Heft 4-5/2004
Juni
2004

Wiederauferstehung des „christlichen Mittelstands“ Ungarns?

Seit der Wende 1990 gab es in Ungarn vier Parlamentswahlen, wobei jedes Mal die Regierung abgewählt wurde. Dieser ständige Wechsel ist Zeichen einer kontinuierlich wachsenden Polarisierung in der ungarischen Gesellschaft, die von einer rückläufigen Wahlbeteiligung begleitet wird.

Seit 1990 versuchen die Rechten das 1944 untergegangene Horthyregime zu rehabilitieren. Dessen Politiker hatten in Trianon (1920) mit den Alliierten Frieden geschlossen und waren danach bestrebt, eine Revision zu erreichen, nach 1933 auch um den Preis eines Bündnisses mit den Achsenmächten, obwohl weitsichtige konservative Politiker davor warnten.

War Ungarn in der Monarchie noch eine staatstragende Nation, so wurde – kurz nach der erreichten Unabhängigkeit von Wien – das Nationalgefühl durch den Frieden von Trianon (nicht weit von Versailles) tief gekränkt. Diese Kränkung wurde vom Regime benützt. Neben Revanchismus, Chauvinismus, Antiliberalismus und Antikommunismus zeichnete es sich durch Antisemitismus aus. Alle damaligen Regierungspolitiker postulierten den ungarischen Rechten so sehr strapaziert, wie der des „christlichen Mittelstandes“, den kein/e Soziologe/in präzise Schutz des „christlichen Mittelstandes“.

Kein Begriff wurde und wird im Sprachgebrauch der definieren kann. In Wirklichkeit geht es darum, wie schon in der Zwischenkriegszeit, Juden und Jüdinnen (zu denen auch diejenigen zählen, die von der Gesellschaft als solche betrachtet werden) zu markieren, zurückzudrängen, ihren Einfluss zu schmälern, und vielleicht am Ende auch aus dem Land zu treiben. Das Wort „christlich“ wird heute – wie in der Zwischenkriegszeit – oft als Synonym für nichtjüdisch gebraucht.

Nicht zu leugnen ist, dass der Säkularisationsprozess auch in Ungarn seit der Befreiung 1945 wirksam war. Trotzdem bekennen sich auch viele Leute des rechten Lagers zum „christlichen Mittelstand“, die eine Kirche höchst selten wenn überhaupt betreten. Wenn es im soziologischen Sinn auch nicht mehr die gleiche Klasse gibt, schließt diese sich heute als solche definierende aber in der Mentalität an diejenige, die das Horthyregime repräsentierte, voll an.

Der im Exil gestorbene Schriftsteller Sándor Márai qualifizierte diesen Mittelstand als einen, der in der Zwischenkriegszeit „seine Qualitätsansprüche aufgab, das Diplom durch den Taufschein als Mittel zum Vorwärtskommen ersetzen wollte und mit der Rassenbewertung den Adelsbrief, dieses rissige Pergament, verriet“.

Ein Evergreen des „christlichen Mittelstands“ ist das Jammern ob der „jüdischen Ausbreitung“. Wurden im Horthyregime die Juden und Jüdinnen beschuldigt, am Kommunismus und Kapitalismus schuld zu sein, so kommt heute noch die Globalisierung dazu.

Der ehemalige Schriftsteller und Geheimdienstspitzel István Csurka, Vorsitzender der rechtsextremen MIEP, die bei den Wahlen 2002 aus dem Parlament flog, erlaubte sich am 19. April, dem Gedenktag des Holocausts, der an die Deportation der ungarischen Juden und Jüdinnen vor 60 Jahren erinnert, zu erklären: „Das Judentum will seine Hegemonie über Millionen Ungarn bewahren, es will Ungarn zum Hinterland von Israel machen, es will angesichts der ungarischen Schwäche eine neue europäische Basis aufbauen.“

Die Oppositionspartei Fidesz – die sich als die Partei des "christlichen Mittelstandes versteht – versucht das Kunststück zu vollbringen, in Ungarn mit ungehemmter innenpolitischer Hetze, mit unterschwelligem Antisemitismus, vulgärem Antikommunismus und billiger Sozialdemagogie zu mobilisieren, gleichzeitig aber in der breiten Öffentlichkeit und im Ausland den Anschein zu erwecken, man habe es mit einer normalen konservativen Partei zu tun.

