Streifzüge, Heft 4/1997
Oktober
1997
Kapital und Fetischismus, Ökonomie und Gesellschaft

Wir sind immer im Dazwischen

Sehr gerne komme ich dem Angebot nach, einen Kommentar zum Artikel von Stephan Grigat zu schreiben. Ich habe seinen Beitrag als grundlegende programmatische Stellungnahme gelesen, in dem Positionen der Wertkritik sehr klar und übersichtlich darge­stellt und auf den Begriff des Fetisch bezogen werden. Daher möchte ich auf der selben Ebene antworten, also ebenso grundsätzlich.

Im Artikel findet sich folgende zentrale Aussage: „Man kann also durchaus sagen, daß die Theorie des Fetischismus zwar nicht alle Aspekte der Marxschen Werttheorie er- und umfaßt, aber doch ihr zentrales und bisher gerne zugunsten einer etwas vulgären Ausbeutungstheorie vernachlässigtes Element ist.“

Damit ist wohl der wichtigste Punkt angesprochen. Eine nennenswerte Leistung der Wertkritik war es, die Frage nach dem Charakter des abstrakten Werts erneut und mit Nachdruck zu stellen. Fetisch besagt einfach, daß der objektive Wert der Ware Schein ist, und daß sich hinter dem Wert ein gesellschaftliches Verhältnis verbirgt. Marx vertritt (mit einigen Schwankungen allerdings) keine objektive Werttheorie im Gegensatz zu einer subjektiven Wertlehre, sondern eine gesellschaftliche Werttheorie, und die wertbildende abstrakte Arbeit ist keine universale, sondern eine historische Kategorie. Der Fetisch ist somit ein angemessener Begriff, der den Schein des Wertes, nämlich objektive Eigenschaft einer Ware zu sein, klar benennt. Objektive Werttheoretiker wie Wolf oder Mandel konnten mit dem Fetischkapitel im „Kapital“ wenig anfangen, schließlich konnten sie die Rede vom „in der Ware steckenden Wert“ gar nicht weiter auflösen.

Wie weit reicht jedoch der Fetischbegriff? Ein wenig bekommt man den Eindruck, es handle sich tatsächlich um eine universale Kategorie, geeignet, die Zeit auf den Begriff zu bringen, wie man in Hegelscher Manier sagen könnte. Soll der Fetisch ein, wenn nicht gar der Schlüsselbegriff für das Verständnis heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse sein? Dem gegenüber möchte ich doch einige Bedenken anmelden.

Schon aus der Perspektive der Wertkritik selbst stellt sich die Frage, ob dem Fetischbegriff nicht zumindest der Begriff „reelle Subsumption“ zur Seite zu stellen wäre. Der Fetischbegriff benennt ja „nur“ den Schein des Wertes, der für bare Münze genommen wird. Reelle Subsumption benennt die historische Tendenz des Kapitals, durch die eigene Bewegung selbst seine Elemente zu produzieren, in wertmäßiger wie sachlicher Hinsicht. „Dies organische System selbst als Totalität hat seine Voraussetzungen, und seine Entwicklung zur Totalität besteht eben darin, alle Elemente der Gesellschaft sich unterzuordnen, oder die ihm noch fehlenden Organe aus ihr heraus zu schaffen. Es wird so historisch zur Totalität.“ liest man in den „Grundrissen“ (Seite 189). Grade wenn man die zerstörerische Potenz des abstrakten Wertes als reale Macht betonen will, kann man auf diesen Begriff wohl nicht verzichten.

