieser unzugäng­lichen Bergregion festgesetzt und ein Ta­liban-ähnliches Regime errichtet. Frauen durften nur in Begleitung männlicher Fa­milienangehöriger und tief verschleiert das Haus verlassen, außer dem Koran wurde in Schulen nichts mehr gelehrt. Von hier koordinierte Zarkawi seine terroristischen Aktionen, bis ihn im Frühjahr 2003 die US-Army gemeinsam mit kurdischen Mi­lizen vertrieb. Wir erreichen Biara gegen Mittag, das Wahllokal ist verwaist, aber nicht weil sich die Menschen hier in die Vergangenheit zurücksehnen, sondern im Gegenteil fast alle der 2.000 Wahlberechtigten bis 12 Uhr ihre Stimme abge­geben haben. „Besonders hoch war die Beteiligung der Frauen“, erklärt Dilkwaz Ahmed, Wahlhelferin und Leiterin eines kleinen Frauenzentrums, das vergange­nes Jahr eröffnet wurde. „Um 10 hatten sie bereits gewählt. Wir hoffen Zarkawi erfährt, was wir von ihm denken.“

Verwaist steht dagegen das Zelt der Re­ferendumskampagne. Vor allen Wahllokalen ist diese Kampagne präsent und for­dert die WählerInnen auf, sich für einen unabhängigen Staat Kurdistan oder einen Verbleib im Irak zu entscheiden. Beson­deres Interesse wecken diese Zelte bei den WählerInnen nicht. Drei Tage später aber werden die OrganisatorInnen der Kam­pagne erklären, 2,1 Millionen Stimmen seien abgegeben worden und 98,5 Pro­zent hätten für Unabhängigkeit gestimmt. Die wenigsten allerdings schenken die­sen Zahlen Glauben. „Jetzt ist nicht die Zeit über Unabhängigkeit nachzudenken. Wenn wir Kurden als gleichwertige Partner in ei­nem demo­kratischen Irak akzeptiert werden, wozu brauchen wir dann Eigenstaatlichkeit?“, meint Abdullah Sabir. Ob allerdings, sollten die schiitischen Parteien auf eine stärkere Verankerung des Islam in der Verfassung bestehen und es zum Streit um die Erdölstadt Kirkuk kommen, die nationalistische Bewegung in Kurdistan nicht an Zulauf gewinnen könnte, bleibt abzuwarten.

Denn auch wenn die Wahlen ein weit­gehender Erfolg gewesen sind, wie abends Mohammed Salim, Verantwortlicher für ein Wahllokal in Suleymania, erfreut feststellt, haben sie keines der drängenden Probleme des Irak gelöst. Sie haben aber gezeigt, dass mit dem Sturz Saddam Hus­seins 2003 ein Prozess im Nahen Osten
begonnen hat, den als irreversibel zu be­zeichnen hoffentlich keine Übertreibung ist. Wenige Tage später versammeln sich in Beirut und Kairo Tausende im Protest gegen ihre eigenen Regierungen und auch der Ton der europäischen Medien ändert sich in den Tagen nach dem 30. Januar merklich. Um all die NahostexpertInnen, die zuvor erklärt hatten, warum im Irak Wahlen nicht möglich seien, ist es vorü­bergehend zumindest erfreulich still ge­worden.

Auf dem zeitgleich in Porto Allegre abgehaltenen Weltsozialforum dagegen demonstriert die Antiglobalisierungs­bewegung am Wahltag tapfer gegen die „Wahlfarce“ im Irak und ruft zur Unter­stützung des „irakischen Widerstandes“ auf.

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