Wie viele Juden und Jüdinnen heute in Ungarn leben, kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, da ja die Gesellschaft in der Regel die Abstammung bei der Beurteilung wer jüdisch ist als Kriterium nimmt, danach aber bei der Volkszählung natürlich nicht gefragt wird. Man schätzt die Zahl auf 80.000 - 100.000, die zumeist in Budapest leben.

Das Wort „Jude“ wird nicht nur auf Sportplätzen als Beschimpfung verwendet. Die Polarisierung zwischen „links“ und „rechts“, zwischen „urbanen“ und „völkischen“ Intellektuellen führte auch dazu, dass man den ungarischen Schriftsteller Peter Esterhazy „beschuldigte“ jüdischer Abstammung zu sein. Esterhazy trat den Gegenbeweis öffentlich an. Es ist schauderhaft zu lesen, wie auch entschiedene GegnerInnen des Antisemitismus ihre lupenreine nichtjüdische Abstammung glauben beweisen zu müssen und welche Rolle diese im heutigen Ungarn spielt.

Der Holocaust in Ungarn

Die ungarischen Juden und Jüdinnen lebten im Mittelalter und in der Moderne relativ im Windschatten. Erst nach der Emanzipation (1867) eröffneten sich für sie große Möglichkeiten. So spielten sie bei der Industrialisierung und Modernisierung Ungarns eine wichtige Rolle und viele von ihnen wurden zu Pionieren der Magyarisierung der Minderheiten, die ja im ungarischen Teil der Monarchie die Mehrheit bildeten.

Antisemitismus war auch aus eben diesem Grund vor dem Ersten Weltkrieg nicht mehrheitsfähig, doch gab es warnende Zeichen, wie den Ritualmordprozess Tiszaeszlár, der nach 1882 die Öffentlichkeit einige Jahre beschäftigte. Als in den katholischen Städten Transdanubiens der Pöbel antisemitische Unruhen auslöste, gab der reaktionäre Ministerpräsident Kálmán Tisza den Husaren den Befehl, diese mit Gewalt zu unterdrücken. Auch sein Sohn István Tisza nahm als Ministerpräsident vor dem Ersten Weltkrieg energisch gegen den Antisemitismus Stellung.

Trotz staatlicher Ablehnung war der Antisemitismus in der Gesellschaft stark verankert. Dies war mit ein Grund, warum viele junge Juden und Jüdinnen die aufkommende Linke unterstützten. Das machte sich insbesondere während der Zeit der kurzlebigen Räterepublik 1919 bemerkbar, als fast alle Führungskader jüdischer Abstammung waren.

Es folgte der von Miklós Horthy angeführte „weiße Terror“ mit vielen linken und jüdischen Opfern. Während der zwanziger Jahre versuchten jüdische Apologeten, mit Fakten dem Antisemitismus entgegenzutreten und lieferten Beweise, dass unter den Opfern des „roten Terrors“ auch nicht wenige Juden waren. Doch das hatte keine Wirkung. Damals wie heute wird den Juden und Jüdinnen pauschal „Kosmopolitismus“ und „Internationalismus“ vorgeworfen.

Im Friedensabkommen von Trianon wurden auch kompakte von Ungarn bewohnte Gebiete abgetrennt und viele Ungar/inne/n aus den Nachfolgeländern strömten in das kleiner gewordene Land. War noch in der „guten alten Zeit“ für einen ungarischen Gentry ein Posten im Geschäftsleben nicht erwünscht, so änderte sich das. Ungarn wurde das erste Land in West- und Mitteleuropa, das bereits nach dem Ersten Weltkrieg den „numerus clausus“ beschlossen hatte, mit dem das Hochschulstudium von Juden und Jüdinnen eingeschränkt wurde.