Das wichtigere und umfassendere Problem besteht jedoch im Geltungsanspruch der Marxschen Werttheorie, und dem darauf aufbauenden Fetischbegriff. Ich halte es für falsch, die Werttheorie bzw. die Kapitalanalyse für eine umfassende Gesellschafts- und Geschichtstheorie zu halten. Zumal dieser Anspruch nicht vom Hegelianismus Marxens zu trennen ist. Dieser besteht im Anspruch, die gesamte Logik der Gesellschaft und Geschichte in einem sich selbst wissenden Wissen darzustellen. Also das Subjektive, Zufällige, scheinbar Resultatlose vermittelt mit Objektivität, Notwendigkeit und Ergebnis zu denken. Ohne Dialektik ist das umfassende Wissen nicht zu haben. Auch hier kann ich jetzt nur Widerspruch anmelden, ich kann in Unvernunft, in Unterdrückung und in Negativität keineswegs die List der Vernunft erkennen, ich halte es hier mit Spinoza: das Negative bewirkt das Negative, das Positive bewirkt das Positive. [1]

Generationen von Marxisten und Aktivisten der Arbeiterbewegung haben Marx im objektivistischen und dialektischen Sinn gelesen. Sie haben ihr Augenmerk auf die Ausbeutungstheorie im Kapital gerichtet, und studierten mit Begeisterung ihre eigene welthistorische Geschichtsmächigkeit. Ebenso sahen sie — gestützt auf spekulative Passagen bei Marx — in der kapitalistischen Produktion die Früchte heranreifen, die sie nur noch zu pflücken hatten, um zum Sozialismus vorzudringen. Diese Lesart der Marxschen Ökonomiekritik mündete in der abschreckenden Perspektive einer Gesellschaft als gigantischer Fabrik, mit Disziplin und Arbeitspflicht, und einer sträflichen Blindheit gegenüber der kapitalistischen Institution des abstrakten Werts.

Es dürfte weiters Konsens sein, daß wir uns heute nur kritisch auf Marx beziehen können. Nicht alles, was die traditionelle Arbeiterbewegung und der Marxismus à la DDR propagierte, war auf deren Mist gewachsen. Sicher gab es bestimmte Tabuthemen. Von der notwendigen und dringlichen Abschaffung der Lohnarbeit war wenig zu vernehmen, eher das Gegenteil, Lohnarbeit für alle, lautete und lautet die Devise. Aber in vielen Fragen beriefen sich die Inkarnationen des Klassenbewußtseins zu Recht auf ihren Lehrmeister. Wir können also der Frage nicht ausweichen, wo und wieweit wir Marx auch explizit zu widersprechen haben.

Meiner Auffassung nach geht es weniger um die Richtigkeit der Wert- und Warenanalyse, als um deren Reichweite. Ich werde diesen Punkt am Thema Ökonomie selbst zu klären versuchen.

Reichtum in vorkapitalistischen Gesellschaften bedeutete immer konkreten Reichtum. Egal, ob es sich um das Wachstum der Ölbäume, das Gedeihen der Kinder, das Vermeiden von Schulden oder um das Erringen von Reife und Würde handelte, es ging immer um Konkretes. Nur in der Ausnahmesituation der antiken griechischen Polis konnte Aristoteles nach dem einen, höchsten Gut stellen. Und dieses Gut konnte nur das politische Leben in der Polis selbst sein. Die Wirtschaft im engeren Sinne, also Produktion und Distribution von Gütern und Dienstleistungen war dabei Teil der gesellschaftlichen Tätigkeiten. Auch das Geld wurde „fälschlich“ zu den konkreten Reichtümern gezählt, fälschlich erst vom Standpunkt der entfalteten Kapitalakkumulation aus, denn erst als Kapital findet der abstrakte Wert eine ihm adäquate Erscheinungsform.

„The Great Transformation“ (Polanyi) führte dazu, daß nun der gesellschaftlich neu geschaffene abstrakte Wert Maß und Ziel des Handelns und Kalkulierens wurde; das Ökonomische griff auf nicht ökonomische Sphären über. Ein neuer Typus von formaler Rationalität entstand, ebenso wie neue abstrakte Rechtsformen (allgemeine Menschenrechte) und nicht zuletzt erwies sich die soziale Identität des Individuums als zunehmend über den Markt vermittelt.

Wie kein Zweiter hat Marx versucht, an der Schnittstelle von Gesellschaft und Ökonomie zu denken, und die Bedeutung der Ökonomie, also des abstrakten Wertes und seiner Akkumulationsgesetze, für allgemeine gesellschaftliche Gebiete zu analysieren. Trotz großartiger Leistungen entkam Marx der Hegelschen Logik nicht. Hinter all der Not und Irrationalität, hinter Schein und Fetischisierung, leuchtet das Licht der listigen Vernunft. Das fesselte sein Denken so sehr an das Bestehende, daß gerade für kritisches Denken die Marxrezeption ein Weg über Stock und Stein ist. Großspurigen Marxkritikern kann man wenigstens ins Stammbuch schreiben, daß sie an dem Ast, auf dem sie sitzen, zugleich sägen. Marx war einer der tiefsten und weitblickendsten Kritiker der kapitalistischen Gesellschaft, zugleich — und wie könnte es bei einem Dialektiker anders sein — ihr größter und scharfsinnigster Verteidiger.

Dies zeigt sich nicht zuletzt an seinem Arbeitsbegriff. Die kapitalistische Produktionsweise selbst hob den Arbeitsbegriff in den Himmel. Aus dem Zeichen der Knechtschaft und der Armut war das Mittel des Reichtums und Fortschritts geworden. Von der Arbeiterbewegung bis hin zu den Studierstuben der marxistischen Philosophen, von rechts bis links, wird das hohe Lied der Arbeit gesungen. Sie soll gesund sein, den Sinn des Lebens vermitteln, gesellschaftlichen Status ermöglichen. Arbeitslos zu sein soll angeblich furchtbar krank machen, psychosomatische Störungen verursachen, Alkoholismus fordern, Ehen zerrütten, usw. Arbeit ist alles, alles ist Arbeit. Beziehungsarbeit, Stadtteilarbeit, Trauerarbeit, Traumarbeit, Sozialarbeit, Forschungsarbeit, Glaubensarbeit, Gefühlsarbeit, wissenschaftliche Arbeit, künstlerische Arbeit, Arbeit mit Flüchtlingen, Behinderten, Säuglingen, alten Menschen und nicht zuletzt die Arbeit am Begriff, das Abarbeiten anTheorien, Arbeitskreise, workshops und politische Arbeit zeigen, daß alles ernsthafte Tun nur Arbeit sein kann. Selbst ein so kreativer Philosoph wie Herbert Marcuse wußte der Arbeit nur noch das Spiel entgegenzustellen. Wen wundert’s, daß uns in den Sozialismusphantasien eine (befreite, gesunde, saubere, gerechte, glückliche und wohlgeplante) Arbeitsgesellschaft vorgegaukelt wird. Obwohl die Arbeit im „Kapital“ als Knechtung und Verstümmelung des arbeitenden Subjekts analysiert wird, hebt Marx, wie überhaupt die Neuzeit, die Arbeit in jenen Himmel, wo die Modi der Selbsterzeugung der Gattung, die praktischen Tätigkeiten der wahren Naturerkenntnis und des geschichtlichen Fortschritts zu Hause sind.

Der Fetischbegriff versucht die Falle der „Arbeitsmetaphysik“ zu umschiffen. Wer den Schein des an der Ware klebenden Werts in den Mittelpunkt stellt, kann nicht die wertschöpfende Arbeit ontologisch absegnen. So weit, so gut. Aber deswegen sind die Grenzen des Marxschen Denkens noch lange nicht überwunden. Marx kennt nämlich außer der Arbeit keinen Begriff für menschliches Tun, das die gesellschaftlichen Beziehungen in angemessener Weise beschreiben und fassen würde. Anders gesagt, er besitzt keinen angemessenen Begriff des Politischen.