Während der Konsolidierung des Horthyregimes in den frühen zwanziger Jahren wurden die antisemitischen Strömungen zwar zurückgedrängt, doch hatten große Teile des „christlichen Mittelstands“ sich längst zum Ziel gesetzt, den Juden und Jüdinnen die wirtschaftlichen Grundlagen zu entziehen. Auch die Regierung setzte den Antisemitismus gezielt ein, um von Missständen abzulenken. Nach der Machtübergabe an die Nationalsozialisten in Deutschland und insbesondere nach dem „Anschluss“ erstarkten die antisemitischen Strömungen in der ungarischen Politik und Gesellschaft. Bei den Wahlen 1939 gelang den Pfeilkreuzlern ein Einbruch in die traditionelle WählerInnenschaft der Sozialdemokraten. [1] Es gab in der ungarischen Öffentlichkeit und Kultur Stimmen, die vor dem Bündnis mit den Nationalsozialisten immer wieder warnten, so der ehemalige Antisemit und Parlamentsabgeordnete Endre Bajcsy-Zsilinszky, der von den Pfeilkreuzlern Ende 1944 hingerichtet wurde, als die Rote Armee schon in Ungarn stand. 1938/39 wurden zwei antijüdische, diskriminierende Gesetze mit Zustimmung der katholischen und reformierten Kirche beschlossen. Einige führende ungarische Intellektuelle, darunter der Nobelpreisträger Albert Szentgyörgi, die Musiker Béla Bartók und Zoltán Kodály sowie eine Reihe von bekannten AutorInnen protestierte dagegen. 1941 wurde ein Gesetz gegen Juden und Jüdinnen ausgearbeitet, in dem zum erstenmal rassistische Kriterien angewandt wurden.

Der Wissenschaftler Randoph L.Braham schreibt in seinem grundlegenden Werk [2] von den unmöglichen Paradoxen der Geschichte der Juden und Jüdinnen in Ungarn. Ungarn war in der Zeit bis zur deutschen Besetzung Zufluchtsort in Mitteleuropa, verhältnismäßig vielen verfolgten Juden und Jüdinnen gelang die Flucht nach Ungarn. Nur wenige wurden von den Behörden interniert. Obwohl es nach Stalingrad allen klar war, dass Deutschland diesen Krieg verlieren wird, und das Kommando Eichmann lediglich aus ca. 150 Männern bestand, machten die ungarischen Behörden nach der deutschen Besetzung am 19. März 1944 begeistert mit bei der Ghettoisierung, Beraubung und Deportierung der Juden und Jüdinnen. Binnen ungefähr sieben Wochen wurden sie aus der Provinz vor allem nach Auschwitz-Birkenau deportiert und die meisten fanden dort ihren Tod. Nachdem Reichsverweser Horthy von den Alliierten und Neutralen bedrängt worden war, gab er Befehl, die Deportation der Juden und Jüdinnen aus Budapest zu verhindern. Ungarisches Militär hinderte am 7. Juli 1944 die ungarische königliche Gendarmerie daran, mit der Deportation auch in der Hauptstadt zu beginnen. Nach der Machtübergabe an Szálasi und die Pfeilkreuzler am 15. Oktober 1944 wurden rund 100.000 Juden und Jüdinnen aus Budapest Richtung Österreich in Marsch gesetzt. Viele von ihnen wurden ermordet oder starben an den Strapazen. Insgesamt fielen rund 450.000 Juden und Jüdinnen dem ungarischen Holocaust zum Opfer.

István Bibó hat in seinem bereits 1948 erschienenem Essay [3] sich mit der Verantwortung der ungarischen Gesellschaft beschäftigt. János Gyurgyák resümiert in seinem umfassenden Werk [4] die Haltung der Gesellschaft, die bis heute den ungarischen Holocaust „weder verdauen noch aufarbeiten“ konnte.