Trotz mancher Vorbehalte und kritischer Einwände, ist es Hannah Arendt, die den Begriff des Politischen ernsthaft diskutierbar gemacht hat. Während Arbeit sich im Extremfall (der freilich den Analysen der Arbeit von Marx und auch Habermas zu Grunde liegt; tatsächlich verwechseln beide Arbeit mit einem Grenzfall von Arbeit) in der sprachlosen Naturbearbeitung erschöpft, ist das Handeln an die Sprache und an einen öffentlichen Raum gebunden, in dem sich die Menschen — um der Angelegenheit der Gesellschaft willen — handelnd und sprechend begegnen. Dieses in der Sphäre der Öffentlichkeit stattfindende Handeln nennt Arendt das Politische. Der Raum bedarf einerseits der Freiheit; Despotie zerstört das Politische und läßt es auf die Ebene der Sozialtechnologie, also der gewaltsamen Herstellung bestimmter gewünschter gesellschaftlicher Zustände und Verhältnisse degenerieren. Allein dieser Raum ermöglicht die Ausübung der Selbst-Gesetzgebung, der Autonomie (auto nomos), also der immer nachträglichen Frage nach Sinn und Gerechtigkeit der gesellschaftlichen Institutionen.

Bei Marx gibt es kein Gegenstück zum Begriff des Politischen. Es gibt Arbeit, Arbeit und nochmals Arbeit. Marx bedenkt weder den Raum des Öffentlichen, noch das spezifische politische Handeln, das sich in diesem Raum vollziehen könnte. Das Defizit im Denken des Politischen rächt sich bitter, das Thema „zivile Austragung von Konflikten“ scheint der Liberalismus gepachtet zu haben, kein Wunder, wo doch mehrere Generationen Marxisten im Brustton der Überzeugung erklärten, die Austragung von Konflikten (im Hegel-Marxschen Jargon „Widersprüchen“) sei im Kapitalismus nur durch gewaltsame Revolutionen oder gar nicht möglich, im Sozialismus jedoch überflüssig, da sich alles in Harmonie auflöse. Die Organisation der Gesellschaft im Sozialismus wird zu einer rein technischen Organisationsfrage, im Kommunismus ist selbst diese überflüssig. Selbstverständlich ist die Organisation der gesamten Produktion, also der Gesellschaft selbst, keine technische Aufgabe, sondern eine eminent politische.

Kurz gesagt, was die marxistische Tradition zum Thema des Politischen zu bieten hat, ist einfach Schrott. Der Leninismus: Vergötzung des objektiven Fortschritts der Produktivkräfte gepaart mit einem Politikverständnis, das nur von Machtergreifung und Machterhaltung sprechen kann. Politik ist rationaler Einsatz von Gewalt gegen den Klassenfeind. Hatte also der als Reaktionär gebrandmarkte Carl Schmitt recht, wenn er das Politische auf die Freund/Feind Unterscheidung zurückführte? Der Leninismus degeneriert das Politische in Gewaltausübung und sozialtechnologische Machbarkeitsutopien, „Aufbau“ (!) des Sozialismus. Sozialdemokratie: Politik ist reine Optimierung von Interessen, bloß gelte es, zivile Spielregeln zu achten. Das normative Fundament soll dabei ein abstraktes Klasseninteresse darstellen, das freilich durch Sozialtechniker der Gesellschaft und Geschichte auf die jeweilige Situation mittels Strategie und Taktik interpretiert werden muß ... Es ist klar, wenn Gesellschaft, vor allem die befreite Gesellschaft, nur als Arbeitszusammenhang denkbar ist, dann hat das Politische keine Dimension und keine Berechtigung. Ohne unterstellen zu wollen, befürchte ich, daß hinter dem Programm der Entfetischisierung doch wieder nur die abstrakte und unpolitische Rede von der unmittelbaren gesellschaftlichen Organisation der Arbeit steht. Marx hat fur dieses Problem jedenfalls nichts zu bieten. Die befreite Gesellschaft soll in ein Reich der Notwendigkeit, also rein sachlich-technische Elemente auf der einen Seite und ein ebenso obskures Reich der Freiheit auf der anderen zerfallenen der monadische Individuen spielend von einer Tätigkeit zur andren flattern wie Schmetterlinge auf der Sommerwiese. Die Idee der Freiheit als konstituierter, geschaffener Raum, in der Freie und Gleiche die sich als Menschen, also mit Tod, Schmerz, Angst und Konflikten behaftet handelnd aufeinander beziehen, diese Idee wird man bei Marx nicht finden. Und das Durchschauen des Warenfetischs ist notwendige, aber sicher nicht hinreichende Bedingung für die Verwirklichung der Freiheit und der politischen Gleichheit.

Um es klar zu sagen, Marx vertritt eine katastrophale Geschichtsphilosophie und kann Handeln, das nicht als „Arbeit“ zu fassen ist, nicht systematisch denken. Die Werttheorie ist mitnichten eine Theorie der Gesellschaft und Geschichte, sie zeigt — weitgehend richtig — Einsichten an der Schnittstelle Ökonomie/Gesellschaft, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Das Problem und das Verführerische an der Marxschen Theorie liegt in ihrem Realbefund, an der zu konstatierenden Dominanz der Ökonomie in der Moderne. Die Pointe der wertkritischen Marxrezeption ist ja, daß ökonomische Begriffe (Wert, Ware usw.) gesellschaftlichen Status gewinnen (den sie in vorkapitalistischen Gesellschaften nicht haben), daß sie Begriffe des gesellschaftlichen Seins werden. Wird die Frage nach den Grenzen der ökonomischen Begriffe nicht gestellt, muß die Wertkritik früher oder später in einer marxistischen Systemtheorie terminieren. Ob marxistischer Luhmann oder Luhmannscher Marxismus — es läuft auf das Selbe hinaus. Das „System“ reagiert nur auf systemrelevante Information, der Rest ist Geräusch, also Illusion, subjektives Wunschdenken, unwissenschaftliches Phantasieren. Die relevante Information muß dem Code des Systems entsprechen, einem System, dem zusätzlich selbsterzeugende, autopoetische Fähigkeiten angedichtet werden müssen. Der Kapitalismus entfaltet nur die Logik der Kapitalakkumulation und bewegt sich allein nach den Verwertungsgesetzen. Durch fortschreitende Akkumulation produziert der Kapitalismus seine eigenen Elemente und setzt seinen Code, den Wert, als den allgemein gesellschaftlich gültigen. Es ist wohl aufgefallen, wie verblüffend ähnlich diese Sätze argumentieren. Wird die Kapitallogik absolut gesetzt, entpuppt sich Luhmann als der bessere Marx, da er auf noch abstrakterer Ebene argumentiert und es an ausgefeilter Systemsprache nicht fehlen läßt. Auf die strukturalistische kann die systemtheoretische Variante des Marxismus als strenges wissenschaftliches System folgen. Dieser systemischen Falle entgeht der vorliegende Artikel leider nicht ganz. Das zeigt sich in Aussagen wie: „Individuum und Subjekt ist der Mensch in der bürgerlichen Gesellschaft nur, insofern er Privateigentümerin oder -eigentümer von Waren ist, die sie oder er zum Tausch anbietet.“ And that’s all?

Zum Glück befinden wir uns nicht in einem Computerprogramm, sondern wandeln noch immer mit unseren Mitmenschen auf der Erde. Mit dem abstrakten Wert, Fetischismus und der reellen Subsumption kann man mächtige Tendenzen benennen, die in der Gesellschaft wirken. Aber geht Gesellschaft darin auf, ist damit das Gesellschaftliche umfassend benannt? Nur wenn Sprache, Psyche und Imagination restlos abgeschafft wären. Es gibt begründete Zweifel, ob die Systemtheorie überhaupt wirklich in der Lage ist, einen Ameisenstaat zu beschreiben, die gesellschaftliche Wirklichkeit jedenfalls sicher nicht. Wie Castoriadis schon zeigte, ist die Konzeption der Gesellschaft als identitätslogischer, mit sich identischer Automat, in dem es bestenfalls ein wenig Sand gibt, eine unhaltbare Fiktion. Eine derartige Gesellschaft wurde auch noch nie beobachtet, und es ist erstaunlich, wie viel Geschichte, wie viele Neuschöpfungen von Institutionen, wie viele Umbrüche es auch in den sogenannten traditionalen Gesellschaften gibt.