Während der Zeit des Stalinismus 1949 - 1956 wurde das Thema Antisemitismus und Judenverfolgung in Ungarn tabuisiert. In der Zeit der Konsolidierung des Kádárregimes wurden in der Regel Juden und Jüdinnen nicht diskriminiert, jedoch wurden für repräsentative Posten eher Nicht-Juden/-Jüdinnen bevorzugt. Es erschienen zwar in kleiner Auflage einige belletristische Werke zum Thema, doch herrschte noch die Geschichtslüge vor, wonach „die Deutschen“, die volle Verantwortung gehabt hätten für die Schoa. Denn man konnte sich ja zurecht darauf berufen, dass es ohne deutsche Besetzung nicht dazu gekommen wäre. Das aber war nur die halbe Wahrheit.

Strassenszene. Mann grüßt eine Dame
Bruno Schulz, vor 1936

Denkmal für einen Antisemiten

Anfang 2004 wurde der Plan bekannt, in Budapest ein Denkmal für den Antisemiten Pál Teleki aufzustellen. Der liberale Bürgermeister Gábor Demszky stimmte zu. Erst als die jüdische Gemeinde protestierte, nahm er seine Zustimmung zurück.

Der Politiker, Geograph, Pfadfinderführer Teleki war mehrfach Minister und Ministerpräsident Ungarns und als solcher schloss er auch im März 1941 ein Nichtangriffsabkommen mit Jugoslawien. Als ihm klar wurde, dass das Horthy-Regime den deutschen Truppen den Durchmarsch nach Jugoslawien gestatten würde, beging der praktizierende Katholik Teleki Selbstmord.

Teleki war 1920-21 Ministerpräsident und führte den „numerus clausus“ gegen jüdische StudentInnen ein. Er ließ auch die Prügelstrafe zu und tolerierte während der zwanziger Jahre in einem von ihm geleiteten Institut die Fälschung französischer Francnoten, was zu einem internationalen Skandal führte. Vom 16.2.1939 bis zum Selbstmord am 3.4.1941 war Teleki neuerlich Ministerpräsident und als solcher verantwortlich für den Beitritt zum Antikomminternpakt und dem Austritt aus dem Völkerbund 1939 sowie den Beitritt zum Dreimächtepakt 1940. Teleki verschärfte das zweite ungarische Judengesetz und während eines Gesprächs mit Hitler in Berlin am 20.11.1940 kam er ungefragt auf die Perspektiven der Judenpolitik zu sprechen: „Graf Teleki warf die Judenfrage auf“, heißt es im Protokoll, „und erklärte, daß die Juden bei Friedensschluß aus Europa herausgebracht werden müssten.“ [5] Auch entsandte er eine offizielle ungarische Delegation zur Eröffnung des Frankfurter „Instituts zur Erforschung der Judenfrage“.

Der Historiker Krisztián Ungváry hat sich kritisch mit den Befürwortern des Teleki-Denkmals auseinandergesetzt [6] und beanstandet, dass diese den Antisemitismus Telekis, der zur Diskriminierung von 750.000 ungarischen Staatsbürger/inne/n und damit zur Vorbereitung der Deportation einen großen Beitrag geleistet hat, verharmlosen. Er wirft ihnen vor, dass sie nicht an die zehntausenden Menschen denken, denen Teleki die ungarische Staatsbürgerschaft entzogen hat, die hunderttausend, in deren Grundbuchauszügen er hineinschreiben ließ, dass der Eigentümer „Jude“ sei, an die Menschen, die aufgrund der Richtzahlen Telekis ihre Arbeit verloren haben.