Nun zur Frage „kann es wahres Bewußtsein geben?“ Weder Marx noch Hegel haben die erkenntnistheoretischen Thesen von Kant akzeptiert. Eine Theorie der Erkenntnis, ohne tatsächliche Erkenntnis, lehnten sie kategorisch ab. Anstelle von vorangestellten erkenntnistheoretischen Überlegungen, versuchten sie Gesellschaft und Geschichte tatsächlich zu erkennen. Freilich, so voraussetzungslos und ohne Konzeption waren ihre Untersuchungen nicht. Wie schon angesprochen, terminierten ihre Thesen im Phantasma einer allumfassenden Letzterkenntnis der Entwicklung und der Gesetze von Gesellschaft und Geschichte. Die Konzeption des „wahren und falschen Bewußtseins“ ist auf das absolute Wissen bezogen, und erhält allein von dort seine Begrifflichkeit.

Der im Artikel zu dieser Frage genannte Baudrillard hat vorerst leichtes Spiel. Die Konzeption eines absoluten Wissens, das auf der These eines Sinns der Geschichte, inklusive Fortschritts- und Entwicklungsbegriff beruht, soll in jenem ominösen wahren Bewußtsein erscheinen. Den dialektischen Gesamtsinn der Geschichte bezweifle ich, da er nur unter dem Postulat des strikten Geschichtsdeterminismus zu haben ist (dialektische Vermittlung von Notwendigkeit und Zufall), ebenso fragwürdig ist die Konzeption des absolutes Bewußtseins. Der Charme des Poststrukturalismus besteht nicht zuletzt in einer immer wiederkehrenden rhetorischen Figur. An sich richtige Überlegungen werden bis zur extremen Spitze getrieben, die intellektuellen Früchte dieser Denkfiguren ohne Mitte, werden mit Genuß identitäts- und einkommensstiftend zelebriert. Zuerst wird gezeigt, daß extreme Absolutsetzungen unhaltbar sind, dann folgen dekonstruktivistische Schlußfolgerungen. Also, absolute Wahrheit, Identität (Derrida), Subjektivität, kann es nicht geben. Nächster Argumentationsschritt, sie müssen also Konstrukte geschichtsmächtiger, sozialhistorisch freilich nicht mehr lokalisierbarer, nur in Randgängen umkreisbarer Zentriertheiten sein (Euro-, Phallus-, Logo-, usw- Zentriertheit). Bei philosophisch Halbgebildeten, denen so und so der Marxismus auf die Nerven ging, ließ sich damit leicht Kleingeld machen. Der letzte Schritt bestand darin, das tatsächlich nur zu lebende und zu denkende Ungefähr, das Mehr-oder-Weniger, das der Sache Angemessene gar nicht mehr ins Spiel zu bringen. Die Alternative lautete Gott oder Vieh, absolute Wahrheit oder gleiche Gültigkeit, also Gleichgültigkeit. Der lächerliche Saum von Richtigkeit des Poststrukturalismus liegt in der mageren Botschaft, daß wir keine Götter, sondern Menschen sind. Sicher gibt es im Marxschen und Hegelschen Denken Elemente eines Absoluten, welches kleine Geister zu größenwahnsinnigen Allwissensphantasien angestachelt haben.

Als Gegengift gegen postmoderne Spiele empfehle ich Aristoteles, Nikomachische Ethik, Da liest man z.B. folgenden, gegen die Halbwahrheiten eines Baudrillard geradezu erfrischenden Satz: „Die Mittel, mit denen die Seele bejahend oder verneinend die Wahrheit trifft, seien fünf an der Zahl: Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit, Geist.“ (184) Es gibt nicht eine einzige Form der Erkenntnis, sondern mehrere, und jede Form ist gewissen Gegenständen angemessen, anderen nicht. Die Wissenschaften gelten für die Dinge die nicht anders sind, als sie sind, also für die von Aristoteles als unveränderbar gedachte Natur, im Bereich der menschlichen Angelegenheiten hat Wissenschaft keinen Platz. Hier gelten die anderen Formen der Erkenntnis. Alle diese Formen unterliegen verschieden Kriterien von Wahrheit, die für sich bedacht, und der Gegebenheitsweise des Gegenstandes angemessen sein müssen. „Denn es kennzeichnet den Gebildeten nur so viel Präzision zu verlangen, als die Natur des Gegenstands zuläßt. Andernfalls wäre es, wie wenn man von einem Mathematiker Wahrscheinlichkeitsgründe annehmen und von einem Redner zwingende Beweise fordern würde.“ (57) Wenn Aristoteles vom Redner spricht, meiner er den Redner in der Polis, also den politisch argumentierenden Polisbürger. Die politische Rede mußte sich, nach der Aristotelischen Erfahrung, auf gültige Sachverhalte der Gesellschaft beziehen, auf die Richtigkeit von Gesetzen ebenso, wie auf Fragen des Handelns oder Unterlassens. Hier, so Aristoteles, ist zwingende Beweisführung unmöglich. Aristoteles ist also nicht so verrückt, die Exaktheit der mathematischen Erkenntnisse für die Bereiche des nomos, also der Gesetze und Institutionen der polis einzufordern. Er verfällt auch nicht auf die postmoderne Idee, sie deshalb, weil sie nicht exakt beweisbar sind, und dem naturwissenschaftlichen Standard nicht entsprechend, pauschal als beliebig abzutun und ohne weitere Kriterien in das Feld der Irrationalität zu entlassen. Absolute Wahrheiten sind ebenso abzulehnen wie ihr Kantianistisches Gegenstück, die zustimmungsfähigen Letztbegründungen. Aber ebenso unzumutbar ist die Idee, daß gewissermaßen unter der absoluten Wahrheit nur das Chaos, die Beliebigkeit und Gleichgültigkeit herrschen könne, also Vielfalt als solche, wie sie von postmodernen Protagonisten gefeiert wurde.

Im Gegensatz zu postmodernen Behauptungen, gibt es sehr wohl Kriterien, und zwar zahllose, für gesellschaftstheoretische Theorien. In Wirklichkeit fragen wir uns angesichts einer komplexen Theorie, was zeigt sie uns, wo ist sie blind, was verschleiert sie, was thematisiert sie, wofür fehlen ihr die Begriffe? Gibt sie uns Denkmöglichkeiten in die Hand, oder unterhält sie nur? Ist sie überdifferenziert und zerfasert, oder ist ihr Begriffsmuster zu eng und eindimensional? Geht der Autor nur ausgetretenen Pfaden nach, oder ist er zu kreativem Neubeginn fähig? Werden Fakten richtig dargestellt, welche werden berücksichtigt, und welche einfach übergangen? Wahr oder falsch können nur einfache, triviale Aussagen sein, nicht komplexe Aussagen über die Gesellschaft und Geschichte. Das Bewußtsein, also das gesellschaftliche Sein, das mir bewußt ist, ist ein spezifischer, perspektivischer Hinblick auf die erlebte und gedanklich reflektiere Wirklichkeit. Das Thema der absoluten Wahrheit und des wahren Bewußtseins hat dabei nichts verloren. Jenen Menschen, die sich des Warenfetischismus bewußt sind, verwandelt sich durch diese Einsicht das gesellschaftliche Sein keineswegs in gläserne Durchsichtigkeit und kristallne Transparenz. Was aber auch nicht meint, daß diese Einsicht keine Bedeutung hätte, und so gut wie jede andere wäre.

Ein simpler Reduktionismus, ein ja/nein Code, ist weder dem gesellschaftlichen Sein, noch dem Nachdenken darüber angemessen. Luhmann und Baudrillard, aber auch so manch schräg gelesener Marx sowie die letzten Ritter der Dekonstruktion sind falsche Alternativen, wir wissen weder „alles“ noch „nichts“ über die Gesellschaft und die Geschichte. Wir sind immer im Dazwischen.

[1Interessant ist in diesem Zusammenhang die Arbeit von Herbert Marcuse. „Zum Begriff der Negation in der Dialektik“.