Der Historiker Károly Vígh [7] meinte: „Auch Teleki konnte sich nicht der Kritik an den Juden entziehen“. Darauf Ungváry: „Wie kann man Antisemitismus ’Kritik’ nennen? Das Wort ’Kritik’ setzt eine Tat des Kritisierten voraus. Das stimmt unter mehreren Gesichtspunkten nicht. Einerseits weil für die Taten einzelner Menschen eine ganze Gemeinschaft nicht verantwortlich sein kann, andererseits weil im Falle des ’Judentums’ Vigh nur dann eine Gemeinschaft zwischen assimilierten, kommunistischen, kapitalistischen und religiösen Juden postulieren kann, wenn er die Rassentheorie akzeptiert.“

Ungváry findet diese Argumentation – auch vom Standpunkt der ungarischen Konservativen und Rechten – bedenklich, nennt eine Reihe von ungarischen Konservativen, die sich entschieden gegen diese Gesetze stellten und fragt, ob diese angesehene Persönlichkeiten Dilettanten und von den Realitäten abgekoppelt waren. In diesem Zusammenhang erwähnt er Béla Bartók, der gegen diese Gesetze protestierte und Ungarn deswegen verließ, sowie die Sozialdemokratin Anna Kéthly, die im Parlament gegen die antisemitischen Gesetze protestierte und davon sprach, dass am Ende dieser Entwicklung die Vernichtung stehen könne.

Ungváry sieht in der Berufung auf den damaligen „Zeitgeist“ eine Fälschung, denn Teleki war nicht irgendwer, sondern stellte sich während des Ersten Weltkriegs an die Spitze des „Zeitgeistes“, als er notorisch antisemitische Ansichten verbreitete. Ungváry bringt für die Argumentation von Vigh und anderen, die sich auf den entlastenden „Zeitgeist“ berufen, „menschlich“ Verständnis auf, „denn sie haben so oder anders auch tief die Versuchung des Opportunismus erlebt und wurden selbst Opfer dieses Zeitgeistes. Das beweise Vighs Publikation vor der Wende, in der er noch vom Wüten der ’horthystischen Gegenrevolutionäre’ schrieb.“

Zum Schluss fragt Ungváry, wie es erlaubt werden könne, ein Denkmal eines Politikers aufzustellen, „der die ungarische Gesellschaft aufgrund der Rasse zerschlagen hat, mit seinen judenfeindlichen Gesetzen und Verordnungen Massen ihrer Rechte beraubt hat, der mit seiner Politik, die sich auch gegen die ungarische politische Elite wandte, das Land in eine Krise brachte und dann mit seinem Selbstmord sich der Verantwortung entzog.“

Balatonboglár am Plattensee, wo einst mein Onkel Arthur Puskás (früher Pfeifer) Direktor der Wasserwerke und Kaufmann war, unterstützt die Errichtung eines Denkmals für Pál Teleki mit zwei Million Forint an Steuergeldern. Obwohl Teleki dafür mitverantwortlich ist, was nach der deutschen Besetzung geschah. Mein Onkel, seine Frau, seine Tochter mit Enkelkind und seine beiden Söhne wurden 1944 in ein Ghetto gesperrt, ihres Eigentums beraubt und von der königlichen ungarischen Gendarmerie, für die in Budapest bereits vor einigen Jahren ein Denkmal errichtet wurde, in einen Viehwaggon gepfercht, um dann in Auschwitz-Birkenau ermordet zu werden.

Moderne Rechtspartei oder Rückkehr zum „christlichen Mittelstand“

Ob mit dem Wiederaufleben des historischen Mummenschanzes und dem Rückgriff auf die Ideologie des Horthyregimes auf die Dauer Wahlerfolge erzielt werden können, darf bezweifelt werden. Die Taktik der Rechten, die Provinz gegen die Hauptstadt auszuspielen, brachte ihr in Budapest eine einmalige Niederlage. Sogar im noblen Bezirk des Rosenhügels in Budapest ist der Bezirksbürgermeister Sozialist.

Fidesz-Chef Viktor Orbán hat heuer eine „nationale Petition“ unterschreiben lassen, die „Arbeit, Wohnung und Sicherheit“ fordert. „Jedermann hat das Recht eine Wohnung zu erwerben, damit die Jungen zu einer Wohnung kommen, bitten wir das Subventionssystem wieder einzuführen. Jedermann hat das Recht auf sichere Existenz, deswegen bitten wir die Regierung, sie soll die Privatisierung stoppen, sie soll die ungarischen Arbeitsplätze schützen und die ungarischen Unternehmer schützen...“ Hätten Linke während der Zeit der Ministerpräsidentschaft Orbáns dies postuliert, hätte man sie verspottet. Nun kommt dieser Freund Edmund Stoibers und Wolfgang Schüssels mit solchen in der EU unerfüllbaren Forderungen und möchte im Ausland ernst genommen werden.

Orbán ist es gelungen, rechts von seiner Partei alle Kräfte zu zermalmen. Damit folgte er dem Beispiel der CSU. Nur konnte er damit keine Mehrheit erringen. In seiner Partei gibt es aber auch ernst zu nehmende PolitikerInnen, die aus Fidesz eine moderne Volkspartei machen möchten. Orbán selbst versucht mit symbolischen und populistischen Aktionen die Rechten zu halten und mit Sozialdemagogie die NichtwählerInnen bzw. sozialistische WählerInnen umzustimmen.

Die Rechten erinnern sich nicht gerne an den Zivilisationsbruch und möchten vergessen machen, dass die ungarische Administration unter dem Reichsverweser Horthy binnen weniger Wochen im Frühjahr 1944 hunderttausende Juden und Jüdinnen vor allem nach Auschwitz-Birkenau deportieren ließ. Die meisten heutigen NationalistInnen haben während des Regimes von János Kádár (1956-1988) nicht aufgemuckt, sondern sich arrangiert. Plötzlich sehen sie im Realsozialismus ein von „fremden Kräften“ verursachtes „Unglück“, einen nationalen Fluch, Schicksal, ja Verhängnis. Es „lässt sich wohl sagen, dass sie den Antisemitismus brauchen“ (Imre Kertész).

Tatsächlich ist es bequem, Juden und Jüdinnen, die weniger als ein Prozent der Bevölkerung ausmachen, als Sündenböcke zu benutzen. In der Ära Kádár war das Thema Antisemitismus tabuisiert. Die Wende brachte auch die Freiheit zu versuchen, die Verantwortung für die eigenen Irrtümer und Verbrechen der Jahrzehnte nach 1945 allein den aus der Nation wieder auszugrenzenden Juden/Jüdinnen und Linken in die Schuhe zu schieben. Die konservative Opposition wird sich in den nächsten zwei Jahren entscheiden müssen, ob sie den gegenwärtigen Kurs fortsetzt und zu einer Art Haider-Partei wird oder es schafft, zu einer modernen Volkspartei zu werden nach dem Modell der britischen Konservativen oder der deutschen CDU.

[1Die Sozialdemokratische Partei konnte bis zur deutschen Besetzung legal wirken, durfte jedoch in Dörfern und am Land keine Agitation betreiben.

[2„The Politics of Genocide, The Holocaust in Hungary“, New York 1994

[3„Zur Judenfrage, Am Beispiel Ungarns nach 1944“, Frankfurt a. M. 1990

[4„A zsidókérdés Magyarországon/ politikai eszmetörténet“ (Die Judenfrage in Ungarn, politische Ideengeschichte), Osiris, Budapest 2001

[5Andreas Hillgruber (Hg.): Staatsmänner und Diplomaten bei Hitler, München 1969, S. 198
Hillgruber bemerkt dazu: „Diese Äußerung Telekis ist bemerkenswert, da die Haltung der ungarischen Regierung zur ‚Judenfrage’ im allgemeinen gemäßigt und Gegenstand ständiger Kritik Hitlers war.“

[6Élet és Irodalom, 9. April 2004, 48. Jg, Nr.15

[7Élet és Irodalom, 2. April 2004, 48. Jg, Nr.14

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